Symbiose zwischen Schein und Sein

23.12.1988

LYON - "Au travail" - was sich in England noch als mehr oder minder bunte Spielerei mit ernstem Hintergrund dargestellt hat (siehe CW Nr. 45, 1988, S. 55), wurde in Frankreich als echte Anwendung im technischen Bereich präsent. Trendsetter der Verquickung zwischen Kunst und Technik scheinen Bereiche, denen man grafische DV nur bedingt in dieser Vollendung zutraut: Architektur und Stadtplanung.

Als Mischung aus Gestaltungslust und industrieller Anwendung der Computergrafik deklarierte sich die Imagica88; zum vierten Mal in Lyon und erstmals international bestückt. Die Industrie- und Handelskammer der zweitgrößten Industriestadt Frankreichs als Veranstalter zielt nun auf einen Markt, der weltweit wächst: gleich zu Beginn der 90er Jahre 20 Millionen Dollar schwer.

Der Versuch auf dem Campus in Lyon-Villeurbanne gilt als geglückt: Mit französischer Nonchalance, der hierzulande üblichen, perfekten Improvisation, versuchte sich der Veranstaltungsort Lyon recht erfolgreich vom alles überragenden Zentrum Frankreichs, Paris, abzusetzen.

Über 100 Fachvorträge, einige tausend Besucher und vergleichsweise wenige (rund 60) Aussteller, allerdings erster Qualität, lassen vermuten, was der Markt, der auch in Frankreich erst zu Beginn der Blüte steht, herzugeben bereit ist.

Der Markt für grafische DV ist sinnigerweise beim französischen Nachbarn zweigeteilt - und deshalb leichter zu greifen und zu ordnen. Unter die Oberbegriffe "industriell" und "zeichnerisch" lassen sich die Anwendungsgebiete subsumieren.

"Industriell" all das, was direkt der Produktion dient, also technische Zeichnerei, numerische Steuerung, CAD im Bereich des Maschinenbaus oder des elektronischen Designs. "Zeichnerisch" - und somit eher künstlerisch orientiert - umschließt der zweite Bereich Kommunikation und audiovisuelle Darstellung, Desktop Publishing, Industriedesign, Architektur, Stadtplanung und Kartographie. Im Grenzbereich beider Gruppen sind dann übergreifend die computergestützte Simulation und die Bilddatenbanken angesiedelt.

Das bewegte Bild begeistert auch die Franzosen. So ist es einem Bauherrn möglich, per Bildschirm schon mal in seinem geplanten Gebäude rumzulaufen, Sessel zu verschieben, oder Grünpflanzen einzuplanen. Gag am Rande: Die Grünpflanzen oder Bäume können aus der Bilddatenbank wahlweise abstrakt oder nach tatsächlicher Vorlage

- au naturel, wie es so schön heißt - eingespielt werden. Die Stadtplanung erfüllt ganze Straßen mit Leben und macht den (geplanten) Brunnen in der Straßenmitte sogleich zur Farce.

Der Mittelständler steht bei dem Bemühen um neue Märkte stark im Vordergrund. Textildesign ist eine der Domänen, die angesteuert werden. Auch das Industriedesign kommt nicht zu kurz - Produkte sollen neben ihrer Funktionalität auch Augenschmaus im Kampf um Käufer werden. Und Flexibilität heißt, neuen Kaufanreiz zu schaffen.

Dennoch, der kritische Blick für neue Darstellungsformen der computergestützten Grafik und Simulation ist trotz Farbe, Form und Freiheit nicht abhanden gekommen.

Insbesondere bei der Simulation, die in Frankreich auch in hochsensiblen Bereichen wie der Kernenergie angewandt wird, weisen Wissenschaftler mit Nachdruck auf ungelöste Fragen hin. Die noch offenen Problemkreise drehen sich um die Bewertung des Modells und die Bedeutung der Variablen, die zur Simulation herangezogen werden - die Informationsmenge, die es zu verarbeiten gilt, ist genauso als Schwäche oder Stärke auszulegen wie die Korrelation der Werte zueinander, die mit Feingefühl und größtmöglicher Sorgfalt zu verarbeiten sind.

Eine Schlußfolgerung rufen die französischen Wissenschaftler, die die Konferenz zur Darstellung ihrer Arbeiten nutzten, erneut deutlich ins Gedächtnis: Der Mensch sei wieder einmal das Maß der Dinge, der Computer lediglich ein geschicktes und mächtiges Hilfssystem.

In diesem Sinne sei auch eine Einrichtung am Rand notiert, die allerdings zentrale Wirkung hatte: Wie öfter beim gallischen Nachbarn zu beobachten, gab es eine Hinführung zum Thema durch eigenes Tun. Ziemlich groß und mittendrin im Ausstellungsgeschehen plaziert ein glasumwandeter Raum mit ungefähr zehn Terminals - wer will, steht an ... und übt dann selbst.

Französische Software leistet im grafischen Bereich Beachtliches, so wurde deutlich, die Forschung ist aktiv am Ball - im Verbund mit amerikanischer Hardware zumeist, tut sich ein ernstzunehmender Konkurrent im Europa der Zwölf auf. Wenngleich - wohl auch aus Mentalitätsgründen - der französische Softwerker auch noch nicht so ganz bereit zu sein scheint, an 92er Visionen und offene Grenzen zu glauben. Paris ist weit weg von Lyon . . .