Unternehmenssteuerung/Leistungskriterien in Produktion und Logistik

Supply-Chain-Management ist kein DV-Problem

25.06.1999
Geschwindigkeit wird für produzierende Unternehmen zum beherrschenden Kriterium. Entscheidend sind, so Friedrich Koopmann*, die Fähigkeiten, kurzfristig auf individuelle Kundenanforderungen zu reagieren und möglichst schnell das für Beschaffung und Produktion eingesetzte Geld zurückzubekommen.

"Die Summe der Einzeloptima ergibt nicht das Gesamtoptimum", faßt Dirk Kanski den aus seiner Sicht entscheidenden Wandel in der Orientierung der Unternehmen zusammen. Der Marketing Director beim Supply-Chain-Spezialisten Manugistics spricht von "funktionalen Silos", um die althergebrachte Denkweise von Industriebetrieben zu charakterisieren: "Der Einkaufsleiter wird an möglichst niedrigen Einstandspreisen und der Produktionsleiter an möglichst hoher Maschinenauslastung gemessen, unabhängig davon, wieviel Überbestände beziehungsweise Verschrottungsbestände dadurch eingekauft und produziert werden."

Trotz der Borniertheit des Ansatzes, die Performance in separaten Teilbereichen zu messen, sieht er darin die Grundlage für den Versuch, die Komplexität in den Unternehmen beherrschbar und steuerbar zu machen. Nur böten die Informations- und Kommunikationstechnologien heute ganz andere Möglichkeiten - nämlich die gesamten Unternehmensprozesse zu erfassen und mit individuell definierten Kennzahlen gezielt zu beeinflussen.

Manugistics beschreibt die Evolution der Unternehmenssteuerung mit dem sogenannten Supply Chain Compass, der fünf Entwicklungsstufen umfaßt. Von der Stufe eins, so erklärt Kanski die sich durch streng funktionale Trennung und die Orientierung am Kriterium Qualität auszeichne, führe der Weg über bereichsübergreifende Teams, die an der Verbesserung der Unternehmensleistung arbeiten, zur Stufe drei, auf der sich führende Unternehmen heute befinden. Diese Stufe sei durch Integration gekennzeichnet: Die Geschäftsprozesse werden durchgängig gestaltet und auf Ziele wie hohen Lieferservice und geringe Kapitalbindung optimiert. Die Stufen vier und fünf, die einzelne Firmen inzwischen erreicht hätten, bezögen sich auf die zunehmende Integration über die Unternehmensgrenzen hinaus zu Internet-basierten Firmennetzwerken.

Den Unterschied zwischen der funktionalen Denkweise und einer Betrachtung, die sich auf den gesamten Prozeß bezieht, verdeutlicht Torsten Becker, Principal beim Beratungsunternehmen PRTM in Frankfurt am Mein, an einem Beispiel: "Wer beim Transport nur danach entscheidet, welches Mittel am günstigsten ist, hat eventuell - neben anderen Nachteilen - auch mit einem finanzielle Verlust zu rechnen: wenn nämlich durch die längere Zeitdauer die Zinskosten höher liegen als die reinen Transportkosten." Die weltweit tätigen Industrieberater mit Hauptsitz in Waltham, Massachusetts/USA, haben ein umfassendes System entwickelt, um die Leistungsfähigkeit produzierender Betriebe zu messen. Ein Tochterunternehmen, die Performance Management Group, die sich ausschließlich mit diesem Thema beschäftigt, führt zur Zeit ein Benchmarking in wichtigen Industriebranchen durch (siehe Kasten "Benchmarking-Studie" auf Seite 56).

Geschwindigkeit spielt eine dominierende Rolle im Kennzahlensystem von PRTM, das sich an dem von den Beratern entwickelten Modell SCOR (Supply Chain Operations Reference Model) des Supply Chain Council orientiert (siehe Abbildung "Kennzahlen" auf Seite 54). Eine wichtige Größe ist dabei die Cash-to-Cash-Zykluszeit, sprich die Frage, wie lange Kapital gebunden ist - vom ersten Materialkauf bis zur Bezahlung durch den Kunden. Becker hält diesen Wert für eine "gute zusammenhängende Größe, um Supply Chain Performance zu beschreiben". Einen Maßstab habe in diesem Punkt der Computerhersteller Dell gesetzt, der es sich zum Ziel gemacht habe, das ausgegebene Geld in weniger als zehn Tagen zurückzubekommen. Doch hier ließen sich noch bessere Werte erreichen, wie das Beispiel des amerikanischen Buchversenders Amazon zeige. Der bezahle seine Lieferanten, sprich Buchhändler und Verlage, erst einige Zeit nachdem die Forderung vom Kreditkartenunternehmen seines Kunden eingelöst wurde. Das Geld des Kunden kann das Internet-basierte Unternehmen in der Zwischenzeit zur Finanzierung seiner Supply Chain verwenden.

Im Unterschied zu einem Handelsunternehmen sind herstellende Firmen aber zu einer gewissen Lagerhaltung gezwungen - und die bindet Kapital. Statt vom klassischen Kennwert "Lagerumschlag" spricht Supply-Chain-Berater Becker lieber von der "Bestandsreichweite". Dabei werden nicht nur Fertigfabrikate berücksichtigt, sondern auch das Material und die Halbfertigprodukte. Die offenen Forderungen und offenen Zahlungen werden in Reichweite umgerechnet, so daß die Bestandsreichweite einen Teil des Cash-to-Cash-Zyklus bildet. Eine Methode, um diesen Wert zu senken, ist die Umstellung von reiner Vorratsproduktion auf - zumindest teilweise - Auftragsfertigung.

Eine weitere zusammenfassende Kennzahl bilden die Supply-Chain-Management-Kosten, die sich aus den Ausgaben für Auftragsbearbeitung, Materialbeschaffung und Lagerhaltung sowie den Aufwand für Finanzierung, Planung und DV der Lieferkette zusammensetzen. Diese prozeßbezogene Kostenrechnung hat in Benchmarking-Studien von PRTM in den Jahren 1996 und 1997 erstaunliche Ergebnisse zutage gefördert: Der Unterschied zwischen Durchschnittsunternehmen und den Besten betrug in bestimmten Branchen bis zu sieben Prozent vom Umsatz. In der Computerindustrie etwa lagen die Supply-Chain-Kosten der Besten bei 5,6 Prozent, während durchschnittliche Hersteller 12,1 Prozent vom Umsatz dafür aufwenden mußten.

Eine entscheidende Kennzahl für Unternehmen, die in schnell wechselnden Märkten agieren, ist ihre Reaktionsfähigkeit. Basis der Supply-Chain-Reaktionszeit ist die sogenannte Source/Make Cycle-Time, das heißt, die Durchlaufzeit fürs Beschaffen und Herstellen. Bei der Bestimmung dieses Werts wird davon ausgegangen, daß die komplette "Pipeline" leer, nichts in der Produktion, nichts im Lager ist. Wieviel Zeit würde nun von der Bestellung bis zur Fertigstellung des ersten Produkts vergehen? Spitzenreiter in der Computerbranche werden hier auf zwei bis drei Wochen geschätzt, während andere ein paar Monate brauchen dürften.

Die Kennzahl, die beim Thema Supply-Chain-Management meistens im Vordergrund steht, weil sie die Beziehung des Unternehmens nach außen, zum Kunden, wiederspiegelt, ist die Auftragsabwicklungszeit: Wie lange dauert es vom Kundenauftrag bis zur Lieferung? Um in diesem Punkt Spitzenwerte zu erreichen, komme es, so Supply-Chain-Berater Becker, darauf an, weitestgehend auftragsbezogen zu fertigen und, falls dies nicht möglich sein sollte, andernfalls die Nachfrage richtig einzuschätzen, also die schnelldrehenden Produkte auf Lager zu haben.

Der oft zitierte Begriff der Liefertreue bedarf nach Beckers Erfahrung unbedingt der Präzisierung: Häufig werde sie etwa auf den letzten bestätigten Termin bezogen und nicht auf das eigentliche Ziel - den Wunschtermin des Kunden. Auch sollte der Eingang beim Kunden und nicht der Abgang der Ware an der Lagerrampe des Herstellers gemessen werden. Letztendliches Ziel im Lieferservice müsse die fehlerlose Auftragsausführung sein. Das heißt die vollständige Lieferung zum Kundenwunschtermin, wobei der Kunde alle Auftragspositionen gemeinsam in der geforderten Qualität mit den richtigen Papieren erhält.

"Klare Ziele setzen und mit dem Messen beginnen", lautet die Devise von Industrieberater Becker. Die Umsetzung habe mit Software häufig nichts zu tun. Da sei eher Organisationsarbeit wie etwa die Neustrukturierung der Produktion gefordert. Auch dort, wo beispielsweise von einer Produktion auf Vorrat teilweise auf Auftragsfertigung - mit eventuell drastischer Reduktion der Lagerhaltung - umgestellt wird, ist nach PRTM-Erfahrung nicht an erster Stelle neue Software gefordert. Die DV-technische Seite erschöpfe sich häufig darin, die bestehende Lösung - egal ob Standard-ERP-System oder eigenentwickelt - nur um eine zusätzlich mitgeführte Information zu ergänzen.

Grundsätzlich betrachtet Becker "Supply Chain Management nicht als DV-Problem. Wir sehen unsere Aufgabe darin, die Supply-Chain-Strategie in Übereinstimmung mit den Unternehmenszielen zu bringen. Die vereinbarten Ziele werden auf meßbare Größen heruntergebrochen." Leider stellten die installierten DV-Systeme die benötigten Meßwerte (etwa über die Durchlaufzeiten in der Produktion) in der Regel nicht zur Verfügung. Auch von den Ergänzungen der ERP-Systeme um Data-Warehousing-Lösungen erwartet Becker keine grundlegende Änderung: "Das Problem der Management-Informationssysteme bestand immer darin, das Richtige zu messen. Große DV-Systeme tun sich schwer, auf einfache Art die richtigen Meßwerte bereitzustellen."

An einer Ergänzung von ERP-Systemen um Funktionen zur Leistungsmessung arbeitet zur Zeit die IDS Scheer AG aus Saarbrücken. "Bisher gebe es", so Jens Hagemeyer, Manager Process Performance Solutions bei IDS, "zwar leistungsfähige Werkzeuge auf der Designebene, um die Prozesse zu optimieren. Man führt die Software mit bestimmten Zielen - Rationalisierung, Zeitersparnis, Kostensenkung etc. - ein, hat aber keine Möglichkeit, zu überprüfen, ob die Ziele auch tatsächlich erreicht wurden." So fehlten beispielsweise Kennzahlen zur Durchlaufzeit von Prozessen. Um zu erfahren, wie lang es dauert, um mit der eingesetzten Software einen Auftrag abzuwickeln, einen Personal- oder Materialstamm anzulegen, müsse man manuell messen, die von der Software erzeugten Dokumente auswerten.

Mit dem Monitoring-Tool (siehe Abbildung auf Seite 54), das zunächst in einer Version für das Vertriebsmodul (SD) von SAP R/3 entwickelt wird und noch in diesem Jahr an Pilotkunden ausgeliefert werden soll, will IDS fünf Arten von Kennzahlen automatisch erheben. Gemessen werden die Durchlaufzeiten von Prozessen, die Anzahl der Organisationsbrüche (wie häufig geht Verantwortung für einen Auftrag von einem Mitarbeiter auf einen anderen über?), die Anzahl der involvierten Mitarbeiter, die Häufigkeit der Änderungen sowie die Häufigkeit des Prozesses (entspricht die Zahl der abgewickelten Aufträge den Zielvorgaben?).

Durch das Engagement der ERP-Anbieter in puncto Data-Warehousing sieht Hagemeyer den Bedarf an Kennzahlen keineswegs erschöpfend bedient: "Sie liefern Informationen auf Basis der im System verfügbaren Daten wie Umsätze oder Materialstämme, aber Durchlaufzeiten oder die Anzahl der Organisationsbrüche sind darin nicht enthalten."

Einige ERP-Softwarehersteller wie Peoplesoft und SAP haben diesen Mangel erkannt und bieten Anwendern Erweiterungen ihrer Lösungen an. Peoplesoft stellt eine Data-Warehouse-basierte Lösung für Enterprise Performance Management (EPM) bereit. SAP entwickelt derzeit das Management-Informationssystem Strategic Enterprise Management (SEM), das auf Daten aus der seit 1998 verfügbaren Data-Warehouse-Lösung (SAP Business Warehouse) zugreift und beispielsweise Simulationen durchführen kann.

Aus dem Produktionsbereich werden den SAP-Anwendern vor allem dann interessante Kennzahlen in Aussicht gestellt, wenn sie das Supply-Chain-Management-Tool APO (Advanced Planner and Optimizer) im Einsatz haben. Damit können Kennzahlen - in der Scorecard-Terminologie Key Performance Indicators - angeboten werden, die der Realitätswiedergabe aus dem R/3-System eine Planungszahl aus APO gegenüberstellen.

ERP- und SCM-Anbieter nähern sich an

An umfassenden Konzepten der Unternehmenssteuerung arbeitet auch der Supply-Chain-Spezialist i2 Technologies, zu dessen Paradekunden der PC-Hersteller Dell zählt.

Der Marktführer bei SCM-Software geht in seinen Konzepten über die Optimierung der operativen Prozesse hinaus. Zwei Kernprozesse produzierender Unternehmen stehen dabei im Vordergrund. Zum einen geht es um den Kundenservice, wo Planungswerkzeuge den Ressourceneinsatz optimieren sollen. Bei verschiedenen Pilotkunden im Betatest befindet sich bereits eine neue Lösung für den zweiten fokussierten Bereich, das Produktzyklen-Management. Was die dort bisher eingesetzten Demand-Planning-Tools leisten - Management des Produktzyklus vom rechtzeitigen Markteinstieg über die Phase der Cash Cow bis zum Auslauf - wollen die Texaner durch Instrumente für das Portfolio-Management erweitern. Dabei soll sich beispielsweise die Profitabilität möglicher neuer Produkte sehr exakt berechnen lassen und auch die Wirkung, die ihre Einführung auf andere Produkte im Portfolio haben könnte.

Angeklickt

Klare Zielorientierung und regelmäßige Überprüfung der Zielerreichung ziehen sich als roter Faden durch moderne Management-Konzepte wie etwa die sich rasant verbreitende Methode der Balanced Scorecard. Doch fehlt es noch am notwendigen Unterbau: Die entscheidenden Kennzahlen aus Produktion und Logistik werden bisher von den Standardsoftwaresystemen nicht zur Verfügung gestellt.

*Friedrich Koopmann arbeitet als freier Journalist in München.