informations- und elektrotechnik verschmelzen

Studienreform soll Ingenieurmangel verhindern

20.10.1999
Elektroingenieure mit guten Kenntnissen in Informations- und Kommunikationstechnologien, werden quer durch alle Branchen wie die Stecknadel im Heuhaufen gesucht. Ein Ausweg aus dem Expertenmangel: IuK-Know-how soll im Studium stärker verankert werden, fordert der Verband deutscherElektrotechniker in Frankfurt am Main (VDE).

telekommunikation, Elektrotechnik und Informatik schmelzen zusammen. Einst beschäftigte sich der Elektroingenieur mit Materialwirtschaft, Energietechnik, Telefon- und Automatisierungsanlagen. Heute prägen zunehmend auch Anwendungsprogrammierung und angewandte Informatik das Berufsbild. Nicht zum Nachteil für die Berufsaussichten der Ingenieure. Elektro- und Informationstechniker werden zur Zeit händeringend gesucht. Bei der Auswertung von Stellenmärkten in 40 Tageszeitungen erfaßte EMC Medienservice/Adecco in den ersten sieben Monaten dieses Jahres bereits 10402 Angebote für Elektrotechnikingenieure, im Vergleichszeitraum 1998 gab es dagegen nur 8963 Offerten. Auch das Institut der deutschen Wirtschaft, Köln, prognostiziert Elektroingenieuren "rosige Zeiten": Eine Umfrage ergab, daß 70 Prozent der befragten Unternehmen der Elektrobranche in den nächsten drei Jahren einen steigenden Bedarf an Ingenieuren haben "Jungen Menschen, die sich zur Technik berufen

fühlen, empfehle ich, jetzt Elektrotechnik zu studieren. Wenn sie in fünf Jahren fertig werden, warten exzellente Beschäftigungschancen auf sie", prognostiziert Kruno Hernaut, Leiter Bildungspolitik der Siemens AG in München.

Das war einmal anders. 1995 gab es mit 13 000 Hochschulabsolventen den höchsten Ausstoß an Elektroingenieuren in Deutschland, aber auch den niedrigsten Bedarf in den Unternehmen. So fanden viele unter ihnen keine adäquate Beschäftigung. Grund dafür war der allgemeine Stellenabbau in den Betrieben. Kritische Stimmen meinten damals, daß im Ingenieurbereich sogar mehr Stellen abgebaut wurden, als dies aufgrund der Auftragslage notwendig gewesen wäre.

Das schreckte viele Abiturienten vom Studium ab. Hatten sich 1990 noch 25 000 Erstsemester eingeschrieben, waren es 1996 lediglich 1100. Im vergangenen Jahr verließen nach Angaben des VDE nur 10 000 Elektrotechnik-Ingenieure die Hochschulen, 2002 sollen mit 6500 Absolventen noch weniger sein. Zwar wurde zum Wintersemester 1998/99 der Abwärtstrend erstmals seit acht Jahren gestoppt. Die 13 260 Studienanfänger dürften aber bei weitem nicht ausreichen, um den Expertenbedarf in den neuen Technologien zu decken. Das Problem dürfte vor allem die kleinen und mittleren Betriebe treffen, die komplexe Produkte herstellen, meinte Klaus-Dieter Vöhringer, Vorstand für Forschung und Technologie der Daimler-Chrysler AG, anläßlich eines VDE-Kongresses.

Schon 1996 warnten Hochschulrektorenkonferenz (HRK) und Berufsverbände vor einem Ingenieurmangel. Damals stieg die Anzahl der Stellenangebote für Elekroingenieure wieder an. Einer der Gründe: Die Produkte im Maschinenbau wurden immer stärker mit Elektronikkomponenten ausgestattet. Die Elektronikindustrie begann ebenfalls verstärkt Informatiker sowie Ingenieure mit Elektronik- und Informatikkenntnissen zu suchen. 1998 wurden die meisten Elektrotechniker von der Telekommunikationsbranche, der Elektro- und Maschinenbauindustrie sowie im Dienstleistungssektor gesucht.

"Die Berufsaussichten im Bereich Mobilfunk und Telekommunikationseinrichtung, aber auch in der Steuerung von Kraftwerken, wo zum Beispiel eine Ferndiagnose über Internet geschieht, sind hervorragend", sagt Manfred Seidel, Geschäftsstellenleiter des VDE-Ausschusses Ingenieurausbildung. Wenn keine Trendwende bei der Entwicklung der Absolventenzahl eintritt, wird es in Kürze in der gesamten Elektrotechnik zu einem Mangel an qualifizierten Ingenieuren kommen, warnt er - zumal die Zahl der in Ruhestand gehenden Elektroingenieure steigt. Nach Schätzungen des VDE wird insbesondere die IuK-Technik in den nächsten Jahren für ein Beschäftigungswachstum sorgen. Zahlreiche Unternehmen haben laut VDE in den letzten zwei Jahren ihre Stellenangebote verdoppelt. Neue Tätigkeitsfelder entstehen auch in der Umwelt- und Medizintechnik. Weil es nicht genügend Fachleute auf dem Markt gibt, sind die meisten Unternehmen dazu bereit, auf Umsteiger und Experten aus anderen

Ausbildungsgängen zurückzugreifen.

Allein bei Siemens ist die Zahl der IuK-Arbeitsplätze für Hochschulabsolventen zwischen 1991 und 1997 um 44 Prozent auf 19 500 Ingenieure angestiegen. Heute sind 30 Prozent aller Mitarbeiter Ingenieure, jeder zweite ist im IuK-Bereich tätig. Nach Einschätzung von Hernaut liegt der Einstellungsbedarf an neuen Ingenieuren bei Siemens jährlich im Schnitt bei 2500, wobei 1998 und 1999 jeweils etwa 3700 Ingenieure beim Konzern neu unter Vertrag gingen. Absolventen mit Universitätsdiplom werden bevorzugt in Forschung und Produktentwicklung eingesetzt. Dort sind zwar abstrakte Kompetenzen gefragt, um neue Systeme und Produkte erfinden, erforschen und entwickeln zu können. Wenn es darum geht, beim Kunden Systeme aufzustellen und zum Laufen zu bringen, sind aber auch praktische Erfahrungen notwendig. Hier setzt Siemens vor allem auf FH-Absolventen.

Bald ist alles Software

Derzeit fehlen besondere Elektroingenieure, die die gefragten Informations- und Kommunikationstechnologien beherrschen. "Das schränkt unsere Wettbewerbsfähigkeit weltweit ein", meint Hernaut.

Für den studierten Elektrotechniker Hernaut gibt es vor allem einen Ausweg aus dem Dilemma: Die einschlägigen Studiengänge an den Hochschulen müssen schnellstens reformiert werden. Deshalb engagiert er sich im Ausschuß Ingenieurausbildung des VDE mit anderen Unternehmensvertretern und Repräsentanten der Hochschulen dafür, den Anteil der Informationstechnik in allen Fachbereichen und Studiengängen der Elektrotechnik zu erhöhen.

Für die meisten Elektroingenieure sei der Übergang von der Elektro- zur Informationstechnik ohnehin fließend, weiß VDE-Mann Seidel zu berichten. Viele beschäftigen sich in ihrem Beruf sogar fast ausschließlich mit Software-Entwicklung, um ihre Probleme zu lösen. Die meisten Systemfunktionen in Geräten oder Anlagen werden heute mit Hilfe von Software realisiert: sei es in der Automatisierungstechnik, wo Produktionsabläufe durch Computersteuerung geregelt werden, oder bei Prozeßabläufen, die in Computern simuliert, gesteuert und geregelt werden.

Wo einst ein Röntgenbild den Krankheitsherd im Körper eines Menschen lokalisierte, generiert heute die Software eines Tomographen ein dreidimensionales Bild erkrankter Gefäße. "Da brauchen wir Elektroingenieure, die entsprechende Software schreiben und konzipieren und sich auf die medizinische Technik spezialisiert haben", beschreibt Hernaut die neuen Aufgabengebiete.

Aber nicht nur Großunternehmen wie Siemens oder Bosch sind potentielle Arbeitgeber in der Elektroindustrie, sondern weit mehr als 2000 mittlere und kleine Betriebe. Ihre Produktpalette reicht von kleinsten elektronischen Bauelementen über informations- und kommunikationstechnische Anlagen bis hin zu schlüsselfertigen Kraftwerken. Zweitwichtigste Branche für die Elektroingenieure ist die Elektrizitätswirtschaft, gefolgt vom Maschinen- und Anlagenbau. Hinzu kommen informationstechnische Dienstleistungen der Informationstechnik und DV-Branche. Gute Chancen haben Elektroingenieure nach Beobachtung von Seidel auch bei Firmen wie Microsoft oder IBM, die sie in der Anwendungsprogrammierung einsetzen: "Die machen oft keinen Unterschied, ob jemand Diplom-Informatiker, Diplom-Ingenieur oder Physiker ist." Entscheidend sei Fachwissen in Kombination mit Softwarekenntnissen. Elektroingenieure würden Informatikern sogar vorgezogen, wenn es zum Beispiel darum geht, eine Steuerung für

Lastaufzüge oder Kraftwerke zu konzipieren, weiß Seidel.

Masterstudiengängegefordert

Wie für alle anderen Hochschulabsolventen gilt auch für Elektroingenieure: fächerübergreifende Qualifikation erhöhen die Chancen am Arbeitsmarkt. Dazu zählen vorrangig Kenntnisse in Projekt-Management, Unternehmensführung, Teamarbeit und interkulturelles Know-how. "Wenn ein Ingenieur mit seinen Kollegen bei Siemens im Ausland an dem gleichen Projekt arbeitet, dann reicht es einfach nicht aus, daß er nur die Sprache beherrscht, sondern er muß die anderen Kulturen kennen", sagt Hernaut. Um möglichst schnell Nachwuchs mit internationalem Background rekrutieren zu können, hat sich die Elektrobranche von Anfang an für die Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen an deutschen Hochschulen engagiert.

Der deutsche Diplomingenieur genießt laut Hernaut nach wie vor auf internationaler Ebene höchstes Ansehen. Bei der Einführung der neuen Abschlüsse müsse dringend darauf geachtet werden, daß die bisherige hohe Ausbildungsqualität auch weiter garantiert werden könne. Die gern von Wirtschaftsvertretern verkündete Formel "je kürzer und praxisnaher, desto besser", sei zu kurz gegriffen.

Auch wenn angesichts des Nachwuchsmangels viele Unternehmen eine stärkere Spezialisierung schon während des Studiums einfordern, warnt der VDE davor. "Um den Ingenieuren eine lebenslange berufliche Mobilität zu ermöglichen, müssen diese die breiten Grundlagen ihres Faches beherrschen. Die Aneignung speziellen Fachwissens, das wirklich innovativ ist und sich ständig ändert, ist dann Aufgabe der Weiterbildung", bringt Seidel die Position des VDE-Ausschusses Ingenieurausbildung auf den Punkt.

*Veronika Renkes ist freie Journalistin in Bonn.