Web

Streit um Rechtslage bei digitaler Archivierung

04.09.2001
Erzwungene Millioneninvestitionen oder Sturm im Wasserglas? Die Auswirkungen des zwangsweisen Steuerprüfer-Zugriffs auf die Unternehmens-DV sind selbst unter Fachleuten umstritten.

MÜNCHEN (COMPUTERWOCHE) - "Elektronische Archivierung wird zur Pflicht", "Bundesregierung verlangt elektronische Archivierung", "Steuerprüfer schaut ab 2002 ins digitale Archiv" - folgt man den Pressemeldungen der Hersteller von Dokumenten-Management-Systemen (DMS) und Archivierungslösungen, so müssen die Unternehmen bis zum 1. Januar 2002 schnellstens deren Programme kaufen, um die neuen Anforderungen der Grundsätze zum Datenzugriff und zur Prüfbarkeit digitaler Unterlagen (GDPdU) des Bundesfinanzministeriums (BMF) zu erfüllen. Alle ab Januar nächsten Jahres erzeugten elektronischen Dokumente müssen dann nämlich auch elektronisch recherchierbar sein - so sieht es das BMF vor. Sechsstellige Beträge sind dabei nach Ansicht des Archivierungsspezialisten Ixos und des ERP-Anbieters Brain International bei der Installation eines DMS durchaus nötig.

Doch Experten beurteilen die Folgen der neuen Regelungen weniger eindeutig. "Die Aussage der Hersteller von Archivierungssoftware, man müsse in jedem Fall ein elektronisches Archivierungssystem einführen, ist falsch", sagt Torsten Brand, Senior Berater beim Consulting-Unternehmen Zöller & Partner, und widerspricht damit der Meinung der Lösungsanbieter. Ganz im Gegenteil: Das Finanzministerium habe zum Ziel gehabt, auf elektronisch vorliegende Informationen strukturiert zugreifen zu können - was am einfachsten durch den Zugriff auf die vorhandenen Buchhaltungssysteme möglich ist. Explizit ist daher der Zugriff auf Daten aus Finanzbuchhaltung, Anlagenbuchhaltung sowie Lohn und Gehalt vorgesehen. "Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit muss gewahrt sein", stellt Brand klar. Wenn die eingesetzten DV-Systeme spezielle Auswertungen nicht zur Verfügung stellen, muss der Anwender sie auch nicht extra für

den Steuerprüfer installieren. Das Gleiche gilt für spezielle Schnittstellen, zum Beispiel um Daten aus den Systemen zu extrahieren.

Doch die Tücke liegt im Detail. "Zwar besteht kein direkter Zwang seitens des BMF, ein elektronisches Archivierungssystem einzuführen, aber es muss zumindest sichergestellt sein, dass alle steuerrelevanten Daten unveränderbar und recherchierfähig während der Aufbewahrungsfrist im Buchhaltungssystem vorliegen. Es sieht sofort anders aus, wenn auch die zugehörigen Belege nur noch originär digital vorliegen - dann kommt man um die elektronische Archivierung nicht herum", kontert Ulrich Kampffmeyer, Geschäftsführer des auf DMS spezialisierten Beratungsunternehmens Project Consult.

Ein weiterer Knackpunkt: Auch eingehende elektronische Dokumente müssen elektronisch recherchierbar sein, zum Beispiel beim Datenaustausch via EDI oder beim Austausch elektronischer Verträge mittels digitaler Signatur. Daher geht Kampffmeyer davon aus, dass die Unternehmen mittelfristig nicht umhin kommen, entsprechende Lösungen zu installieren. Allerdings: "Zurzeit erfüllt kaum ein Archivierungssystem die Anforderung, verschiedenste Dokumente wie E-Mail-Attachments, EDI-Daten, Buchhaltungsdaten, elektronisch signierte Dokumente mit dazugehörigen Zertifikaten, Eingangsprotokolle und Ähnliches im Zusammenhang recherchierfähig und auswertbar vorzuhalten." Das betrifft auch bestehende Archivsysteminstallationen. Deren Besitzer können keineswegs sicher sein, den gesetzlichen Anforderungen zu genügen.

Die Unsicherheit, wie die Vorgaben des Bundesfinanzministeriums zu erfüllen sind, zeigt sich auch bei den Anbietern von Unternehmenssoftware. Sie geben sehr unterschiedlich Auskunft auf die Frage, ob bis zum Stichtag Januar 2002 ein Archivierungssystem eingeführt werden muss. "Es genügt nicht, die Daten in einem ERP-System vorliegen zu haben", behauptet Bernd Dongus, Produkt-Manager E-Brain Document bei Brain International: "Der Steuerprüfer will den Originalbeleg sehen", und das sei zum Beispiel die gedruckte Rechnung. Nötig sei daher die hauseigene Software E-Brain Document für die Archivierung.

Die gegenteilige Meinung vertritt Achim Hubert, Produktmanager Classic Line bei Sage KHK: "Der Gesetzgeber will dem Steuerprüfer die Möglichkeit zur Filterung und Selektierung sowie den Durchgriff auf Zusatzinformationen geben - das geht nur in der Buchhaltung selbst." Sage KHK prüft noch die Auswirkungen, geht aber davon aus, dass die GDPdU-Anforderungen nur kleinere Anpassungen an der Software erfordern. Diese werden an die Kunden mit einem Update ausgeliefert.

Ein wenig differenzierter beschreiben die Experten bei Varial Software und der SAP AG die Auswirkungen. Sabine Törppe-Scholand, Produkt-Managerin Personalwesen bei Varial, sieht zwar keine zwingende Notwendigkeit für die Einführung eines DMS, empfiehlt es ihren Kunden aber. Die lange Speicherfrist von zehn Jahren lässt ihrer Ansicht nach keine andere Wahl, da die Daten nicht so lange im System vorgehalten werden können, zum Beispiel wegen Systemwechseln.

SAP verweist außerdem auf die häufig anzutreffenden heterogenen Installationen, in denen mehrere unterschiedliche Softwaresysteme eingesetzt werden. Hierfür empfiehlt das Softwarehaus den Einsatz der Data-Warehouse-Lösung von SAP, das "Business Warehouse" (BW). Die Zehn-Jahres-Frist könne außerdem den Einsatz eines Archivsystems notwendig machen, erläutert Hans-Dieter Scheuermann, Senior Vice President GBU Financials bei SAP, und stellt aber klar: "In reinen SAP-Umgebungen werden die gesetzlichen Anforderungen aus der GDPdU aber mit Standard-SAP-Mitteln erfüllt."

Die Anwender werden damit also allein gelassen. Eine klare Handlungsmaxime lässt sich zurzeit nicht geben. Die Experten empfehlen daher abzuwarten und nicht auf das Marketing-Getrommel der DMS-Anbieter hereinzufallen. "Da erst Belege, die ab dem 1. 1. 2002 entstehen, vorgehalten werden müssen, besteht keine Eile bei der Anpassung der DV", stellt Zöller-Experte Brand klar und prophezeit, dass viele Details im Rahmen der GDPdU-Anforderungen erst in den nächsten Wochen geklärt werden. Und auch Berater Kampffmeyer erwartet noch Klärung in wichtigen Fragen, zum Beispiel was genau die Finanzämter unter steuerlich relevanten Daten außerhalb von Finanz- und Anlagenbuchhaltung sowie Lohn und Gehalt verstehen.