Deutsche Datenschützer melden Bedenken an

Streit um EG-Projekt für eine medizinische Datenbank

08.12.1989

HANNOVER - Die EG-Kommission in Brüssel bastelt an einem Daten- und Informationssystem, um die Daten von rund 300 Millionen Mitgliedern der Kranken-, Unfall-, Renten- und Arbeitslosenversicherungen zu speichern. Weiterhin könnten medizinische Forschungsergebnisse überall in der EG ohne Zeitverzögerung nutzbar gemacht werden.

Das Großprojekt der EG, das auch über intime Daten in Milliardenzahl verfügen wird, läuft unter dem Namen "Advanced Information in Medicine" (AIM). AIM soll, so wollen es die Schöpfer des Projektes, in der Brüsseler EG-Bürokratie Grundlage für die Versicherungskarte der Europäer sein. Diese "Smart-Card", die es jedem Versicherten in der EG erlaubt, jeden Arzt aufzusuchen, enthält dann die Krankengeschichte und weitere persönliche Angaben. Jeder Arzt soll sie über sein eigenes DV-System lesen können.

Widerstand gegen AIM formiert sich bereits, doch eine breite Front ist derzeit nicht in Sicht. Die Rechtsanwältin Susanne Tiemann, Mitglied des Wirtschafts- und Sozialausschusses der EG, kündigt das Kontra des Ausschusses gegen die umfassenden Pläne an. Sie erwartet aber auch Rückendeckung von den Freiberuflern im Lande, die mit solchen Sozialdaten zu tun haben.

Kundig machen und Bedenken anmelden

Ärzte, Zahnärzte, Apotheker und ihre Vertretungen sollten sich schleunigst in der Sache kundig machen und eventuell Bedenken anmelden, meint sie.

Ob diese Berufsgruppen allerdings bereits in der Lage sind, über die eigenen Standes- und dazu noch Landesgrenzen hinaus sozialpolitischen Weitblick zu beweisen, ist zumindest fraglich. Die im Medizinbereich Tätigen haben sich während der vergangenen Monate mit den neuen Regeln im Gesundheitswesen herumschlagen müssen, die die eigene Arbeit und das Portemonnaie der Patienten betraf. Das von Bundesarbeitsminister Norbert Blüm verantwortete Gesetz wird die Ärzte und Apotheker auch noch während der kommenden Monate in Atem halten. Impulse könnten allein von den für konzeptionelle Arbeiten gleichsam freigestellten Verbandsfunktionären zu erwarten sein. Von hier ist allerdings noch kein Ton zu AIM zu hören gewesen.

AIM lädt aber geradezu zur breiten Mitarbeit und Diskussion ein. Denn AIM soll folgendes festhalten:

Daten zur Person, darunter Arbeitgeber und behandelnder Arzt; medizinische und soziale Daten wie Krankengeschichte (auch Anamnese der Familie), Familienverhältnisse, Bildung, Arbeitsverhältnisse sowie Untersuchungsbefunde.

Mißbrauch läßt sich nicht ausschließen

Diese Daten sollen verschiedenen Adressen zugänglich gemacht werden, darunter der Haupt- und Nebenstelle der Krankenkassen den Kliniken, den niedergelassenen Ärzten, Betriebsärzten, Arbeitsmedizinern, deren Zentren und Berufsgenossenschaften, Sozialgerichten, Rentenversicherungsträgern.

Bei so vielen Stellen, die über Daten verfügen können, sei Mißbrauch sicher nicht auszuschließen, warnt Susanne Tiemann. Darüber hinaus sei ebenso eine effektive Leistungskontrolle der Ärzte, Krankenhäuser, Apotheken und Zahnärzte zumindest denkbar.

Leistungskontrolle ist denkbar

Gleichfalls können die Inanspruchnahmen der Leistungen durch die Versicherten beobachtet, wenn nicht kontrolliert werden. Letztendlich ist es sogar möglich, Persönlichkeitsprofile herzustellen, auch wenn dies zumindest im Geltungsbereich des Grundgesetzes nach dessen Paragraphen 2 Absatz 1 nicht zulässig ist.

Die Datenschutzrechtsbestimmungen sind aber in anderen Ländern der EG noch nicht so weit - wenn überhaupt - ausgearbeitet wie hierzulande. In den Nachbarstaaten der Bundesrepublik wäre also auch der Zugriff auf diese hochsensiblen Daten weit größeren Kreisen möglich als in deutschen Landen.

Gerade daran aber war 1979 ein ähnliches Projekt gescheitert. Damals stellte das Bundesministerium für Forschung und Technologie Geld für DVDIS zur Verfügung, für "Datenerfassung, Verarbeitung, Dokumentation und Informationsverbund in den Sozialärztlichen Diensten mit Hilfe der elektronischen Datenverarbeitung". Die "Arbeitsgemeinschaft für Gemeinschaftsaufgaben in der Krankenversicherung" in Essen bearbeitete DVDIS. Das Projekt mußte aufgegeben werden, weil in der Bundesrepublik inzwischen zu strenge Datenschutzbestimmungen herrschten.

Die Frage aber stellt sich nun: Wieweit wirken die bundesdeutschen Datenschutzbestimmungen in die Länder der EG hinein? Haben sie eine Chance, auf diesem hohen Niveau auch in Portugal oder Irland übernommen zu werden, wo die Verbreitung von DV weniger weit vorangeschritten ist als hierzulande?

Rechtliche Sanktionsmöglichkeiten

Zumindest deutsche Datenschützer wissen, was auf sie zukommt. Nach ihrer Auffassung bestehen für eine Speicherung und Auswertung medizinischer Daten erhebliche rechtliche Sanktionierungsmöglichkeiten. Auch der vorgesehene Aufbau medizinischer Forschungs- und Planungssysteme ist nach geltendem deutschen Recht nicht unbegrenzt zulässig.