Der Anwendungsstau entpuppt sich als Rationalisierungsproblem

Strategische Vorteile schlummern im Altbestand

24.11.1989

AACHEN (pi) - Das Unternehmens-Know-how in der Software ist zu wertvoll, als daß es auf der geistigen Müllhalde landen dürfte. Doch vorsichtige Schätzungen gehen davon aus, daß knapp die Hälfte der Programmierer-Resourcen für die Verbesserung bestehender Programme verbraucht werden. Der Beruf der Zukunft heißt daher "Software-Betreuer".

Noch drastischer wird das Drama der Software-technischen Altlastenbewältigung vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) dargestellt. Die Wissenschaftler errechneten, daß auf einen Dollar Investition für Software-Neuentwicklung neun Dollar Pflegeaufwand über den Lebenszyklus des Produktes kommen.

Besondere Brisanz gewinnt das Thema durch die Tatsache daß "alte" Software durchaus nicht älter als eine Woche sein muß; Thomas A. Corbi, Mitarbeiter der IBM Data Systems Division stellt in einem Essay die besonderen Eigenschaften von "alten" Codes dar. So sei das Design mit Methoden und Techniken vorgenommen worden, die nicht klar über die Programmstruktur, die Daten- und Funktionsspezifikationen Auskünfte geben.

Außerdem sei der Code in einer Sprache verfaßt, die nicht klar über Programm- und Datenstrukturen, Funktionen und Schnittstellen informiere, montiert der Spezialist für Programmproduktivität. Eine Dokumentation, falls überhaupt vorhanden, sei weder vollständig noch aktuell. Design und Code reagierten nicht korrekt auf Änderungen der Hard- und Softwareumgebung und letztlich gelte, daß unorthodoxe und nicht-standardisierte Codierungstechniken angewendet wurden.

"Das Problem vor dem wir stehen", so Kent Petzold, Geschäftsführer der Viasoft Inc., "ist, daß in den letzten 20 Jahren 80 Prozent der Kapazität in die Neuentwicklung von Programmen gesteckt wurde, mit der die Basis für die heutige DV-technische Durchdringung aufgebaut wurde." Die Viasoft Inc. entwickelte das Re-Engineeringtool VlA/Center zur Analyse bestehender Programme (siehe auch COMPUTERWOCHE Nr. 14 vom 27. 10. 1989, Seite 4), das von der GEI GmbH aus Aachen im deutschsprachigen Raum angeboten wird.

"Kritisch an der meisten, damals entwickelten und heute noch eingesetzten Software ist, daß sie unter den aktuellen veränderten Bedingungen nicht mehr den Anforderungsattribut 'mission-critical' entspricht", umreißt der US-Manager die Situation. Um dieses Problem zu lösen, soll die sogenannten "Analytical Engine", ein Modul seines Produktes, die Analyse bestehender Cobol-Programme im IBM-Mainframebereich rationalisieren .

Gleichzeitig müsse aber in Erwägung gezogen werden, daß die Fortschreibung der Software in vielen Fällen dank neuer Tools zum Re-Engineering nicht nur kosteneffektiver sei als die Neuentwicklung, sondern auch die DV-technische Basis der spezifischen Unternehmung aufwerte, da auf deren Inhalte durchaus aufzubauen sei.

Die Veränderungen, die im Laufe der Jahre mit und durch diese Software vollzogen wurde, führte, so Petzold, zu einem immensen Druck auf die Pflegekapazität, die letztlich unnötigerweise Programmierkapazität binde.

Das US-amerikanische National Bureau of Standards untergliedert Maintenance in die vier Bereiche korrigierende Analyse (20 Prozent des Aufwandes) Adaption/Wartung (25 Prozent), perfektionierende Weiterentwicklung (ab 50 Prozent aufwärts) und präventive Arbeiten (5 Prozent). Diese Zahlen, die auf Basis einer Studie von Lientz und Swanson mit einer Population von 487 Softwareentwicklungs-Organisationen errechnet wurden, bergen ein enormes Rationalisierungspotential in sich.

"Erst in den letzten Jahren haben US-amerikanische Unternehmen die Bedeutung der existierenden Programme für ihre Wettbewerbsfähigkeit unter strategischen Gesichtspunkten

voll erkannt"', meint Kent Petzold. "Aber", so führt er aus, "dieses Potential eröffne sich erst dann, wenn notwendige Fortschreibungen schnell und vor allem sicher durchgeführt werden können."

So sei auch der vielbeschworene Rückstau nach seiner Erfahrung mittlerweile zu 80 Prozent auf Wartungs- und Erweiterungsprobleme zurückzuführen. Aus diesem Blickwinkel heraus betrachtet Petzold auch den neuen Ausdruck "Re-Engineering", der sich anstelle des Begriffes "Wartung" seit kurzem durchsetze. Er verdeutliche besser die Aufgaben der Erweiterung des Codes, der kontinuierlichen Entwicklung und der Herauslösung einzelner Modelle einer betrieblichen Software zur präziseren strategischen Arbeit.

Die Probleme, die hier auftauchen, sind immens. Die Manager von Viasoft berichten von einem amerikanischen Unternehmen, dessen DV-Verantwortliche bei einer Revision 1600 Programme als dringend überarbeitungswürdig befanden. Dies waren nicht nur Programme, die auf Grund geänderter Geschäftsbedingungen zu überarbeiten waren, sondern auch Anpassungen, denen veränderte Gesetzesvorschriften unterlagen

Erst in jüngerer Zeit komme wieder zu Bewußtsein, daß der existierende Code ein getreues Abbild des Unternehmens darstelle - so lauffähig oder nicht er auch unter heutigen Gesichtspunkten sei. Dabei ergebe sich nach Petzold ein Paradoxon: Die Unternehmen, die am erfolgreichsten am Markt operierten, seien die, die als erste automatisiert geschilderten Pflegeproblemen litten, wobei sie aus strategischen Gründen auch dem größten Druck zum Re-Engineering ausgesetzt seien.