Stop-and-go-Verkehr auf der Datenautobahn Berlin-Bonn Virtuelle Hauptstadt im Spannungsfeld des Wettbewerbs

01.07.1994

Der 20. Juni 1991 gilt fuer viele als historisches Datum. Gemeint ist der Tag des Bundestagsbeschlusses, wonach Berlin als neue Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands im Herbst ab 1998 Sitz des Bundestages, des Bundeskanzleramtes und mehrerer Bundesministerien werden soll. Die Verlagerung des Parlaments und grosser Teile der Bundesregierung vom Rhein an die Spree hat sich zu einem TK-Thema "allererster Guete" entwickelt. So jedenfalls sieht es Telekom-Chef Helmut Ricke, fuer dessen Unternehmen der Informationsverbund Berlin-Bonn (IVBB) jedoch weit mehr als ein Prestigeobjekt darstellt. Multimedia in die Bonner und Berliner Amtsstuben zu bringen, bedeutet auch staatliche Auftraege und ein breites Experimentierfeld fuer neue Techniken. Ganz nebenbei geht es beim "Bundesbehoerdennetz 2000" aber auch um handfesten Wettbewerb - sowohl zwischen der Telekom und ihrer in- wie auslaendischen Konkurrenz als auch zwischen Bonner Innen- und Forschungsministerium, wo man momentan jeweils sein eigenes Sueppchen in Sachen kuenftiger IT-Technik zu kochen scheint.

Es war eine Feierstunde par excellence: Mehr als 200 hochrangige Staatsdiener hatte die Bonner Beamten-Zeitschrift "Behoerdenspiegel" geladen, der Vorstandsvorsitzende der Telekom, Helmut Ricke, und der Staatssekretaer im Bundesministerium des Innern, Franz Kroppenstedt, sprachen salbungsvolle Grussworte, und Vertreter der Hauptstadt Berlin und der neuen "Bundesstadt" Bonn schickten sich via Videokonferenz gegenseitig Ergebenheitsadressen. Was die Bonner wie Berliner Politprominenz drei Jahre nach besagtem Bundestagsbeschluss in gehobene Stimmung brachte, war das absehbare Ende aller Grabenkaempfe zwischen beiden Metropolen mit Hilfe moderner Telekommunikation. Anders formuliert: Die Moeglichkeit der Vereinigung Bonns und Berlins mit Hilfe einer dazwischengeschalteten Datenautobahn sowie einer Reihe entsprechender Multimedia-Anwendungen zu einer Art virtuellen Hauptstadt.

Helmut Ricke nutzte denn auch die Gunst der Stunde, um das von ihm gefuehrte Postunternehmen in der Rolle zu praesentieren, in der er es am liebsten sieht: als modernen Dienstleistungsbetrieb. "Wir bauen nicht nur am Information-Highway, sondern bringen auch die Anwendungen auf Touren", skizzierte der Telekom-Chef die Grundidee des von seinen Planern kreierten Bundesbehoerdennetzes 2000, das die Endausbaustufe des IVBB verkoerpern soll.

Telekom feiert sich als Sieger im Wettbewerb

Dabei gehe es, so Ricke, nicht nur um den Ausbau einer hochleistungsfaehigen Glasfaser-Infrastruktur zwischen Berlin und Bonn, sondern auch um die Verbindung zahlreicher LANs und Telefon- Nebenstellenanlagen sowie Multimedia-Anwendungen wie Video- Conferencing.

Wenige Tage vorher hatte die Generaldirektion der Telekom bereits in einer Presseerklaerung vollmundig ihre fuehrende Rolle bei der Gestaltung des IVBB herausgestellt. Telekom und Bundesministerium des Innern haetten, hiess es da, einen Vertrag zur Errichtung des IVBB unterzeichnet - nach einer Ausschreibung, bei der sich die Telekom "sowohl aufgrund des jetzt zur Ausfuehrung kommenden Konzeptes wie auch deutlicher Vorteile bezogen auf die Gesamtkosten" durchsetzen konnte. Herzstueck des IVBB sei ein geschlossenes TK-Netz, das alle Ministerien und Verfassungsorgane sowie deren nachgeordnete Behoerden einbinde.

Einige der Passagen des Telekom-Textes, der da in die Redaktionsstuben geflattert war, duerften den Verantwortlichen im Hause von Innenminister Manfred Kanther nicht unbedingt gefallen haben, auch wenn man sich offiziell bedeckt haelt. Volker Biehl, Ministerialrat im Innenministerium und Leiter der zustaendigen Koordinierungs- und Beratungsstelle der Bundesregierung fuer Informationstechnik in der Bundesverwaltung (KBST), macht jedenfalls deutlich, worum es bei dem Telekom-Auftrag tatsaechlich geht: "Es wird ein Uebergangskonzept fuer die Jahre 1995 und 1996 realisiert." Dabei darf der Bonner Staatscarrier fuer insgesamt 3,2 Millionen Mark einen dicken Glasfaserstrang zwischen Bonn und Berlin verlegen und das Bonner Behoerdennetz in Berlin virtuell nachbilden. Geplante Anwendungen sind zunaechst eine Zusammenlegung des Telefonverkehrs in Form eines Corporate Network sowie Datenkommunikation auf unterster Ebene - alles auf ISDN-Basis, der Datenautobahn, fuer die die Mannen um Helmut Ricke momentan so stark wie nie zuvor die Werbetrommel ruehren. Themen wie die Migrationsmoeglichkeit in Richtung kuenftige Uebertragungstechniken wie ATM sowie die Ausstattung der Bonner und Berliner Ministerien mit hochmodernen Desktop-Videokonferenzsystemen sind nach Angaben von Biehl indes Gegenstand spaeterer Projektphasen. "Hier gehen wir Ende 1996 wieder an den Wettbewerb", laesst der Ministerialrat vielsagend in seine weiteren IVBB-Karten blicken.

Stichwort Wettbewerb: Was seitens der Telekom als Ausschreibungsgewinn deklariert wurde, hat einen weitaus brisanteren Hintergrund. Ausgehend von einer von der Berliner Detecon GmbH (an der die Telekom 30 Prozent Anteile haelt) und dem Muenchner Kommunikationswissenschaftler Eberhard Witte ausgearbeiteten Studie, holte die KBST, wie Biehl freimuetig berichtet, eine Reihe von Expertisen ein, aufgrund von denen letztlich die Telekom gegen Mitbewerber wie Alcatel und Siemens die Oberhand behielt - ein fuer den in Hersteller und Netzbetreiber vertikal strukturierten bundesdeutschen TK-Markt bisher einmaliges Szenario. Biehls Fazit: "Die Telekom war am guenstigsten."

Angesichts des vergleichsweise geringen Auftragsvolumens ging es fuer die Telekom, wie Insider behaupten, primaer um die Ausschaltung unliebsamer Konkurrenten - und dabei sei die Ricke-Mannschaft nicht zum ersten Mal mit aus dem Netzmonopol finanzierten Dumping- Preisen aufgetreten. In der Generaldirektion Telekom stehen die Zeichen auf Sturm, seit in Folge des beruehmten Corporate-Network- Erlasses vom 1. Januar 1993 die Kundschaft in Scharen zur privaten beziehungsweise auslaendischen Konkurrenz ueberlaeuft. Da haette eine Niederlage im Zusammenhang mit einem nationalen Prestigeobjekt wie dem IVBB, so Kenner der Szene, gerade noch gefehlt - noch dazu, weil angeblich auch Erzrivale British Telecom als Auftragnehmer im Gespraech war.

In jedem Fall muessen sich die Bonner, wollen sie in Sachen IVBB weiter am Ball bleiben, Ende 1996 fuer die naechste Projektphase wieder bewerben. Dabei werden sie sich in bester Gesellschaft befinden, denn dieser Tage laufen, finanziert aus dem Etat des Bundesforschungsministers, drei weitere Grossprojekte unter dem Stichwort "Multimedia-Verbund Bonn-Berlin" an. Kern der drei von der dem Krueger-Ministerium nahestehenden Gesellschaft fuer Mathematik und Datenverarbeitung (GMD) in Sankt Augustin vorbereiteten "Polikom"-Projekte ist der Test ausgewaehlter Pilotanwendungen, etwa die Einfuehrung von Groupware-Loesungen oder Systemen zur elektronischen Dokumentenverarbeitung. Konsortialfuehrer der drei Projekte sind die Berliner Volkswagen- Tochter VW-Gedas, die IBM Deutschland GmbH sowie die deutsche Hewlett-Packard GmbH in Boeblingen.

Verschiedene Angaben zum Etat von Polikom

Wieviel Geld fuer Polikom zur Verfuegung steht, wusste man auf Anfrage der COMPUTERWOCHE im Forschungsministerium nicht. Waehrend schon im Herbst vergangenen Jahres die "Wirtschaftswoche" von einem 120-Millionen-Mark-Etat berichtete, spricht GMD- Geschaeftsfuehrer Josef Schaefer lieber von "240 Personenjahren", was umgerechnet hoechstens 80 Millionen Mark entspreche. Ministerialrat Biehl will hingegen von "maximal 20 Millionen Mark" wissen; ueberhaupt scheint es den Beamten von Innenminister Kanther momentan relativ gleichgueltig zu sein, was auf der anderen Schiene Bonn-Berlin laeuft, solange sie selbst die Geschwindigkeit bestimmen koennen.

"Die Polikom-Teilnehmer duerfen sich selbstverstaendlich wieder bei einer Ausschreibung von uns beteiligen, und wenn sie ein ueberzeugendes Angebot vorlegen, bekommen sie auch den Zuschlag", kommentiert Biehl das Kompetenzgerangel zwischen beiden Ministerien. Bis auf weiteres will man jedenfalls in der Kanther- Behoerde mit der Detecon kooperieren, die die naechsten Projektphasen des IVBB ausarbeiten soll. Eine moegliche Vorteilsnahme seitens der Telekom durch ihre Detecon-Beteiligung sieht der Bonner Spitzenbeamte nicht: "Die trennen da sehr deutlich, ausserdem schauen wir ihnen taeglich auf die Finger."