IT im Anlagenbau/Exklusives Wissen über Besonderheiten zugänglich machen

Störfällen durch Transparenz vorbeugen

20.02.1998

Der Markt für Anlagenbauer ist schwieriger geworden: So stehen im Bereich der Stromerzeugung durch Überkapazitäten, die derzeit in der Europäischen Union 40000 Megawatt an Leistung betragen, und eine Überalterung der Anlagen umfassende Umstrukturierungen ins Haus, die nicht ohne wirtschaftliche Brisanz sind. Zusätzlichen Druck übt die Liberalisierung der Märkte aus.

Das kybernetische System einer Großanlage mit seinen unzähligen, voneinander abhängigen Aggregaten läßt sich vereinfacht in die drei übergeordneten Funktionsbereiche Betrieb, Instandhaltung und Planung untergliedern. Der Aufbau eines reibungslosen Kommunikationsflusses zwischen diesen Sektoren verlangt eine Symbiose aus den Erfahrungen der Anlagenbauer und -betreiber sowie der DV-technischen Seite. Ihr Ziel ist nicht nur eine Optimierung der Betriebsführung, sondern auch die Konzeptionierung neuer technischer Anlagen - und, wo möglich, die Überarbeitung bestehender Anlagen.

In einem Konzeptpapier der Deutschen Babcock Anlagen GmbH (DBA), die sich mit der ESG Elektroniksystem- und Logistik-GmbH aus München zu einem gemeinsamen Vorgehen zur Lösung derartiger Probleme zusammengefunden hat, steht eine Kernaussage zur optimierten Betriebsführung: "Betriebsführungssysteme müssen typische Handlungsabläufe und Entscheidungen mit dem Betriebsprozeß nahekommenden Regeln algorithmieren und Informationen für wissensbasierte Entscheidungen weitgehend aufbereiten."

Die Betriebsführung einer ersten umwelttechnischen Anlage, der Verbrennungsanlage für Rückstände aus der Abwasser- behandlung (Vera) in Hamburg, die nach dieser Prämisse von DBA und ESG gestaltet wurde, steht unmittelbar vor der Fertigstellung - die informationstechnische Ausgestaltung läßt sich grundsätzlich auf jede Großanlage projizieren. Basis des Konzepts ist das modulare Diagnose- und Instandhaltungssystem "Modis" der ESG, das in Zusammenarbeit mit der DBA für die Anforderungen des Anlagenbaus optimiert wurde.

Der Systembaukasten setzt sich modular aus einem elektronischen Schichtbuch als Eingabemedium für die Betriebszustände, dem Instandhaltungs-Management, dem Modul zur Materialwirtschaft, der Dokumentation für Instandhaltung sowie Diagnose und Meßwertverarbeitung zusammen. Die Programmbausteine sind über ein relationales Datenbanksystem von Oracle miteinander verknüpft. Als Benutzeroberfläche eignet sich bevorzugt Windows NT. Die Architektur ist Client-Server-basiert.

Die Software zur Betriebsführung der Anlage wird nicht nur dem Betreiber der Anlage vor Ort zur Verfügung gestellt, sondern auch bei der DBA in Oberhausen eingesetzt, um auch über Wide Area Network (WAN) Fernwartung und -service durchführen zu können (siehe Grafik). "Ziel sind nicht nur Service und Beratung der Anlagenbetreiber, aufbauend auf transparent verfügbaren Erfahrungen aus mehreren Anlagen", erklären Walter Weirich und Gerd Koopmann, beide Leiter Anlagenservice bei der DBA, "sondern auch eine kostengünstigere Steuerung der Gesamtbelange." Auch die ESG ist in das WAN eingeklinkt.

Der Alptraum jedes Anlagenbetreibers ist eine ungeplante Instandhaltung - umgangssprachlich "Störfall" genannt. "Da kommt in Sachen Kostenreduktion dem Instandhaltungs-Management-System eine wichtige Rolle zu", erläutert Weirich.

Insbesondere bei älteren Anlagen sorgt die Tatsache, daß das Wissen über den Zustand der Anlage nicht allgemein verfügbar ist, für große Probleme und verhindert den adäquaten Umgang mit Störfällen.

"Allein Transparenz schafft die Möglichkeit, Störfällen übergreifend mit dem Wissen und der Erfahrung der Betriebsmannschaft vorzubeugen", unterstreicht Weirich. So würden vor allem bei älteren Anlagen vielfach Instandhaltungsarbeiten vorgenommen, die sich schlicht über Jahre eingebürgert haben, aus technischer Sicht aber vermieden werden könnten - wichtige Problembereiche würden teils erst zu spät erkannt. Das Wissen um neue Techniken und mögliche Schwachstellen sei bei der DBA auf der Basis des Modis-Pakets übergreifend verfügbar. So erhielten Kunden durchaus auch Tips aus dem Erfahrungsschatz des Unternehmens, wie Weirich am Beispiel einer bauartgleichen Pumpe in unterschiedlichen Funktionen erläutert: "Bei der mittleren Lebensdauer einer Anlage von 25 Jahren ist es durchaus möglich, bereits eingebaute Aggregate auch untereinander zu tauschen. So kann eine Pumpe, die mit Wasser beschickt 50 Jahre hält, zu einem bestimmten Zeitpunkt gegen ein baugleiches Aggregat ausgetauscht werden, das in einer säurehaltigen Lösung arbeitet und für das deshalb nur zehn Jahre Lebensdauer vorgesehen sind. Somit ist die Gesamteinsatzdauer beider Pumpen in der Anlage maximiert." Das ist dann Kostensenkung pur und nur über einen Abgleich der DV-gestützten Daten und Dokumentationen möglich.

Vorbeugen ist allemal besser als heilen. Ziel ist eine kostenoptimierte Betriebsführung mit wirtschaftlich sinnvoller, geplanter Instandhaltung. Ähnlich dem festgelegten Kilometercheck bei einem Fahrzeug stand bislang Instandhaltung - Intervalle und Maßnahmen - aus Erfahrungswerten heraus relativ fest. Doch gilt es, diese Intervalle in Auftreten und Ablauf zu optimieren. Ölwechsel also erst nach 30000 statt nach 15000 Kilometern.

Als Instrument hierzu steht dem Instandhaltungsleiter der Anlage das Modul Instandhaltungs-Management (IHM) aus dem Modis-Paket zur Verfügung. Über IHM steuert er unter Berücksichtigung von Ressourcen wie Material, Personal und Verfügbarkeit den Instandhaltungsvorgang. Fragen darüber, welche Materialien oder Werkzeuge benötigt werden und ob sie vorhanden sind, werden ebenso beantwortet wie solche zum Bestellvorgang. Die angebundene Dokumentation enthält Anleitungen zur Wartung, Vorschriften zur Montage oder Auflagen wie die Hinzuziehung des TÜVs oder von Behörden. In einem solchen System werden bei einer Großanlage leicht mehr als 100 Aktenordner Enddokumentation verwaltet.

Wichtig ist im laufenden Betrieb auch das Aufzeichnen und Fortschreiben der Historie, denn jede Anlage zeichnet sich durch spezifische Charakteristika aus. Schwachstellen, auf die ein besonderes Augenmerk gelegt werden muß, werden so rascher erkannt.

Spannend wird es bei einem Störfall. Sei es, daß der Rundgänger während seiner optischen Begutachtung der Anlage außer- gewöhnliche Vorkommnisse meldet oder daß ein elektronischer Sensor in der Prozeßleitstelle Alarm gibt - das System stellt die benötigten Informationen sofort zur Verfügung. "Über ein Kennzeichnungssystem für Komponenten nach KKS ist jede Pumpe und jedes Aggregat sofort identifizierbar", erklärt Koopmann. "Ein System zur Anlagenkennzeichnung (AKS) schafft bei Großanlagen zusätzliche Klarheit", führt er aus, und Weirich ergänzt: "Die Komponentenbezeichnung geht in das elektronische Schichtbuch ein. Von dort aus wird dann der Prozeß der Instandhaltung angestoßen."

Zum Beispiel werden die Daten zwischen Oberhausen und der neuen Hamburger Klärschlammverbrennungsanlage im Routinebetrieb einmal täglich über ISDN abgeglichen, was nur wenige Minuten dauert. "Das System lebt und wächst so mit den Erfahrungen des laufenden Betriebs weiter", meinen Weirich und Koopmann übereinstimmend - und Einsparungen durch ein geschicktes Management der Instandhaltungen im sechsstelligen Bereich sind auch bei Großanlagen keine Kleinbeträge.

VERA

Die Stadt Hamburg hat als Entsorgungsweg für ihre jährlich anfallenden 40000 Tonnen getrockneten Schlamm aus ihren Kläranlagen die Verbrennung gewählt. In der eigens dafür erbauten Anlage Vera reduzieren sich Rückstände durch die Verbrennung auf 150 Tonnen pro Jahr Schwermetallschlamm, die deponiert werden müssen. Der Rest besteht einerseits aus 20000 Tonnen Asche und 500 Tonnen Gips pro Jahr, die zu Baustoffen weiterverarbeitet werden, und zum anderen aus Wärme, die zur Trocknung des Klärschlamms und zur Stromerzeugung verwendet wird. Als Anfahrtsbrennstoff dient Faulgas aus benachbarten Klärwerken oder alternativ Heizöl. Zur Verbrennung stehen drei voneinander unabhängige Verbrennungslinien zur Verfügung, über die insgesamt 78840 Tonnen Trockenschlamm und 100000 Kubikmeter Faulgas pro Jahr entsorgt werden können.

Angeklickt

Der "Rundgänger" zur optischen Überprüfung von Großanlagen ist in der Regel zwar noch nicht arbeitslos, doch wird auch diese Kontrolle immer häufiger eine Sache der Informationstechnologie. Galt bislang maximale Verfügbarkeit als Gebot bei Kraftwerks- und umwelttechnischen Anlagen, so steht jetzt die wirtschaftliche Verfügbarkeit im Vordergrund. DV-gestützte, planende Instandhaltung tritt an die Stelle starr festgelegter Maßnahmen und kann damit auch helfen, Störfälle zu minimieren.

*Horst-Joachim Hoffmann ist freier Fachjournalist in Hamburg.