Stiefkind Methodenbank?

06.08.1976

Mit Prof. Peter Mertens, Universität Erlangen-Nürnberg, sprach CW-Chefredakteur Dr. Gerhard Maurer

- An Ihrem Lehrstuhl für Betriebsinformatik wird ein Marktdatenbanksystem MADAS entwickelt, dessen Mittelpunkt eine Methodenbank ist. Diesen Begriff hört man recht selten, was wohl darauf hindeutet, daß die Entwicklung dieses Elementes von Informationssystemen noch nicht weit fortgeschritten ist.

In der Tat. Hält man sich etwa vor Augen, welche gigantischen Fortschritte. man in den letzten Jahren bei den Datenbanken gemacht hat, so muß man feststellen, daß auf dem Sektor der Methodenbanken vergleichsweise wenig geschehen ist. Wenn man davon ausgeht, daß zu einem modernen Informationssystem unter anderem sowohl eine Datenbank als auch eine Methodenbank gehört, so wird deutlich, daß man etwas tun sollte, um den Forschungsrückstand bei den Methodenbanken aufzuholen.

- Wer braucht denn Methoden und damit Methodenbanken?

Methodenbanken braucht man einmal im technisch-wissenschaftlichen Bereich. Denken Sie zum Beispiel an die Mitarbeiter im Ingenieurberuf. Ein ebenso großes Anwendungsgebiet ist aber auch in den kaufmännischen Bereichen der Unternehmungen gegeben. Ein erstes Beispiel wäre der Unternehmensplaner. Er benötigt als Methode unter anderem Verfahren zur Investitionsbeurteilung, Nutzwertanalysen, Risikoanalysen. Der Disponent im Material- und Einkaufssektor arbeitet mit - Bedarfsprognosen unterschiedlicher Art und Verfahren zur Ermittlung optimaler Losgrößen. Der moderne Marketing-Mann bedient sich eines vielfältigen mathematisch-statistischen Instrumentariums, darunter Faktoren-Analyse, Diskriminanz-Analyse, Cluster-Analyse.

- Im modern geführten Unternehmen hat man doch entsprechende Programme und Methodensammlungen?

Eine reine Methodensammlung oder eine Kollektion von Unterprogrammen ist aber noch keine Methodenbank, so wie eine Sammlung von Dateien keine Datenbank darstellt. Bleiben wir bei dem Beispiel des Marketing-Mannes: Das moderne statistische Instrumentarium des Marktforschers ist in den vergangenen Jahren förmlich explodiert, so. daß es nur noch ganz wenige gibt, die den Überblick über alle angebotenen Methoden, deren Anwendungsvoraussetzungen und ihre Leistungsfähigkeit behalten können. An dieser Stelle muß meines Erachtens der Rechner helfen, und dann kommt man von der Methodensammlung zur Methodenbank.

- Welche Anforderungen sind denn an eine Methodenbank zu stellen?

Im Idealfall sollte der Rechner zunächst jeweils taufrische Dokumentationen des Methodenvorrates in benutzerfreundlicher Form liefern. Dann muß der Computer nicht nur dem Benutzer beschreiben, welche Methoden angeboten werden können, sondern auch bei der Methodenauswahl helfen. Darunter verstehe ich, daß er im Dialog mit den Menschen Methoden offeriert, die einmal zur Struktur der vorhandenen Daten und zum anderen zum Problem passen. Umgekehrt muß der Rechner davor warnen, daß der Benutzer unzulässige Methoden verwendet. Um ein einfaches Beispiel zu geben: Die Methode "Mittelwertbildung" darf nicht auf nominal skalierte Daten angewendet werden - der Mittelwert aller Postleitzahlen wäre barer Unsinn. Des weiteren soll der Benutzer - möglichst in einer Dialogsitzung - verschiedene Methoden zu einem Modell verknüpfen können - etwa eine Lagerabgangsprognose mit einem Verfahren zur Bestellmengen-Ermittlung und zur Losgrößenoptimierung zu einem Modell der Lagerdisposition vereinen. Der Computer muß helfen, das so entstandene Modell mit geeigneten Parametern, also. etwa einem günstigen Glättungsparameter, wenn man mit der exponentiellen Ausgleichung arbeitet und ferner mit geeigneten Daten, zum Beispiel Stichprobendaten, zu versorgen. Der Benutzer sollte den Modellauf am Terminal initialisieren können. Viele moderne Entscheidungshilfsmittel liefern Ergebnisse, die nicht ohne weiteres zu interpretieren sind. Hier ist es nützlich, wenn die Elektronik Interpretationshilfen zur Verfügung stellt, also etwa sagt, welche Bedeutung im gegebenen Zusammenhang ein bestimmter Korrelations-Koeffizient hat Schließlich wäre daran zu denken, daß der Rechner aufgrund der Zwischenergebnisse Vorschläge macht, mit welchen Parametern man bei erneuten Modelldurchläufen operieren sollte. Er könnte also Vorschläge unterbreiten, mit welcher Schrittweite eine Variable im Rahmen eines Simulationsmodelles verändert werden soll. Ergänzend wäre daran zu denken, daß der Benutzer den Umgang mit ihm noch. nicht vertrauten Methoden im Dialog mit der Maschine trainiert. Hierzu sollten möglichst durchsichtige Zahlenbeispiele zur Verfügung stehen. Stößt der Benutzer auf Begriffe, deren Inhalt ihm entfallen ist, so muß er als, Hilfe eine Art Lexikon aufrufen können, so daß ihm in kurzer Form das Wesentliche ins Gedächtnis zurückgerufen wird.

- Damit wäre das Ideal skizziert. Wie aber sieht es in der Praxis aus? Gibt es heute schon entsprechende Softwaresysteme?

Es gibt eine Reihe von Softwarepaketen - ich schätze ihre Zahl auf ein gutes Dutzend - und die einfacheren können auch käuflich erworben werden. Es ist mir aber kein System bekannt, das annähernd alle Anforderungen, die ich in meiner Idealvorstellung aufgezählt habe, auf sich vereinigt.

- Können Sie einige Softwarepakete nennen, die heute dem Anwender zur Verfügung stehen?

Sie können beispielsweise über IBM das SSP (Scientific Sapotin Package) beziehen. Siemens bietet ein kombiniertes System MEB/Metaplan an, das ich für das fortschrittlichste Produkt halte. Des weiteren gibt es eine Reihe von Paketen, die meist an Universitätsinstituten oder an anderen Forschungseinrichtungen entstanden sind und von vielen Computerherstellern übernommen wurden und angeboten werden. Interessant ist auch, daß einige Modularprogramme wichtige Elemente von Methodenbanken enthalten. So kann man zum Beispiel in dem Lager-Bewirtschaftungssystem HOREST/Siemens unter mehreren. Methoden der Bedarfsvorhersage wählen und bekommt sogar Hilfen für die Versorgung dieser Prognosemodelle mit geeigneten Startparametern. Erwähnenswert erscheint mir auch noch eine Entwicklung von Erbe & Walch im wissenschaftlichen Zentrum der IBM in Heidelberg: Das von uns entwickelte System Madas ist stark auf die Bedürfnisse der Marktforscher ausgerichtet und noch nicht allgemein verfügbar.

- Wirtschaftlichkeitsüberlegungen müssen ja hinzukommen. Lohnt sich denn überhaupt der Aufwand, der zweifelsohne erforderlich ist, um eine Methodenbank zu realisieren und dann zu fahren?

Es bietet sich ein Vergleich zu dein Aufwand für die Beschaffung der Daten und dem Betrieb eines Datenbanksystems an. Zum Beispiel Panel-Daten aufwendiger Befragungen kosten den Kunden von Marktforschungsinstituten jährlich fünf- und sechsstellige Beträge. Diesem teuren Datenmaterial wird man nicht gerecht, wenn man es nur mit Methoden auswerten wollte, die nicht viel mehr sind Fels die vier Grundrechnungsarten. Die Maschine kann viel mehr Merkmale und Dimensionen gleichzeitig überarbeiten, als der Mensch überschauen kann. Ein anderes Beispiel, diesmal aus der Unternehmensplanung: Wenn eine Millioneninvestition strittig ist, lohnt sich auch der Aufwand, dieses Projekt rechtzeitig mit einer Vielzahl unterschiedlicher Methoden zu analysieren. Wenn man dies zügig und unter Zugrundelegung unterschiedlichster Vorstellungen. der Unternehmensleitung über die Zukunftsentwicklung tun will, braucht man ein ganzes Arsenal von Methoden und eine Hilfe zum Interpretieren der Ergebnisse.

- Was macht nun der Anwender, wenn er für seine Firma eine Methodenbank als Ergänzung zur Datenbank realisieren will?

In Anbetracht des noch nicht von zufriedenstellenden Software-Angebotes halte ich es nicht für verkehrt, derzeit nichts zu überstürzen und zunächst, noch zwei oder drei Jahre die Entwicklung aufmerksam zu beobachten. Ich vermute, daß man in vielen Stellen Anstrengungen unternehmen wird, den relativen Rückstand der Methodenbank gegenüber der Datenbank aufzuholen.

- Sie glauben also, daß in absehbarer Zeit entsprechende Software-Tools Verfügung stehen werden?

Der Bedarf ist vorhanden. Anstrengungen, ihn zu befriedigen, werden vielerorts unternommen. Man darf also optimistisch sein.

Madas

Am Lehrstuhl für Schausteller, insbesondere Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Betriebs- und Wirtschaftsinformatik der Universität Erlangen-Nürnberg, arbeiten Peter Mertens, Wolfgang Neuwirth, Karl Schaller sowie Werner Schmitt in Zusammenarbeit mit einem Unternehmen der Markenartikel-Industrie und der Gesellschaft für Konsum-, Markt- und Absatzforschung (GfK) am Marktdatenbanksystem Madas. Ziel ist es, dem Produktmanager im Dialog jeweils, diejenige Methode, auf einer Methodenbank herauszufinden, die zu einem gegebenen Problem und zur Struktur der vorhandenen Daten passen. Die Methodenbank liefert ein Methodenangebot, hilft bei der Methodenauswahl, des weiteren bei der Interpretation der Ergebnisse und gibt im Dialog "Nachhilfeunterricht" bei der Erklärung von Begriffen.

Das Nürnberger System beinhaltet im Vergleich zu anderen Methodenbank-Konzepten, wie etwa Siemens' Methaplan (MEP), "zahlreiche Extras". Für die gewonnene erhöhte Leistungsfähigkeit und Benutzerfreundlichkeit mußte jedoch der Preis gezahlt werden, daß das Modell in seiner jetzigen Form stark auf Marktforschungsprobleme ausgerichtet und nicht von heute auf morgen auf andere Anwendungsbereiche übertragbar ist.

Professor Dr. Peter Mertens (38) ist Ordinarius für betriebliche Datenverarbeitung an der Universität Erlangen-Nürnberg.

Zu seinen zahlreichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen gehört vor allen das praxisorientierte Standardwerk "Industrielle Datenverarbeitung" (2 Bände, Verlag Dr. Th. Gabler, Wiesbaden), das moderne betriebswirtschaftliche Konzeptionen mit Beispielen der praktischen Realisierung von Systemen und Systembausteinen darstellt.

Nach, seiner Assistentenzeit an den Technischen Hochschulen Darmstadt und München und vor seiner Rückkehr zu Forschung und Lehre war Mertens drei Jahre Mitarbeiter sind zuletzt einer der Geschäftsführer der Orga Ratio AG, Unternehmensberatung für EDV.