Diskussion über ein zukunftsweisendes Fernmeldenetz:

Statt Value-Adding ein eigenständiges ISDN

01.07.1983

Bestehende Fernmeldenetze können nach Maßgabe ihrer Netzeigenschaften auch Fernmeldedienste abwickeln, für die sie ursprünglich nicht konzipiert wurden. Beispiele sind Telefax und Bildschirmtext. Den Vorgang der nachträglichen Zufügung von Diensten bezeichnet man mit "Value-Adding". Gleichermaßen könne aber auch die Netzeigenschaften verbessert werden. Auch dieser Prozeß wird in den USA als "Valueadding" verstanden. Dem "Value-Adding" sind aber - vor allem wirtschaftliche-Grenzen gesetzt, die unter den Anforderungen liegen, die an ein modernes und zeitgerechtes Fernmeldenetz gestellt werden müssen.

Als Alternative bietet sich die Konzipierung und der Aufbau eines weiteren, den Ansprüchen der Gegenwart und der überschaubaren Zukunft angemessen ausgestatteten Fernmeldenetzes an. Dieses neu zu schaffende Fernmeldenetz ist in seinen Grundzügen definierbar und technisch realisierbar. Unter den Kennern der Materie wird es als ISDN bezeichnet, seine Grundparameter sind international bereits festgeschrieben. Die Hersteller und Betreiber sind davon überzeugt, daß die Investitionen für das ISDN niedriger sein können als diejenigen, die in der Vergangenheit für die analogen Fernmeldenetze aufzuwenden waren. Es ist also die Möglichkeit gegeben, anstelle der Fortschreibung der Investitionen für ein analoges Fernmeldenetz mit dem Aufbau eines leistungsfähigen Nachrichtenübermittlungssystems kurzfristig zu beginnen.

Die Frage, ob die Realisierung eines zukunftsweisenden Fernmeldenetzes durch "Value-Adding" erreicht werden kann oder allein durch Aufbau eines weiteren Netzes sinnvoll möglich ist, läßt sich nicht generell beantworten. Vielmehr spielen die zu stellenden Anforderungen und ihre Abbildung auf die vorhandenen Netzkomponenten eine wichtige Rolle. Anzustreben ist jedenfalls, daß:

- ein zukunftsweisendes Fernmeldenetz über einen Zugang die Abwicklung unterschiedlicher Dienste erlaubt,

- die Dauer für den Verbindungsaufbau klein ist gegenüber der Dauer, die für den Nutzinformationsaustausch aufzuwenden ist.

Komponentenaustausch im Transportsystem

Schon diese Forderungen erzwingen einen weitgehenden Austausch aller Komponenten des Transportsystems. Weder die Vermittlungseinrichtungen noch die Übertragungsmittel der bestehenden Fernmeldenetze sind für diese Anforderungen geschaffen. Optimal werden die Forderungen durch eine digitale Nutzsignalübermittlung in Verbindung mit einer protokollgesteuerten Zeichengabe für den Verbindungsaufbau erreicht. Mittel und Zielsetzung sind insoweit in Expertenkreisen unumstritten. Umstritten allerdings ist der Weg, über den die Zielsetzung am besten erreicht werden kann. Sowohl der Weg über das "Value-Adding" als auch der Bildung eines Overlay-Netzes werden diskutiert.

Das Diktat der verfügbaren Wähltechnik

Die Verfechter des "Value-Adding" des vorhandenen Fernsprechnetzes als Weg zur Entwicklung eines zukunftsweisenden Fernmeldenetzes argumentieren, daß es sicherer sei, vom Vorhandenen auszugehen. Ein solches Vorgehen, nämlich das ISDN aus dem Fernsprechnetz zu entwickeln, führt aber dazu, daß die Netzstruktur des existierenden Fernsprechnetzes inhärenter Bestandteil für das zukünftige ISDN würde. Diese Struktur wurde vor nunmehr 30 Jahren durch das Diktat der damals verfügbaren Wählertechnik begründet und ist demgemäß streng hierarchisch gegliedert. Indirekt gesteuerte Vermittlungen können aber nicht nur eine einzelne Ziffer auswerten - dies war der Zwang, der zu der hierarchischen Struktur des vorhandenen Fernmeldenetzes führte -, sondern auch ganze Ziffernkombinationen verarbeiten, was zu einer nichthierarchischen Struktur des neuen Fernmeldenetzes führen könnte.

Allein dieser Aspekt rechtfertigt schon den Beginn des Aufbaus eines nach Netzstruktur, Zeichengabe und Übertragungsverfahren eigenständigen ISDN. Viel wichtiger sind aber eine Reihe weiterer Aspekte, die vor allem die gewerbliche Wirtschaft betreffen.

An erster StelIe steht die Möglichkeit des schnellen Verbindungsaufbaus bei Verbindungen, über die nichtsprachliche Nachrichtenformen ausgetauscht werden können. Hier muß das Verhältnis von Verbindungsdauer zu Verbindungsaufbauzeit in eine für den Anwender tragbare Relation gebracht werden. Voraussetzung hierfür ist eine schnelle sichere und vom Nutzpfad unabhängige Zeichengabe. Sie betrifft den Pfad zwischen Endstelleneinrichtung und Teilnehmervermittlung genauso wie die Pfade zwischen den Vermittlungen im Transportbereich des Fernmeldenetzes.

Evolution des ISDN durch "Value-adding" kann sinnvoll sein

Gerade im Transportbereich wird eine Zeichengabe dann besonders sicher und effektiv, wenn möglichst wenige Knoten in den Verbindungsweg eingeschaltet sind, das heißt, wenn wenige Netzebenen durchlaufen werden. Auch die Wegesuche im Transportsystem wird hierdurch vereinfacht und damit die Verbindungsaufbauzeit zusätzlich verkürzt. Die hohe Abhängigkeit vom Verhalten der Verbindungssenke wird durch den Einsatz von Voice-Mail, Textdiensten etc. zusätzlich nachhaltig verringert. All diese Effekte müssen bei der Neugestaltung der Fernmeldenetze berücksichtigt werden und beeinflussen die Netzstruktur in Richtung auf ein nicht hierarchisches Fernmeldenetz.

Soweit also bisher ein Fernmeldenetz ausschließlich auf der Basis von Vermittlungen mit Wählern strukturiert ist, sind nur wenige Vorleistungen für ein "Value-Adding" erbracht. In diesem Falle sollte die Errichtung des ISDN als weiteres eigenständiges Fernmeldenetz eingeleitet werden.

Sind dagegen regional schon weitgehend zentral gesteuerte Vermittlungen, digitale Verbindungswege zwischen den Vermittlungen und ein verdecktes Numerierungssystem vorhanden, so kann die Evolution des ISDN durch "Value-Adding" ein wirtschaftlich sinnvoller Entwicklungsprozeß sein. Derartige Verhältnisse sind zum Beispiel in den USA gegeben. Es darf aber selbst unter solch günstigen Prämissen nicht übersehen werden, daß die Evolution vorhandener Fernmeldenetze durch "Value-Adding" ein zeitlich langwieriger Prozeß ist, da die erhoffte Wirkung erst eintritt, wenn der größte Teil des Netzes - vor allem der gesamte leistungsvermittelte Bereich - bereits umgestellt ist.

Investitionen der Vergangenheit

Auch wirtschaftliche Argumente - wie beispielsweise der Hinweis auf die Mitbenutzungsmöglichkeiten des vorhandenen Fernsprechnetzes - sind nicht geeignet als Begründung für die Evolution des ISDN aus einem vorhandenen Fernmeldenetz. Gerade diese Argumentation sollte sinnvollerweise umgekehrt werden, denn durch konzentrierten Einsatz

elektronischer Vermittlungen im ISDN wird der Übergang aus dem ISDN in die vorhandenen Fernmeldenetze erleichtert und damit die langfristige Mitbenutzung des bestehenden Fernmeldenetzes gesichert, so daß die Investitionen der Vergangenheit nicht so schnell veralten.

Evolution als Strategie nicht empfehlenswert

Unter diesen Umständen muß es sich eine Fernmeldeverwaltung immer wieder sagen lassen, daß die Evolution des ISDN aus dem Fernsprechnetz nicht die empfehlenswerte Strategie für den Ausbau der Fernmeldeinfrastruktur ist. Die in aller Regel zu empfehlende Strategie ist vielmehr die eines Overlay-Netzes, insbesondere wenn, wie bei uns, die vorhandene Infrastruktur eine mittelfristige Phase des "value-addinga" nicht sinnvoll erlaubt. Unter Overlay-Netz sei in diesem Zusammenhang ein Fernmeldenetz mit ISDN-Eigenschaften verstanden, das zusätzlich zu den vorhandenen Fernmeldenetzen - also in Deutschland dem Fernsprech- und dem integrierten Datennetz - installiert wird und das zu diesen im Transportbereich Übergänge vorsieht.

Geht man davon aus, daß die Rechnerkapazität der Vermittlungen dieses ISDN-Netzes hinreichend ist, um zusätzliche Aufgaben wahrnehmen zu können, so liegt es nahe, diese Kapazitätsreserve in der Anfangsphase für eine spezielle Art der Teilnehmeranschaltung vorzusehen und mit wenigen Vermittlungen ein flächendeckendes Netz zu realisieren.

Da die für den ISDN-Betrieb ohnehin zwingende digitale Anschaltung auch die Dämpfungsproblematik des analogen zweidrähtigen Fernsprechnetzes nicht mehr kennt, könnten mithin die Teilnehmer eines ganzen Zentralamtsbereichs zunächst an eine einzige öffentliche Vermittlungsstelle angeschaltet werden. Die Verzonung könnte von dieser Vermittlung leicht mitbewältigt werden, so daß von Anfang an eine korrekte Gebührenverrechnung möglich ist. Da die Mehrzahl der Zugänge aus dem gewerblichen Bereich kommt, ist auch davon auszugehen, daß jeder Teilnehmer mit einem Leitungsbündel in den öffentlichen Teil des Transportbereichs eintritt, so daß auftretende lange Zuführungswege durch digitalen Multiplexbetrieb wirtschaftlich gestaltbar sind.

Klare Definition der Teilnehmerdienste

Fazit: Wenn - wie in der Bundesrepublik Deutschland - ein technologisch überaltetes Netzkonzept ohnehin der Modernisierung bedarf, dann ist dem Aufbau eines auf den Einsatz als diensteintegrierendes Fernmeldenetz konzipierten Fernmeldenetzes, also dem ISDN-Konzept unbedingt und ohne weitere Diskussion der Vorzug zu geben. Dabei darf nicht übersehen werden, daß das ISDN-Konzept nicht nur die Gestaltung des Transportsystems beinhaltet, sondern auch die klare Definition der Teilnehmerdienste, die im ISDN abgewickelt werden sollen und die mit ihrem Verkehrsaufkommen den größten Teil der Kosten zu finanzieren haben. Wenn dennoch auch auf der Transportebene weitere Dienstmöglichkeiten geschaffen werden sollen, so dienen sie vornehmlich der Abrundung des Dienstangebotes des Netzbetreibers und zur Vervollständigung der Kommunikationspalette der Netzbenutzer.

Prof. Dr. Karl Ludwig Plank ist Mitglied der Geschäftsleitung der Telefonbau und Normalzeit, Frankfurt.