Big Data und Automatisierung

Statt echter Digitalisierung lieber drei Cargo-Kulte

11.07.2016
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Dr. Winfried Felser ist Preisträger des Bundeswettbewerbs Multimedia von 1999 und seit 2000 Betreiber der Competence Site, einem Kompetenz-Netzwerk mit mehreren Tausend Experten aus Wissenschaft und Praxis zu den Themenbereich Management, IT und Technik.
Obwohl Mahner wie Thomas Sattelberger für unsere Zukunftsfähigkeit eine konsequente Digitale Transformaiton einfordern, bleiben wir hinter den Zielen zurück. Skepsis oder sogenannte Cargo-Kulte prägen noch zu sehr die Realität. Um Cargo-Kulte, die Simulation von echtem Wandel, geht es in diesem Beitrag. Drei der Cargo-Kulte des Digitalen und eine Alernative werden vorgestellt.

Die re:publica ohne die Kultfiguren Sascha Lobo und Professor Gunter Dueck wäre keine re:publica mit großer Strahlkraft, sondern nur ein Bloggertreffen. Beide haben der Krise der re:publica entgegengewirkt, indem sie für zentrale Botschaften sorgen. Lobo und die Bekassine war zum Beispiel augenöffnend für eine Community, deren Selbstwahrnehmung nicht ihrer realen Relevanz entspricht. Natürlich sind beide in ihren Vorträgen Vereinfacher und Reduktionisten, aber ist das nicht zwangsläufig in einem Format, das in der Kürze wirken soll?

Dieses Jahr klärte Dueck über Cargo-Kulte des Managements auf. Was aber sind Cargo-Kulte? Hier lassen sich mindestens drei Verständnispfade differenzieren. Die Beschreibung auf Wikipedia liest sich mehr schlecht als recht.

De facto gibt es nicht ein Verständnis von Cargo-Kult, sondern mindestens drei, zum Teil sehr kontroverse Verständnislinien. Dabei erwähnt der deutsche Wikipedia-Beitrag - anders als das englische Original - nicht den Vater des Begriffs, Norris Mervyn Bird, der den Begriff erstmalig publizierte, worauf der Begriff - laut englischer Wikipedia-Version - anschließend von Anthropologen übernommen wurde. Wir haben also die anthropologische Linie, die sich im wissenschaftlichen Kontext auf religiöse Bewegungen aus Melanesien bezieht, eine von Lindstrom und anderen als "Birdism" (Norris Meyer Bird) kritisierte missbräuchliche Verwendung des Begriffs Cargo-Kult, um vor allem Naivität und kulturelle Unterlegenheit aus Sicht der Kolonialisten zu brandmarken, und die Feynman-Linie, die von Feynman ausgehend wie bei Dueck generell sinnlose symbolhafte Handlungen mit Kult-Charakter als Cargo-Kulte beschreibt und den Begriff so quasi aus seinem ursprünglichen Kontext heraus verallgemeinert.

Warum aber Cargo?

Kompakter als Wikipedia, aber auch mit der Tendenz zum Birdism erklärt ein Video des History-Channels auf Youtube, wie aus dem Begriff Cargo = Frachtgut während des Zweiten Weltkriegs ein anthropologischer Begriff wurde. Als amerikanische Truppen in entfernten Gebieten im Pazifik ihre Cargo-Logistik organisierten, leiteten Ur-Einwohner danach daraus einen Kult ab und erhofften mit simulierten "Cargo-Handlungen" den gleichen Effekt wie zuvor zu erzielen, als amerikanische Frachtflugzeuge sie mit Nahrungsmitteln versorgten.

Genau dieses naive Hoffen auf reale Effekte, obwohl man die dafür wirklich notwendigen Aktivitäten nur simuliert oder nur in unzureichenden Ansätzen realisiert, zeigt Dueck auch für das Management auf und entlarvt auf sympathische Weise das Absurde unserer modernen Zeiten.

Ein Beispiel Duecks: Das Leuchtturm-Projekt. In der Krise ist der Leuchtturm der ideale Cargo-Kult, um einen Wandel vorzugeben und ihn zugleich in der Breite zu vermeiden. Statt die Mühe einer umfassenden Transformation zu wagen, schafft man oft nur ein Ventil, eine Pseudo-Aktivität, die beruhigt.

Cargo-Kultisches aus dem Management
Cargo-Kultisches aus dem Management
Foto: Gunter Dueck/Youtube

Drei Cargo-Kulte der Digitalen Transformation

Solche cargo-kultischen Handlungen verhindern auch bei der jetzt so wichtigen Digitalen Transformation den notwendigen gesamtheitlichen Wandel, weil man sich allgemeinen Cargo-Kulten anschließt anstatt sich wirklich radikal zu fragen, was für das eigene Unternehmen die Zukunftsfähigkeit sicherstellt, und dann entsprechend zu handeln. Man pilgert zu Digitalen Veranstaltungen oder digital gebrandmarkte Veranstaltungen oder ins Silicon Valley, man lässt sich Endzeit- oder Zukunftsszenarien aufzeigen und gründet dann intern einen Arbeitskreis.

Um nicht missverstanden zu werden: Jede dieser Maßnahmen kann als ein Baustein extrem hilfreich sein, aber nur dann, wenn sie nicht als digitale Tranquilizer und der Selbst- und Fremdtäuschung dienen, sondern am Ende tatsächlich in dem notwendigen Wandel und der notwendigen Konsequenz münden. Etwas genauer seien drei Kulte beispielhaft reflektiert:

CULT I: "Schnellboote" versus Fokus auf Gesamtorganisation

Der Duecksche Leuchtturm heißt bei der Digitalen Transformation internes oder externes Schnellboot oder Startup. Statt den eigenen Tanker wieder auf Fahrt zu bringen, schafft man eine kleine Insel, die nicht weiter wehtut und lebt seinen digitalen Cargo-Kult dort aus. Das sorgt am Ende im Worst Case dafür, dass das flotte Schnellboot überlebt, der Tanker aber untergeht, wenn der Transfer der Transformation nicht gelingt. Meffert/McKinsey kritisieren daher diesen besonders populären Cargo-Kult. Am Ende gibt es - keine Alternative dazu, den Tanker selbst zu transformieren, um so die eigenen Assets für die Zukunft zu sichern und digital zu hebeln. Schnellboote und eigene oder fremde Startups können dabei vor allem wichtige Beschleuniger sein! Als Ersatzhandlungen sind sie hingegen eher schädlich. Manchmal kann - wie von Thomas Sattelberger im Fall von VW - die Zerschlagung des Tankers und seine Transformation in eine Plattform vieler Schnellboote eine Alternative sein. Dann sind Schnellboote aber nicht Externalisierung eigener Untätigkeit, sondern wirklich essenzielle Grundlogik für die notwendige Gesamttransformation.

CULT II "Digitaler Zuckerguss" versus Wertschöpfungstransformation

Aber selbst wenn nicht die Flucht in die Nebenbaustelle erfolgt, sondern tatsächlich die eigene Organisation im Fokus steht, bieten sich kreative Potenziale für Cargo-Kulte. Statt die Wertschöpfung zum Beispiel im Marketing und Vertrieb wirklich fundamental neu zu organisieren und sie auf die zukünftige kunden- und service-orientierte, kollaborative Netzwerk- und Plattform-Ökonomie auszurichten, kann man mit ein bisschen Facebook-Engagement und Social-Listening- und Big-Data-Projekten für einen beruhigenden Zuckerguss sorgen, der Transformation nur oberflächlich simuliert. Hauptsache man setzt auf alle Buzzwords Den Untergang wird das nicht verhindern, aber man fühlt sich gut. Der Autor des Beitrags hat die Zuckerguss-Logik schon früher heftig kritisiert. Wir müssen also weg von der "Technologie" hin zur neuen Logik, weg vom Zuckerguss hin zur echten Transformation in Richtung neuer Wertlogik.

Sattelburger zum deutschen Dilemma
Sattelburger zum deutschen Dilemma
Foto: Thomas Sattelberger

CULT III: "Effizienzfetisch" versus neue Mehrwerte

Zuletzt gibt es natürlich die "Macher", die tatsächlich die eigene Wertschöpfung fundamental neu organisieren. Leider ist die Deutschland 3.0 AG so sozialisiert, dass "Machern" vor allem eines einfällt: Effizienz und Automatisierung! Mahner wie Dr. Detlef Bleise, ehemals Chef von RWE Consulting, kritisieren besonders engagiert diesen Irrweg und fordern stattdessen den Fokus auf Mehrwerte 4.0.

Natürlich bringt die Reduktion von Head Counts eine direkte beziehungsweise schnelle Kostenersparnis und in einer von analysten- und medien-getriebenen Welt ist das ein Ventil, das Vorstände über ihre Zeit rettet. Eine wirkliche nachhaltige Alternative stellt die Effizienz-Strategie in vielen Fällen aber nicht dar. Sie simuliert Zukunft und optimiert in Wirklichkeit nur linear die Vergangenheit.

Eingequetscht im Sattelburger (siehe Bild oben), also eingequetscht zwischen den kalifornischen Gründern und der Effizienznation China, werden wir so aber scheitern. Effizienz kann China bald viel besser.

Die Alternative: eine dreifache "Skalierung"

Was ist die Alternative? Wir müssen - im Sinne Churchills "Blut, Schweiß und Tränen"-Rede - in allen Dimensionen nicht nur cargo-kultische Pseudoschritte gehen, sondern eine echte Transformation realisieren wie es das folgende Bild darstellt.

Drei Dimensionen Transformation
Drei Dimensionen Transformation
Foto: Winfried Felser

Wie aber gelingt dieser Pfad, vor allem das Bewältigen der damit verbundenen enormen Komplexität? Hier haben Beratungen verschiedene Modelle zum Vorgehen und zur Priorisierung vorgeschlagen. Detecon zum Beispiel nutzt den digitalen Navigator, um die Komplexität der Transformation zu bewältigen.

Meffert und McKinsey schlagen im Rahmen von Digital@Scale neun Schritte vor, um den Wandel zu meistern. Die Basis bildet die Transformation in ein technologie-basiertes Unternehmen (s. Schritt 1). Die Komplexität wird dann vor allem kundenzentriert (Schritt 2) bewältigt, indem nacheinander die einzelnen Kontakt- beziehungsweise Berührungspunkte mit dem Kunden und die damit verbundenen Kundenreisen als Ausgangspunkt gewählt werden (s. u.). Cross-funktionale Teams bilden ähnlich wie bei Bleises Center of Integration die Transformationsbasis (Schritt 3). Mehr dazu hier und hier.

Transformation
Transformation
Foto: McKinsey Digital

Was Mefferts Botschaft Digital @Scale auf jeden Fall deutlich macht: Digitale Cargo-Kulte werden uns nicht helfen. Wirkliches Nachdenken und Anstrengen wie auch eine konsequente Skalierung der Digitalisierung sind alternativlos. Je früher wir das erkennen, desto besser.