Das neue Entwicklungswerkzeug Visual Studio .NET ist der Türöffner für die neue Windows-Architektur

Stapellauf der Microsoft-Web-Services

01.03.2002
Der Nachfolger von Visual Studio 6.0 heißt Visual Studio .NET. Doch handelt es sich weniger um ein Produkt-Update als vielmehr um ein Schlüsselprodukt, mit dem Microsoft die Windows-Welt in das proklamierte Web-Service-Zeitalter führen will. Von Peter Monadjemi*

Mehr als vier Jahre hat die Entwicklung der neuen IDE (Integrated Development Environment) gedauert, die die Grundlage für die neue Strategie des Softwaregiganten bildet. Gut eineinhalb Jahre nach der ersten öffentlichen Betatestversion wurde Visual Studio .NET (VS .NET) am 13. Februar offiziell freigegeben, die deutschsprachige Version soll ab Anfang April erhältlich sein. Anders als die Vorgängerversion ist Visual Studio .NET kein reines "Marketing-Bundle" mehr, das mehrere unabhängige Entwicklungswerkzeuge in einer Box vereint. VS .NET ist vielmehr eine Anwendung aus einem Guss, die die Entwicklung in den Programmiersprachen C++, C#, Visual Basic.NET und auch in J#, Microsofts gegenüber J++ geringfügig erweiterter Java-Variante, ermöglicht. Damit steht nun erstmals eine gemeinsame IDE für sämtliche Microsoft-Programmiersprachen zur Verfügung.

Visual Studio .NET wird in drei Varianten angeboten: Professional, Enterprise Developer und Enterprise Architect. Die drei Varianten unterscheiden sich wie bei der Vorgängerversion nur durch zusätzliche Tools wie etwa Visio zum Erstellen von UML-Diagrammen (UML = Unified Modeling Language) oder der kompletten Microsoft-Server-Palette (siehe Tabelle). Gemeinsam sind den Paketen hingegen verschiedene integrierte Tools wie der Server-Explorer, der unter anderem die Inhalte von SQL-Server-Datenbanken oder alle Systemdienste auflistet, oder auch der XML-Designer zum Erstellen von XML-Dokumenten mit den dazugehörigen XSD-Schemadateien. Auch die Erstellung von ASP .NET-Anwendungen, Programmen für Pocket-PCs und mobile Geräte sowie der unverzichtbaren Web-Services ist mit allen drei Varianten möglich.

Microsoft stand bei der Entwicklung von VS .NET vor dem Problem, für sehr unterschiedlich orientierte Benutzer, deren Bandbreite von erfahrenen C++-Profis bis hin zu Gelegenheitsprogrammierern reicht, die hauptsächlich in Visual Basic programmieren, ein geeignetes Werkzeug schaffen zu müssen. Während C++-Programmierer im Allgemeinen hohe Ansprüche an die Konfigurierbarkeit ihres Editors stellen, haben es Visual-Basic-Programmierer lieber etwas einfacher und überschaubarer. Diese Aufgabe wurde gut gelöst, denn das IDE wird professionellen Ansprüchen gerecht, ohne dabei weniger erfahrene Programmierer vor Schwierigkeiten zu stellen. Im Mittelpunkt steht dabei ein Benutzerprofil, das nach dem ersten Start durch das Beantworten einer Reihe von Fragen erstellt wird und sich im Rahmen der Startseite jederzeit wieder ändern lässt. Visual Basic-Programmierer können sich auf diese Weise beispielsweise die vertrauten Tastaturkürzel von Visual Basic 6.0 aussuchen, während C++-Programmierer nicht auf ihre gewohnte Fensteranordnung verzichten müssen.

Trotz zahlreicher technischer Finessen gibt es aber auch ungewohnte Einschränkungen. Einer der wichtigsten Vorzüge von Visual Basic 6.0 - die Möglichkeit, ein Programm anzuhalten, Änderungen vorzunehmen und es anschließend fortzusetzen - konnte aus Zeitgründen, so Microsoft, nicht mehr eingebaut werden und soll in der nächsten Version folgen. Ebenfalls gewöhnungsbedürftig ist das Direktfenster: Es liefert zwar eine ausgefeilte Steuerung der kompletten IDE über eine Kommandosprache, bietet aber kein Intellisense, das dem Entwickler per Dropdown-Box eine Menge Tipparbeit abnimmt. Zudem steht es nur während einer Programmunterbrechung zur Verfügung.

Der Editor hingegen ist sehr fortschrittlich. Unter anderem rückt er Befehlszeilen abhängig von der aktuellen Sprache intelligent ein, blendet ganze Bereiche (Regionen genannt) auf Wunsch ein oder aus und erhöht damit die Übersichtlichkeit enorm. Sehr praktisch ist auch die Toolbox, die nicht nur Steuerelemente, sondern auch Codesnippets aufnimmt. Häufig benötigte Codesequenzen stehen jederzeit auf Abruf bereit (von Spöttern wird dies auch als die einzige Form der Wiederverwendbarkeit bezeichnet, die jemals funktioniert hat).

Die Hilfe wurde sehr effektiv integriert: Sie wird nicht in einem separaten Fenster, sondern in einem weiteren Register des Editor-Fensters eingeblendet. Vorteilhaft an der individuellen Startseite ist, dass sie nicht nur einen Zugriff auf die zuletzt bearbeiteten Projekte erlaubt, sondern unter anderem (eine Internet-Verbindung natürlich vorausgesetzt) News aus der Community anzeigt. Ebenso ermöglicht sie den direkten Zugriff auf Newsgroups, präsentiert aktuelle Downloads, Service-Releases und Updates (die gleich heruntergeladen und installiert werden können) oder listet Provider auf, die ASP .NET-Anwendungen hosten. Selbstverständlich lässt sich auch die Knowledgebase des Microsoft Developer Network (MSDN) direkt aus der IDE heraus durchsuchen. Visual Studio .NET kann nicht nur über Makros erweitert werden, es bietet sogar einen Makrorekorder, der die Aktivitäten des Anwenders wahlweise in Visual Basic .NET- oder C#-Code aufzeichnet.

Ein Schwerpunkt von VS .NET liegt natürlich auf der Entwicklung von Web-Anwendungen und den viel zitierten Web-Services. Anstelle eines Nachfolgers für Visual Interdev 6.0, das Microsoft-Entwicklungswerkzeug für ASP-Anwendungen (ASP = Active Server Pages), wurde nun die Möglichkeit zur Entwicklung von ASP .NET-Web-Anwendungen direkt in die IDE integriert. Ein Entwickler wählt zuerst die Sprache (C# oder Visual Basic .NET, die nur in Details differieren) und anschließend als Projekttyp entweder Web-Anwendung oder Web-Service aus. Anschließend tritt ein Designer in Aktion, der die Anordnung der Web-Steuerelemente auf einer Aspx-Seite ermöglicht. Ein Doppelklick auf ein Steuerelement schaltet auf das Codefenster um, in dem ein Web-Formular mit Visual Basic .NET- oder C#-Code erweitert werden kann. Damit unterscheidet sich ASP .NET deutlich von ASP, bei dem die Programmierung nur mit schlichten Scriptsprachen und deren Einbettung in HTML-Code möglich war.

Web- und Windows-AnwendungenEin Highlight ist sicher die einfache Gestaltung von Datenanbindungen. Soll ein Web-Datagrid etwa den Inhalt einer Datenbanktabelle anzeigen, kann man hier ganz auf Programmierung verzichten, indem die benötigten Datenkomponenten aus der Toolbox in den Designer gezogen werden. Ein Assistent fragt daraufhin die Verbindungsdaten ab und trägt diese beim Datagrid ein. Für Visual-Basic-Programmierer wird die Entwicklung von Web-Anwendungen damit genauso einfach wie die von Windows-Anwendungen, zumal auch ein integrierter Debugger zur Verfügung steht.

Die Installation von Visual Studio .NET ist zwar sehr komfortabel, aber auch sehr zeitaufwändig. Es kann mehrere Stunden in Anspruch nehmen, bis die gut 1 GB an Software auf die Festplatte geschaufelt werden. Den Löwenanteil nehmen dabei die sehr umfangreiche Dokumentation und die zahlreichen Beispiele ein. Microsoft setzt Windows NT 4 (SP4), Windows 2000 oder XP voraus, Visual Studio .NET läuft also nicht unter Windows 9x/ME.

Fazit: Visual Studio .NET ist eine "State of the Art"-Entwicklungsumgebung, die die meisten Programmierer nach einer gewissen Gewöhnungsphase vermutlich nicht mehr eintauschen wollen. Auch wenn es für die Anwendungsentwicklung mittlerweile eine reichhaltige Auswahl an Alternativen im Shareware-, Freeware- und Open-Source-Bereich gibt, so sprechen doch der komfortable Editor und die zahlreichen Assistenten insbesondere für die Datenanbindung sowie die Programmierung von ASP .NET-Anwendungen und Web-Services für das Produkt aus Redmond. (wm)

*Peter Monadjemi ist freier Journalist und Autor zahlreicher Bücher über Visual Basic und Windows. Er lebt in Starnberg bei München.

Produktvarianten von Visual Studio .NETVariante / Besonderheiten / Nettopreis in Euro (Update)

Professional / Microsoft SQL Server 2000 Desktop Engine / 1188,79 (593,10)

Enterprise Developer / Windows 2000 Advanced Server, SQL Server 2000, Exchange Server 2000, Commerce Server und Host Integration Server, Visual Studio Analyzer und Visual Source Safe 6.0c. / 1973,28 (1188,79)

Enterprise Architect / Microsoft Visio zum Modellieren von UML-Diagrammen, Biztalk Server und Enterprise-Projektvorlagen. / 2749,14 (2007,76)

Visual Basic .NET Standard / Enthält die Visual Studio .NET-IDE / 111,21 (-)