Standard-Software muß von unabhängiger Seite ein Gütesiegel erhalten: Software-Engineering - For Eggheads Only?

30.04.1981

Software-Engineering tut not - denn wie sollte sonst die vielzitierte Software-Misere auch nur annähernd in den Griff zu bekommen sein? Software-Engineering - wozu? Von wem? Für wen?

Das "Wozu" braucht nicht erörtert zu werden, denn die Ziele sind allen Beteiligten klar:

1. Steigerung der Produktivität

2. Verbesserung der Software-Qualität

3. Reduzierung des Wartungsaufwandes.

Die Fragen "von wem?" und "für wen?" deuten darauf hin, daß Konstrukteure und Nutznießer nicht unbedingt dem gleichen Betrieb angehören. Auf der einen Seite also die Software-lngenieure als Konstrukteure oder auch nur gute Ratgeber, auf der anderen Seite die direkten und indirekten Methoden- und Werkzeugkäufer?

In den Beziehungen "Konstrukteur - Nutznießer" gibt es verschiedene Kombinationen:

1. Konstrukteur und Nutznießer sind nicht identisch. In diese Kategorie fallen die Entwicklung, der Vertrieb und die Wartung von Standard-Software. Der Käufer wird indirekt auch Nutznießer softwaretechnologischer Methoden und eingesetzter Werkzeuge,

a) sofern sich die produktivere Software-Erstellung im Kauf- oder

Mietpreis niederschlägt,

b) sofern sich in der Betriebsphase aufgrund erhöhter Wartungsfreundlichkeit niedrigere Folgekosten ergeben.

Folgekosten-Risiko

Der Nutznießer braucht kaum etwas oder nicht viel von den bei der Entwicklung eingesetzten softwaretechnologischen Methoden und Werkzeugen zu verstehen, solange es ihm die Qualität des Produktes und der Dokumentation gestattet, eine begrenzte Software-Wartung eventuell selbst durchzuführen.

Diese hier angesprochene Kombination wirkt mithin im Sinne der Zielsetzungen, sofern - und hier liegt bereits eine bedeutsame Einschränkung - der Konstrukteur den Stand der Software-Technologie beherrscht und anwendet. Tut er dies nicht, ist dann der potentielle Nutznießer in der Lage, die sich ergebende mindere Software-Qualität und die daraus wiederum resultierenden Folgekosten zu erkennen, wenn das Programm ansonsten anwendungstechnisch anfangs das tut, was es soll? Ist der Nutznießer beispielsweise ein mittelständisches Unternehmen, dann wohl kaum; denn es besitzt selten oder gar nicht das Know-how erfahrener Software-Ingenieure.

Was wäre zu tun? Angebotene Standard-Software muß von unabhängiger Seite ein Gütesiegel erhalten. Die mittelständische Wirtschaft braucht als Endabnehmer der DV-Systeme auch einen "Verbraucherschutz", mit anderen Worten: Die Frage der Gründung eines neutralen Instituts "Stiftung Software-Test" muß erneut ernsthaft diskutiert und geprüft werden (siehe auch CW Nr. 45/ 79)

2. Konstrukteur und Nutznießer sind identisch.

Hierbei ist erneut zu differenzieren: 2.1 Es handelt sich um industrielle, professionelle Software-Hersteller und -Anwender, die den Stand der Software-Technik kennen, den teilweise stark intellektualisierten Darstellungen der Literatur und Kongresse folgen und diese dann auch noch in die tägliche Software-Praxis umsetzen können. Wer außerhalb dieser Gruppe und der fachspezifischen Hochschulen und Institute hat hinreichende Kenntnisse über die vielen vorgestellten und am Markt befindlichen Methoden und Werkzeuge der Software-Entwicklung?

Intellektueller Profi

Sie alle wenden sich, schon rein sprachlich, fast nur an den intellektuellen Software-Profi. In dieser Zielgruppe können und werden die genannten Zielsetzungen des Software-Engineering bei konsequenter Anwendung der Methoden und Werkzeuge am ehesten erreicht. So wäre etwa die Entwicklung von komplexen Betriebssystemen mit ihren vielen Versionen und "Releases" ohne entsprechende Methoden und Werkzeuge heute nicht mehr handhabbar.

2.2 Es handelt sich um Anwender in Klein- und Mittelbetrieben.

Quantitativ rücken diese Nutznießer des Software-Engineering immer stärker in den Vordergrund. Außerhalb operativer Normalanwendungen lassen sich die Aufgaben dieser Betriebe künftig nur schwerlich mit gelieferter Standard-Software abdecken. Für die Eigenentwicklung von Software müssen auch dieser Zielgruppe mit wenig erfahrenen DV-Kräften und DV-unerfahrenen Benutzern wichtige softwaretechnologische Methoden und Werkzeuge erschlossen werden, ohne daß aber zuvor ein ganzes oder halbes Informatik-Studium zu absolvieren ist.

Gute Ansätze in Richtung auf computergestützte Entwicklungssysteme für DV-unerfahrene Benutzer sind zwar vorhanden (so etwa IPE von IBM und Opal von I.O.C.S.), aber sie setzen entweder erst unmittelbar vor der Programmierung auf oder sind sprachlich und inhaltlich nicht genügend auf diese pragmatisch orientierte Zielgruppe ausgerichtet.

Appell an die Verantwortlichen

Die Frage in der Artikel-Überschrift kann somit getrost mit "ja" beantwortet werden, das heißt, der von den softwaretechnologischen Methoden wnd Werkzeugen ausgehende Anspruch ist für diese Zielgruppe - um im Jargon zu bleiben - zu "sophisticated".

Da aber gerade diese Gruppe in steigendem Maße auf flexible, anpassungsfähige und wartungsfreundliche Software angewiesen ist, müssen die Methoden und Werkzeuge des SE endlich auch diesen Betrieben in stärkerem Umfang in einer für sie akzeptablen Form zur Verfügung gestellt werden.

Das geht sicher nicht von heute auf morgen. Für die nachstehendera Maßnahmen und Aktivitäten sind aber von den Verantwortlichen die Weichen in diese Richtung zu stellen:

1. Bildungspolitisch:

* Abbau der Technologiefeindlichkeit, auch und vor allem in der Lehrerausbildung an den Hochschulen und bei den Lehrkräften an den allgemeinbildenden Schulen;

* Aufnahme eines Faches "Grundlagen der Informatik" an die allgemeinbildenden, höheren Schulen und dessen interdisziplinäre Fächereinbettung.

2. Forschungs- und verbandspolitisch:

* Unterstützung jener Forschungs- und Entwicklungsvorhaben, die sich speziell der Entwicklung pragmatischer Methoden und Werkzeuge für Klein- und Mittelbetriebe widmen;

* Unterstützung der Schaffung eines neutralen Instituts "Stiftung. SaftwareTest", um über eine auf freiwilliger Basis durchzuführende Qualitätsprüfung für Standard-Software den DV-unerfahrenen Nutznießern Entscheidungshilfen zu geben;

* PR-Aufklärungsarbeit der DV-Ins... der zur Verdeutlichung der Notwendigkeit, daß die wachsende Belastung unserer Gesellschaft durch Kosten für die Deckung elementarer Bedürfnisse nur mit verbesserten technischen Systemen zu bewältigen ist. (Siehe CW Nr. 14/81- Orwell-Jünger halten "DV - Nein danke" -Buttons parat.)

3.Betriebspolitisch:

Es sind softwaretechnologische Methoden und Werkzeuge für den Einsatz in der mittelständischen Wirtschaft (weiter-) zu entwickeln, die

* die vorauszusetzende DV-Ausbildung aus Realitätsgründen auf ein Minimum beschränken und statt dessen einen entwicklungsbegleitenden Lernprozeß im Sinne eines ,,trial-and-error" unterstützen,

* die in den Betrieben dieser Zielgruppe nicht nur wirtschaftlich einsetzbar sind, sondern durch Überwindung intellektueller Informatik-Sprachbarrieren auch zu einer besseren Akzeptanz und Verständlichkeit von computergestützten Systemen, Methoden und Werkzeugen bei DV-unerfahrenen Benutzern führen,

* auch durch Fachkräfte der Benutzerabteilungen aufgrund einer nach Benutzerqualifikation abgestuften, dynamisch anpassungsfähigen Bediener- und Dokumentationsführung einfach zu handhaben sind.

Prof. Dr. Heinz Zemanek sagte auf dem Wirtschaftsinformatik-Symposium der IBM im Oktober 1978 in Bad Neuenahr unter anderem: "... dann muß man sich schon heute Gedanken darüber machen, ob wir nicht an manchen Stellen für Superinstitutionen optimisieren und damit das private Individuum in eine Welt von Fakten, Regeln und Relationen treiben, der es in naher Zukunft nicht mehr gewachsen ist." Diese Aussage sollte uns DV-Leute nicht nur nachdenklich stimmen, sondern zum Handeln auffordern: Methoden und Werkzeuge für den Computereinsatz und -betrieb nicht nur für Intellektuelle!

*Professor Rolf Katzsch ist Dozent für Angewandte Datenverarbeitung im Fachbereich Wirtschaftsinformatik der Fachhochschule Furtwangen.