Standard oder individuell: Jedem sein passendes DV-System

15.12.1995

Michael Goldschmidt, Projekt-Manager, Hoff Industrie Rationalisierung GmbH, Wiesbaden

Dass es bei Rechnungswesen- und Personalsystemen nicht sehr viele individuelle Anforderungen und Auspraegungen zu erfuellen gibt, ist auch dem hartgesottensten Individualsoftware-Anwender mittlerweile klargeworden. Anders verhaelt es sich bei den Anwendungen, die die logistischen Prozesse in den Unternehmen unterstuetzen sollen. Hier befinden wir uns in der Wertschoepfungskette, wo letztendlich ueber Kosten, Gewinn oder Verlust entschieden wird. Doch wer will schon ueber Verlust entscheiden?

Waehrend die Prozesse der Materialwirtschaft sich ohne tiefgehende Analysen mit Standardsoftware bewaeltigen lassen, ist die Evaluation in den Bereichen Vertrieb und Produktion eine analytische Herausforderung, die sehr intensiv, moeglichst in Form eines Projektes, angegangen werden will.

Die Art und Weise des Vertriebs und der Produktion machen die Individualitaet eines Unternehmens aus, begruenden seine Alleinstellungsmerkmale, mit denen es sich vom Wettbewerb unterscheidet und seinen Unternehmenserfolg auf- und ausbaut. Die Verwendung von Standardsoftware in diesem Bereich waere geradezu verwegen, wenn nicht einige entscheidende Merkmale diese Wahl doch sinnvoll machten.

Eine Software zu nutzen, weil alle es tun, ist vielleicht eine bei der Unternehmensfuehrung einfacher durchzusetzende Form der Erneuerung veralteter Softwaresysteme. Aber kein Softwarehaus legt besonderen Wert darauf, seine Programme unbedingt einzusetzen, wenn dabei Projekte entstehen, die teilweise noch waehrend ihrer Laufzeit eingestellt werden, oder bei denen der Kunde spaetestens im Produktivbetrieb ploetzlich bemerkt, dass die Funktionalitaet nicht zum eigenen Geschaeft passt. Misslich ist es, wenn die Anwender ihre Arbeit nach Einfuehrung der neuen Software nicht mehr wiedererkennen oder das Unternehmen sich der Software nicht so anpassen kann, dass Modifikationen vermeidbar sind.

Ein Garant fuer den erfolgreichen Einsatz der gewaehlten Software ist eine qualitaetssichernde Projektarbeit. Auch sie kann jedoch nicht eine falsche Software-Evaluation oder DV-Strategie verdecken.

Die groessten Chancen hat die Standardsoftware, die am flexibelsten einzustellen (customizen) ist und den breitesten Funktionsrahmen bietet. Das geht allerdings zu Lasten der Beherrschbarkeit. Irgend jemand im Unternehmen (die Fachabteilung?) muss wissen, welche Funktionen zur Zeit wie verwendet werden und welche die Software darueber hinaus bietet. Mit einem ganzheitlichen Softwarepaket lassen sich jedenfalls laestige Probleme mit Schnittstellen zum Rechnungswesen und zu den Personalsystemen vermeiden.

Standardsysteme sind in der Regel auch offen gegenueber anderer Software. Zusaetzlich stehen zum Teil maechtige Entwicklungswerkzeuge bereit, damit der Kunde seine individuellen Anforderungen so dazuprogrammieren kann, dass er von den Vorteilen eines Standardpaketes, gepaart mit denen von individuellen Loesungen, profitiert. Das kann jedoch sehr teuer werden.

Das komplexe Ziel, jedem sein passendes System bereitzustellen, laesst sich also auf verschiedenen Wegen verfolgen:

- ausschliessliche Nutzung von Standardsoftware,

- Nutzung einer fuehrenden Standardsoftware unter Ankoppelung von anderen Standardsystemen,

- Nutzung einer fuehrenden Standardsoftware und Entwicklung von individueller Funktionalitaet in diesem System,

- Nutzung einer fuehrenden Standardsoftware und Entwicklung und Ankoppelung von individueller Funktionalitaet mit einem anderen System sowie

- komplette Entwicklung der eigenen Software.

Die Frage, welcher Strategie ein Unternehmen folgen will, sollte Thema eines Projektes sein, das die Evaluation auf Basis der strategischen Unternehmensziele vorantreibt. Im Vordergrund muessen neben Wirtschaftlichkeit und Rentabilitaet auch die nicht monetaeren Aspekte wie zum Beispiel Anwenderakzeptanz, Zukunftsorientierung und Grad der Anforderungsabdeckung stehen.

Eine Entscheidung auf Basis von rein geldlichen Argumenten kann insofern nicht sinnvoll sein, wie die preiswertere Loesung weniger Akzeptanz beim Anwender hat und sich die erbrachte Leistung mit dem neuen System verringert. Hier deutet sich schon an, dass der Entscheidungsprozess nicht allein von der DV getroffen werden kann, sondern der Anwender bereits zu diesem fruehen Zeitpunkt einbezogen werden muss.

Die Frage "Make or buy oder make and buy?" kann nicht global beantwortet werden. Diese Entscheidung muss jeder Anwender, gegebenenfalls mit Unterstuetzung externer Experten, entsprechend den eigenen Anforderungen selbst treffen.