Bonn nutzt Postreform zur Verschärfung der Abhörmaßnahmen:

Staatsschützer zapfen Mehrwertdienste an

02.06.1989

MÜNCHEN - Orwell läßt grüßen: Unter dem Deckmäntelchen der Postreform hat die Regierung ihren Staatsschützern die Arbeit erleichtert. Sie dürfen jetzt nicht mehr nur Briefe öffnen und Gespräche abhören, sondern auch bei Diensten wie Btx und Telefax nach Daten schnüffeln. Außerdem sind neben der Post künftig auch die privaten Anbieter von Mehrwertdiensten verpflichtet, den Sicherheitsbeamten Schützenhilfe zu leisten.

Einen "Blankoscheck für staatliche Eingriffe" nannte der Bremer Senator Volker Kröning die jüngst verabschiedete Neuauflage des Notstandsparagraphen G10. Danach haben staatliche Sicherheitsbehörden wie der Bundesnachrichtendienst oder der Verfassungsschutz die Befugnis, bei begründetem Verdacht das Post- und Fermneldegeheimnis aufzuheben. Bislang mußte aber nur die Post den Sicherheitsbeamten ihre Pforten öffnen. Neuerdings ist aber auch "jeder andere Betreiber von Fernmeldeanlagen, die für den öffentlichen Verkehr bestimmt sind", verpflichtet, dem Verfassungsschutz in bezug auf Kundendaten Rede und Antwort zu stehen.

Aber damit noch nicht genug: Neben dieser Ausweitung des G10-Gesetzes auf private Unternehmer hat der Gesetzgeber die Formulierung "Aufnahme des Fernmeldeverkehrs auf Tonträger" durch die Worte "Aufzeichnen des Fernmeldeverkehrs" ersetzt. Im Klartext sind den Sicherheitsbehörden nun in der Auswertung von Nutzungsdaten keine Grenzen mehr gesetzt: Neben dem gewöhnlichen Telefonverkehr stehen ihnen zum Anzapfen bei Btx angefangen über Telefax, Telex, Datex-L und dem Traumprojekt ISDN sämtliche Kanäle der Telekommunikation offen. "Das haben sich die Parlamentarier, die 1968 den Artikel 10 des Grundgesetzes geändert haben, nicht träumen lassen, und auch das Bundesverfassungsgericht hätte 1970 wohl anders entschieden, wenn es die Ausmaße der neuen Überwachungsmöglichkeiten nur erahnt hätte, urteilte der Bremer Senator in der Bundesratsdebatte zu diesem Änderungsentwurf. Kröning stand mit seinen Bedenken weitgehend allein auf parlamentarischer Flur.

Nur die Länder Rheinland-Pfalz, Niedersachsen und Hessen hatten einen Antrag auf Überprüfung der Neuregelung des "Gesetzes zur Beschränkung des Post und Fernmeldegeheimnisses" gestellt. Das Reformwerk sollte jedoch durch diesen Protest offensichtlich nicht gefährdet werden: "Angesichts der Eilbedürftigkeit und der Bedeutung der Poststrukturreform sieht der Bundesrat davon ab, den Vermittlungsausschuß anzurufen, zumal offenbar derzeit noch keine Möglichkeit besteht, insbesondere Btx und Telefax zu überwachen", formulierte der Initiator des Drei-Länder-Antrags, der Justizminister von Rheinland-Pfalz, Peter Ceasar. Und so gab der Bundesrat Mitte Mai seine Zustimmung zu dem "informationsrechtlichen Ermächtigungsgesetz" (Kröning).

Der Form halber äußerten die Abgeordneten Kritik am Schnellverfahren, mit dem die G10-Änderungen im Rahmen der Postreform über die Bühne gebracht worden waren. Einen gewissen Überraschungseffekt" räumte selbst Günter Wurster, Referatsleiter für Innere Sicherheit des Bundesinnenministeriums, ein. Schon im Bundestag war eine umfassende Debatte zu den Änderungen von den Antragstellern CDU/CSU und FDP vermieden worden. Die Änderungen des G10-Paragraphen sei erst eine Woche vor der dritten Lesung zum Poststrukturgesetz eingereicht worden, so Jochen Rieß von der Universität Bremen. "Die Regierungsparteien wollten das brisante Thema nicht zum Gegenstand öffentlicher Diskussion machen", vermutet Rieß.

Die Anregung zur Verschärfung der Abhörmaßnahmen kam laut Wurster aus dem Innenministerium. Nach der Devise "gleiches Recht für alle" sollten künftig neben der Post auch private Anbieter den Verfassungsschützern zur Hand gehen. "Sonst wird durch die privaten Anbieter ein Bereich geschaffen, in dem Terroristen und Schwerverbrecher nicht mehr überwacht werden können," befürchtet CDU-Politiker Wurster. Alle Abhörmaßnahmen würden überdies von der parlamentarischen Kontrollkommission überwacht, in dem "nicht nur ein paar Hardliner von der Regierung sitzen, sondern auch Vertreter der Opposition".

Nach seinen Worten erhöhe sich durch die neue Regelung zwar die Anzahl der Ansprechpersonen, aber nicht unbedingt die Zahl der Abhörmaßnahmen. Genau das Gegenteil befürchtet Roland Appel, Datenschutzbeauftragter bei der Grünen-Fraktion in Bonn: "Dem Staat stehen nunmehr ungeahnte Abhörmöglichkeiten mit allen technischen Finessen offen." Pro Jahr seien nach Schätzungen von Fachleuten etwa 900 bis 1000 Abhörmaßnahmen im Auftrag des Bundesamtes für Verfassungsschutz durchgeführt worden. Jetzt werde die Anzahl der abgehörten Personen aller Voraussicht nach ansteigen.

Opposition: Keine Klage beim Verfassungsgericht

Trotz dieser Prognosen hielten sich die Oppositionsparteien mit Protesten gegen die Grundgesetzänderung zurück. Von einer Klage beim Verfassungsgericht wollten weder die SPD noch die Grünen etwas wissen. "Man darf Karlsruhe nicht als Ersatzinstrument benutzen, nur weil man politisch unterlegen ist", verlautete es aus SPD-Kreisen. In das gleiche Horn stießen auch die Grünen: "Politik darf nicht durch Verfassungsrecht ersetzt werden." Bis zum Anbruch der rot-günen Ära sei es die Aufgabe der Grünen programmatisch Protest zu leisten und die Bürger aufzuklären.

Um ihre staatsschützenden Aufgaben wahrnehmen zu können, müssen private Anbieter von Diensten künftig "sicherheitsüberprüftes Personal" einstellen. Nach Aussage von Herbert Kubicek, Universität Bremen, werden derzeit entsprechende Ausbildungskurse durchgeführt. Die Mitarbeiter werden überdies laut CDU-Mann Wurster auf Kontakte zu Nachrichtendiensten oder persönliche Merkmale wie leichte Erpressbarkeit unter die Lupe genommen. Aus welchem Personenkreis sich diese Kontaktmänner zum Innenministerium rekrutieren, ist derzeit noch Gegenstand von Spekulationen: "Möglicherweise bietet der Verfassungsschutz selbst Mitarbeiter an", meint der Bremer Rieß. Vascom-Marketing- und Vertriebsleiter Wolfgang Weikl hält die Einstellung von Ex-Angestellten des Verfassungsschutzes für denkbar.

In jedem Fall befindet sich diese Personengruppe in einer undankbaren Zwitterrolle: Sie ist sowohl den Interessen des Staates als auch jenen des privaten Anbieters verpflichtet. Rieß sieht in dieser Doppelbelastung eine Gefahrenquelle.

Durch die Hintertür wird mit dieser gesetzlichen Regelung überdies der im Rahmen der Postreform viel beschworene freie Wettbewerb eingeschränkt: Denn privaten Diensteanbietern entstehen durch die gesetzliche Verpflichtung zur Bereitstellung von sicherheitsüberprüftem Personal unter Umständen zusätzliche Kosten. Diesen Mehraufwand werden sich auf Dauer nur größere und etablierte Unternehmen leisten können. Ganz zu schweigen von dem Mangel an Erfahrung im Umgang mit derartigen Abhörmaßnahmen, zumal das Unternehmen mit der Weitergabe von Kundendaten an den Staat gegen seine Interessen handelt. Vor allem mittelständischen Newcomern auf dem Telekom-Markt wird mit der Neuauflage des G10-Paragraphen der Start am Markt erschwert. Wurster hält diese Entwicklung für beabsichtigt: "Nur größere Firmen werden den Sicherheitsanforderungen genügen können. Ich glaube, das ist vom Gesetzgeber gewollt, denn eine gewisse Unternehmensgröße, die für Kontinuität und Sicherheit steht, muß gewährleistet sein."

Geld vom Fiskus für Spitzeldienste

Bei dem Siemens-Ableger Vascom ist man auf die neue Gesetzeslage eingestellt. Nach Aussage von Marketing- und Vertriebsleiter Weikl hat das Unternehmen nicht nur "netztechnische Sicherheitsmaßnahmen" getroffen, sondern verfügt bereits über einen sicherheitsüberprüften Mitarbeiter Allerdings existieren durch die Nähe zu dem Münchner Großunternehmen schon klare Richtlinien für den Umgang mit Staatsschützern. Dem Geschäftsführer der Danet GmbH, Jürgen C.W. Schröder, waren Einzelheiten zur Änderung des G10-Paragraphen noch nicht bekannt. "Es ist für jeden Anbieter leicht möglich, seine Datenbanken in die Schweiz zu verlegen und sich damit den gesetzlichen Bestimmungen zu entziehen," lautet sein Urteil.

Den Firmen ist es vom Gesetzgeber bei Strafe untersagt, den betroffenen Kunden oder gar Dritte über laufende Abhörmaßnahmen in Kenntnis zu setzen. Den Dienst am Staat müssen sie jedoch nicht aus eigener Tasche bezahlen: Für den durch Spitzeldienste entstandenen Mehraufwand kann vom Fiskus Entgelt gefordert werden. Der Kunde aber, dem durch eine Abhörmaßnahme ein voraussichtlich materiell nicht meßbarer Schaden entstanden ist, guckt buchstäblich in die Röhre: Für diesen Fall hat der Gesetzgeber bislang nicht gesorgt. Laut Rieß soll die Schadenersatzfrage erst mit der Novellierung des Bundesdatenschutzgesetzes diskutiert werden.

Nun spannt zwar die Regierung künftig private Unternehmen vor den Karren staatlicher Sicherheitsbehörden - um eine vermeintliche. "Sicherheitslücke (Wurster) zu schließen - unangetastet blieben bislang aber die gesetzlichen Bestimmungen, die das datenschutzrechtliche Verhältnis zwischen Kunden und Anbieter regeln. Für diesen Bereich ist nach wie vor das Bundesdatenschutzgesetz zuständig, das die Verarbeitung und den Umgang mit personenbezogenen Daten regelt. Weitergehende Vereinbarungen sind zwischen den beiden Vertragspartnern auf Grundlage der "Allgemeinen Geschäftsverbindungen" zu treffen.

"Ungeklärt bleibt somit aber zum Beispiel die Frage, welche Daten ein Telekommunikationsanbieter im Rahmen seiner Dienste erheben darf", warnt Jochen Rieß. Für den öffentlichen Bereich hat der Gesetzgeber durch entsprechende Bestimmungen vorgesorgt. Und bei der Post ist der Bundesdatenschutzbeauftragte auch berechtigt, Speicherung und Umgang mit Nutzungsdaten zu kontrollieren. Anders bei den privaten Anbietern: "Hier ist eine derartige Stichprobenkontrolle unzulässig", so Herbert Kubicek. "Bevor der Datenschutzbeauftragte eingreifen darf, muß erst eine Beschwerde von Kundenseite vorliegen." Doch diese Situation braucht nach Kubiceks Einschätzung kaum ein Anbieter zu fürchten: Der Kunde kann sich bei den komplexen Systemen ja gar keine Vorstellung davon machen, welche Daten wann wohin weitergegeben werden."