Interview mit Open-Source-Verleger Tim O'Reilly

"Softwarelizenzen funktionieren nicht"

11.07.2003
MÜNCHEN (IDG) - Der amerikanische Verleger und Open-Source-Befürworter Tim O''Reilly beobachtet massive Veränderungen im weltweiten Softwaremarkt. Im Vorfeld seiner jährlichen Veranstaltung Open Source Convention stand O''Reilly unserem Nachrichtendienst "IDG News Service" Rede und Antwort.

CW: Sie halten die Eröffnungsrede auf der Open Source Convention. Worüber werden Sie sprechen?

O''REILLY: Zurzeit findet ein Paradigmenwechsel statt. Dabei geht es sowohl um Open Source als auch das Internet. Dabei ist nicht ganz klar, wer der Fahrer und wer der Passagier ist, aber zumindest reisen beide gemeinsam.

Lassen Sie mich Ihnen ein Beispiel geben, was ich für ein Paradigmenversagen halte, das in der Open-Source-Gemeinde andauernd passiert. Ein Kritiker quelloffener Software sagt: "Open Source ist nicht besonders gut dafür geeignet, leicht benutzbare Software zu produzieren." Der Open-Source-Befürworter antwortet: "Oh, du hast die neueste Version von Gnome (GNU Object Model Environment) noch nicht gesehen. Die ist wirklich ziemlich gut."

Niemand verweist indes auf etwas, das ich für weitaus signifikanter halte: All die Killerapplikationen des Internet-Zeitalters, nämlich Amazon, Google oder maps.yahoo.com, laufen auf Linux oder Free BSD, sind aber keine Anwendungen im dem Sinne, wie Leute traditionell über Applikationen denken. Deshalb werden sie kaum beachtet. Amazon ist mit Perl auf Linux gebaut. Im Prinzip sind das ein Haufen Open-Source-Hacker, aber sie arbeiten für eine Firma, die mindestens genauso proprietär ausgerichtet ist wie jede kommerzielle Softwarefirma.

Was stimmt nicht an diesem Bild? Nun, zum einen ist eine der wichtigsten Grundlagen von Open Source die Tatsache, dass all ihre Lizenzen auf den Akt der Softwareverteilung hin ausgerichtet sind. Wenn man aber eine Applikation nicht mehr verteilt, dann sind diese Lizenzen ohne Bedeutung.

Ich würde sogar noch weiter gehen als zu sagen, dass die Lizenzen nicht funktionieren. Diese Anwendungen sind auch deswegen ganz anders, weil ihre Schnittstellen viel stärker aus Daten denn nur aus Software bestehen. Meine Grundthese lautet deswegen: Hören wir mal ein Weilchen auf, über Lizenzen nachzugrübeln. Wir sollten nicht länger denken, dass es bei Open Source im Kern da-rum geht. Das soll nicht heißen, dass sie vollkommen unwichtig wären, aber sie versperren uns den Blick auf andere Dinge, die möglicherweise wichtiger sind.

CW: Was zum Beispiel?

O''REILLY: Software wird zur austauschbaren Massenware. Open Source trägt zu dieser Veralltäglichung bei, ist aber nicht der einzige Mitwirkende. Offene Standards führen ebenfalls dazu. Der WebBrowser ist proprietär, aber Gemeingut.

Grundsätzlich sehen wir hier eine Entwicklung analog zur Hardware beim PC von IBM. Wenn man sich anschaut, was im Hardwaregeschäft passiert ist, dann gab es dort eine Übergangsphase, wo alle versucht haben, nach den alten Regeln zu spielen. Das ging so lange gut, bis Dell herausfand, dass die Regeln in Wirklichkeit ganz anders lauten und man andere Hebel ansetzen muss. Dann erlebten wir, wie jemand das Geschäft mit Commodity-Hardware wirklich umsetzte.

Ian Murdock, der Typ, der Debian gründete und jetzt eine Firma namens Progeny betreibt, geht voll in diese Richtung. Anstatt Linux als Produkt zu betrachten, sieht er es als eine Sammlung von Commodity-Softwarekomponenten, die er je nach Bedarf zusammenstellen kann.

CW: Sieht so nicht auch IBM Linux?

O''REILLY: Richtig, aber ich würde sagen, dass IBMs Strategie mit Open Source eher mit der von Compaq in der Frühzeit des PC zu vergleichen ist. Damals gab es jede Menge Anbieter, die dieses Commodity-Ding aufgegriffen hatten und versuchten, es hier und da zu verändern und zu verbessern und Mehrwert hinzuzufügen, um sich dadurch zu differenzieren. Bei Websphere sagt IBM: Wir packen einen Haufen Open-Source-Komponenten mit einer Menge proprietärer Elemente zusammen und machen das so, dass jeder einsieht: "Dafür muss ich zahlen." Das erinnert stark an Compaq früher.

Irgendwann wird jemand ankommen und die komplette Open-Source-Softwarepalette zusammenfügen. Wenn man sich die Geschichte des PC ansieht, hat Compaqs Strategie nicht versagt. Fakt ist nur, dass Dell geringfügig besser war. Die ganze Essenz des Dell-Ansatzes war Auftragsfertigung (Build to Order), und ich denke, dieses Geschäftsmodell wird auch für Linux aufkommen.

CW: Ist die Open-Source-Software reif genug, dass es ein Open-Source-Dell geben könnte?

O''REILLY: Wahrscheinlich noch nicht. Es gibt dieses großartige Zitat von Ray Kurzweil. Der hat gesagt: "Ich bin ein Erfinder, und ich habe mir Langzeit-Trends angesehen, weil eine Erfindung Sinn geben muss, wenn sie fertig ist, und nicht schon, wenn man mit ihr beginnt." Viele Leute schmieden Pläne für eine Welt, die schnell zu Ende geht. Man muss seinen Business-Plan aber für die Welt machen, die kommt.

CW: Was bringen die Veränderungen noch für Möglichkeiten?

O''REILLY: Der wahre Wert liegt in den Daten. Dazu möchte ich auf meine Beispiele Amazon und Google zurückkommen. Google mag weniger abgeschottet sein. Die setzen sich von der Konkurrenz eher dadurch ab, dass sie in dem, was sie tun, einfach besser sind. Aber es gibt keinen großen Unterschied zwischen Barnesandnoble.com und Amazon.com, was deren Software angeht. Sie unterscheiden sich in Bezug auf ihre Kunden und darin, was die zu ihren Daten beisteuern.

Bei Ebay wird das noch klarer. Da haben wir tatsächlich die kritische Masse von Käufern und Verkäufern in einem Markt und all die Informationen, die diese in den Marktplatz als Repository eingebracht haben.

Ich denke, wir werden so etwas an mehr und mehr Stellen erleben. Jemand erreicht eine kritische Masse an Kunden und Daten, und diese wird zum wahren Wert. Davon ausgehend sage ich voraus - und das mag völlig überdreht klingen -, dass Ebay eines Tages Oracle kaufen wird. Der Wert eines Geschäfts wird sich stark in Richtung von Leuten verlagern, die man heute noch gar nicht als Softwareanbieter sieht.

Amazon ist auf diesem Weg am weitesten, in vielerlei Hinsicht. Das Unternehmen versteht wirklich, dass es zu einer Plattform wird. Sie entwickeln sich zu einer E-Commerce-Engine für einen viel größeren Teil des Internets, als viele Leute wahrnehmen. Das ist nicht bloß eine Site, sie betreiben den E-Commerce für andere. Sie haben Web-Services gebaut, mit denen Leute Anwendungen erstellen, die Amazon nicht kontrolliert, die aber Teile ihrer Backend-Services nutzen. Sie gehen diesen Weg weiter, und andere werden das genauso machen. Dann wird es auf einmal heißen: "Oh mein Gott, wie sind die plötzlich so wichtig geworden?" So wie IBM lange dachte, Microsoft sei kein Wettbewerber, nur um eines Tages zu erkennen: "Oh mein Gott, jetzt sitzen diese Jungs am Steuer."