Software-Entwicklungstrends/Megatrends wegen Jahr 2000 und Euro vertagt

17.07.1998

Java, Objektorientierung und Componentware heißen die Taktgeber der SW-Entwicklung - zumindest auf den ersten Blick. Die amerikanischen Marktforscher von Forrester Research breiten nach einer jüngsten Umfrage unter Fortune-1000-Companies vor allem Java den roten Teppich aus. Wie Eric Brown, verantwortlicher Autor der Studie, unter IT-Verantwortlichen ermittelte, haben nahezu 50 Prozent der Unternehmen Java-Entwicklungsprojekte auf Kurs gebracht.

Trotz aller Unsicherheit über publik gewordene Kinderkrankheiten der hochgelobten Plattform, die Brown unter den Befragten ausmachen konnte, soll sich der Siegeszug von Java unvermindert fortsetzen. "Nahezu die Hälfte unserer Gesprächspartner erwartet, daß sich Java in spätestens zwei Jahren als elementarer Bestandteil ihrer Software-Entwicklungsstrategie etablieren wird."

Vom Java-Boom positiv beeinflußt, prescht auch Componentware nach vorn. Zu dieser Prognose sieht sich jedenfalls die Gartner Group veranlaßt. Die Analysten gehen davon aus, daß IT-Organisationen aufgrund des zunehmenden Time-to-market-Drucks dem Kauf von Applikationen gegenüber der Eigenentwicklung mittelfristig den Vorzug geben werden.

Bereits im Jahr 2001 würden sich etwa 60 Prozent aller Entwicklungsprojekte auf Componentware stützen. Das Angebot von Komponenten, Bibliotheken, Frameworks oder Templates werde sich erheblich verbessern. Dadurch soll sich das Marktvolumen dieser Produkte von derzeit rund 800 Millionen auf 2,2 Milliarden Dollar im Jahr 2002 erhöhen.

Auch Diebold Deutschland rechnet mit weiterem Auftrieb für Java, OO und Componentware. Laut Management-Consultant Christian Plath können sich Anwender durchaus Vorteile der auf Componentware basierenden Architekturen versprechen. In Dreischichtenmodellen aus Präsenta- tions- und Verarbeitungslogik sowie Daten-Management können objektorientierte beziehungsweise objektrelationale Datenbanksysteme Boden gutmachen. Mit einem Durchbruch dieses Datenbanktyps rechnet die deutsche Management-Beratungsfirma, wie in ihrem jüngsten Branchenreport zu lesen war, erst nach 2000.

Objektorientierung ist Diebold zufolge noch zu weit von der Marktreife entfernt, während Datenbanken immer mehr zu einer "Commodity", einer Beigabe großer Standardsoftwarepakete, gerieten. Besonders Oracle profitiert von dieser Neuorientierung im Angebot. Bei 80 Prozent aller von Systemhäusern durchgeführten SAP-Einführungsprojekte, so heißt es bei Diebold, wird Oracle als Datenbanklieferant gleich mit ins Boot genommen.

Für Irritation sorgen die Ergebnisse eines weltweiten "IT Benchmark Report" der Meta Group, dessen 1997er Ausgabe nun vorliegt. Hierin werden völlig andere Akzente gesetzt. Angesprochen auf den vermeintlichen Boom von Java oder anderer sogenannter Megatrends in der Software-Entwicklung, gibt Autor Howard Rubin zu Protokoll, die Kollegen der anderen Institute hätten wohl die falschen Fragen gestellt.

Umfrageergebnisse täuschen Modernität vor

Vor allem die Fachpresse, lautet der Vorwurf, trage entscheidend dazu bei, daß ein falscher Eindruck über die tatsächliche Situation in den Entwicklungsabteilungen der Unternehmen entstehe. Rubin: "Werden IT-Verantwortliche gefragt, ob ihr Unternehmen bereits Java einsetze, antworten viele mit ja. Fragt man aber nach dem Anteil der Entwicklungsprojekte am IT-Budget, kommt weniger als ein Prozent zusammen. Objektorientierung erzielt vielleicht einen Anteil von drei Prozent, und dies ist sehr hoch geschätzt."

An der Meta-Group-Umfrage nahmen rund 1200 Unternehmen aus 30 Branchen und 42 Ländern teil. Wie die von Rubin verantwortete Studie ermittelte, werden weltweit pro Stunde 125 Millionen Dollar für IT ausgegeben, und das trotz einer prekären Arbeitsmarktsituation, und trotz explodierender Gehälter sowie kostenträchtiger Jahr-2000- und Euro-Projekte.

Das wichtigste Ergebnis ist freilich eher enttäuschend, stützt es doch nur die allenthalben verbreitete Erkenntnis, daß auch die Software-Entwicklung hinter den massiv gestarteten Jahr-2000-Projekten der Anwender fürs erste zurückstehen muß. Daß über 50 Prozent der IT-Verantwortlichen Windows 95 und NT als Entwicklungsplattformen vorziehen, überrascht nicht.

Daß die Anwender eher für Pentium-Rechner als für ihre Unix- und Mac-Maschinen Programme schreiben, läßt ebensowenig aufhorchen wie die Erkenntnis, daß Client-Server- und Netzwerkprojekte den Entwicklungsanteil im Mainframebereich bereits um das Doppelte übertreffen. Freilich räumt auch Rubin ein, daß der weitaus größte Anteil von Pentium-Maschinen und Windows-Plattformen denn wohl doch auf die gewachsene Bedeutung des Internet zurückzuführen ist.

Zu erwarten war auch, wenngleich nicht in dem Ausmaß, daß sich über 40 Prozent der Befragten für das Outsourcing der Bereiche Entwicklung oder Maintenance entschieden haben. Noch dümpelt die Quote der aktuell ausgelagerten IT-gestützten Geschäftsprozesse in der Meta-Group-Studie unter ferner liefen. Das dürfte sich aber in wenigen Monaten gänzlich anders darstellen, wenn auch die letzten Top-Manager erkennen, daß sie ihre Jahr-2000-Fähigkeit ohne Auslagerung aller weniger wichtigen Dinge nicht rechtzeitig sicherstellen können.

Immer mehr Entwickler in der Soft-Wehr

Wie Rubin erläutert, widmen die Entwicklungsmannschaften ein Drittel ihrer Ressourcen der eigentlichen Aufgabe, gut zehn Prozent diversen Migrationsaufgaben sowie ein weiteres Drittel der Anpassung von Standardsoftware. Rund 30 Prozent ihrer Zeit sind die teuren Entwickler mit Support beschäftigt.

Überraschend ist ein Detail am Rande über die Fließbandfertigkeit der amerikanischen DV-Profis, die allein während der letzten vier Jahre um 50 Prozent zurückgegangen ist. Und dies, obwohl sie im Vergleich zu europäischen Kollegen über 200 Stunden pro Jahr mehr arbeiten müssen. Zwar ist die nach tausend Programmierzeilen (KLOC) pro Jahr bezifferte Produktivität der US-Entwickler auf 7,7 KLOC angestiegen, der internationale Durchschnittswert liegt allerdings bei 10,9.

Wie die von der Meta Group befragten Anwender erklärten, hat das Thema Jahr 2000 Toppriorität. Es folgt die Anpassung der DV an Unternehmensprozesse, und schon an dritter Stelle der Problemskala steht Personalmangel. Dies verwundert kaum. Wer heute auf traditionelle Programmierkenntnisse ê la Cobol verweisen kann, ist für Jahr-2000-Projekte gesucht und plötzlich wieder genauso begehrt wie Java-Spezialisten. So landen die Unternehmen in der Zwickmühle: Externes Know-how kriegen sie nicht, und ihre zum Teil teuer weitergebildeten Experten könnten lukrativere Angebote bekommen. Alle Auguren haben festgestellt, daß viele Anwender im Effekt konservativ darauf reagieren: Sie lassen sich gar nicht erst auf Java ein, und ihre Entwicklungsmannschaften können auf bekanntem Terrain wie Visual Basic oder C++ unverdrossen weiterwerkeln.

Dabei kommen manchen die Jahr-2000-Projekte wie gerufen. So erfuhr Rubin von einem amerikanischen Maschinenbauer: "Das Jahr-2000-Thema läßt uns keine Wahl, alle Entwickler müssen sich auf ihre Cobol- und CICS-Kompetenzen beschränken."

Andere wiederum sehen nicht ein, den langwierigen Aufbau nach wie vor gefragter Fertigkeiten einer durchaus umstrittenen Perspektive zu opfern. So verweist der IT-Leiter einer Brauerei im mittleren Westen auf 150 Visual-Basic-Programmierer, denen gerade fünf Java-Spezialisten gegenüberstehen. "Wir konzentrieren uns auf Sprachen, die wir beherrschen, auf Werkzeuge, die wir besitzen, und auf Mitarbeiter, die wir ausgebildet haben." Eine solche Position wird niemand freiwillig aufgeben.

Auch wenn die Zeitschrift "Business Week" davon ausgeht, daß bereits 97 Prozent der amerikanischen Großkonzerne Java - in welcher Gestalt auch immer - einsetzen und Ziehvater Sun bereits mit rund einer Million Java-Anwendern rechnet, ist eine verständliche Zurückhaltung zu spüren. Obwohl Java erstmals wirkliche Plattformunabhängigkeit verspricht und dies in ersten Projekten durchaus nachweisbar ist, fehlen die zum Durchbruch dringend erforderlichen Killerapplikationen.

IBM und Lotus, die frühzeitig auf den NC-Zug gesetzt haben und damit ein wichtiges Marktsignal ertönen ließen, halten sich mit Meldungen von überzeugenden Verkaufsquoten ihrer NC-Maschinen oder Java-Suites merklich zurück. Vergleichstests einzelner Softwareprogramme mag den Anwendern Zurückhaltung als strategische Maxime nahegelegt haben.

Dennoch scheint alles in Java-Richtung zu weisen. Daß die Management-Etagen so vehement die Anpassung der Informationstechnologie an Geschäftsprozesse fordern, läßt sich nicht unbedingt mit Knausrigkeit zum Wohle der Shareholder erklären. Diebold-Berater Plath ist überzeugt: "Heute weiß doch inzwischen jeder Vorstand, daß die allenthalben geforderte Nähe zum Kunden nur durch entsprechende IT-Lösungen realisiert werden kann."

Auch bei Entscheidungen über Merger und Akquisitionen spielen die vergleichsweise billigen DV-Systeme der begehrten Firmen eine wichtige Rolle. Passen sie, lassen sie sich integrieren? Unter diesen Vorzeichen, befindet Plath, haben alle Technologien eine Schlüsselfunktion, die dem hohen Anforderungsprofil auf lange Sicht standhalten kann.

Daß dem Topmanagement die ausufernden Kosten, die ê la longue durch den massiven Einsatz von Fat Clients entstanden sind, ein Dorn im Auge sind, dürfte bald einen Paradigmenwechsel einleiten. Das vermutet nicht nur Diebold-Berater Plath, und zwar zugunsten einer von Java dominierten Networking-Variante.

Davon ist auch die Gartner Group überzeugt. Sie sieht eine deutliche Akzentverschiebung von der traditionellen PC-Software hin zu unternehmensübergreifenden und netzwerkzentrierten Applikationen. Die Gartner Group empfiehlt den IT-Verantwortlichen in Unternehmen deshalb, ihre PC-Software-Investitionen nach den Richtlinien aus Total Costs of Ownership und Standardisierung auf eine akzeptable Grundlage zu stellen.

Künftige Strategien, insbesondere auch bei der Software-Entwicklung, sollten sich auf den Enterprise Client konzentrieren. Nur ein solches Modell sei in der Lage, die vom Management geforderte Unterstützung übergreifender Prozesse zu gewährleisten.

Wer bereits auf Java setzt, muß sich nach Forrester Research schnell entscheiden, wohin die Reise gehen soll. Die Alternative lautet: Microsoft, also dynamischer HTML-Client, oder Java pur, also Corba und Javabeans. Die Sogwirkung des Mainstream, der von der zwar angeknockten, aber längst nicht taumelnden Wintel-Allianz bis zum Anwender reicht, macht eine Entscheidung für den vor allem von Sun propagierten Java-Ansatz zu einer Gratwanderung.

An einem werden die unterschiedlichen Grundorientierungen der Unternehmen nach Ansicht aller Analysten nichts ändern: Nach den Notmaßnahmen Problem 2000 und dem Euro bricht der durch sie verursachte Entwicklungsstau durch. Es wird eine prächtige Auftragslawine folgen. Wie Diebold-Mann Plath erwartet, profitieren Anwender dabei von bereinigten Strukturen, entschlackten Altsystemen und entsorgten Anwendungsprogrammen. Software-Entwickler können bald aufatmen.

Winfried Gertz ist freier Journalist in München.