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Siemens macht Ernst mit Offshoring-Plänen

23.03.2004

Siemens-Chef Heinrich von Pierer will weit mehr Arbeitsplätze in osteuropäische Länder verlagern, als bisher bekannt. Jetzt redet der Konzernboss bereits von 10.000 Jobs, die in Deutschland verloren gehen könnten.

Gerade erst hatte das Unternehmen 4500 Mitarbeiter an den Standorten Bocholt und Kamp-Lintfort geschockt, als die Konzernleitung mitteilte, man werde 2000 ihrer Jobs nach Ungarn verlegen und damit fast die Hälfte der Belegschaft entlassen. Wegen der wesentlich günstigeren Personalkosten sei die Produktion der Handys und Schnurlostelefone in den beiden Werken nur sinnvoll, wenn die Arbeitskosten an den Produktionsorten in Nordrhein-Westfalen spürbar gesenkt werden könnten.

Der IG-Metall-Gewerkschafter Wolfgang Müller, der auch im Aufsichtsrat von Siemens sitzt, hatte darauf hin gesagt, es sei völlig illusorisch, die Personalkosten um 30 bis 40 Prozent zu reduzieren. Damit bezog er sich auf Äußerungen aus dem Management, in Ungarn lägen die Personalkosten um 75 Prozent unter dem deutschen Niveau.

Schon anlässlich dieser Ankündigung war auch lanciert worden, Siemens würde bei der Verlagerung von Jobs aus Deutschland weg in Niedriglohnländer nicht nur an den Bereich Informations & Communications Networks (ICN) denken, sondern alle 13 Unternehmensbereiche einer Prüfung unterziehen ob ihrer Potenziale zur Verlagerung von Arbeitsplätzen. Diese Gerüchte haben sich nunmehr bestätigt. Mittlerweile wird klar, dass Siemens Gedanken zur großflächigen Verlagerung von Arbeitsplätzen nach Osteuropa und Asien anstellt.

Nach einer Meldung der Nachrichtenagentur Reuters liegt "die Größenordnung, um die es hier geht, auf alle Fälle im fünfstelligen Bereich". Die Nachrichtenagentur beruft sich dabei auf Informationen aus Kreisen der Gewerkschaften. Schon am 31. März würden sich das Siemens-Management und Arbeitnehmervertretern im Zuge einer Wirtschaftsausschusssitzung mit diesem Thema auseinandersetzen. Danach wird nicht nur die Mobilfunksparte ICM Arbeitsplätze durch Offshoring verlieren, sondern auch die Bereiche Netzwerksparte (ICN), die Verkehrstechnik (TS), die Automatisierungssparte (A&D) und der Bereich Energieübertragung (PTD).

Die Tageszeitung "Welt" hatte am Montag gemeldet, dass die Arbeitsplatzverlagerungen eine deutlich größere Dimension hätten als mit den betroffenen Werken Kamp-Lintfort und Bocholt ursprünglich gemeldet. Siemens selbst wollte lediglich die Wirtschaftsausschusssitzung bestätigen.

Reuters hatte aus Gewerkschaftskreisen zitiert: "Wir gehen davon aus, Siemens meint die Sache ernst." Konzernchef von Pierer habe zudem in der jüngsten Vergangenheit sowohl die zu hohen Tarifabschlüsse in der Metall- und Elektroindustrie als auch die unflexible Arbeitszeitregelungen in Deutschland kritisiert. Während in Arbeitnehmerkreisen noch von Erpressung durch Siemens die Rede ist, rechnen Gewerkschaftler, dass der Abbau beschlossene Sache ist. So erklärte der IG-Metall-Gewerkschafter und Siemens-Aufsichtsrat Müller dem "Handelsblatt", er habe den Eindruck, für viele Bereiche seien die Entscheidungen längst gefallen.

Offshoring wird in Deutschland zunehmend zu einem Thema, dass weite Teile der Wirtschaft und Politik beschäftigt. Gerade erst hat der Deutsche Industrie- und Handeskammertag (DIHT) in einer Untersuchung über das Investitionsverhalten deutscher Unternehmen festgestellt, Konzerne hierzulande würden einen immer größeren Anteil der Wertschöpfung im Ausland und nicht im Inland erwirtschaften. Insbesondere bei den Exportunternehmen neige man zu erhöhten Investitionen im Ausland, wolle dagegen im Inland kaum Kapazitätserweiterungen vornehmen.

Der DIHT stellte ferner fest, mittlerweile würden auch hoch qualifizierte Jobs ins Ausland abwandern und nicht mehr nur Massenfertigungstätigkeiten. Auch kapitalintensive Produktionen würden von Deutschland in Niedriglohnländer transferiert. Die darauf folgende Empfehlung des DIHK-Präsidenten Ludwig Georg Braun, Unternehmen sollten die Chancen einer Jobverlagerung ins Ausland nutzen, wurde von Bundeskanzler Gerhard Schröder als unpatriotischer Akt bezeichnet. Der neue SPD-Generalsekretär Klaus Uwe Benneter nannte Braun gar einen "vaterlandslosen Gesellen".

Offshoring ist ein Thema für jede Industrie und jede Branche stellte auch Walter Raizner, Deutschland-Chef von IBM, fest. Er schätzt, dass die hiesige IT-Branche durch die Verlagerung ins Ausland im vergangenen Jahr 70.000 Arbeitsplätze verloren hat. Die Kosten in Deutschland seien einfach zu hoch, so Raizner gegenüber der "Financial Times Deutschland".

Der Branchenverband BITKOM ist indes bemüht, das Thema Offshore-Outsourcing in ein besseres Licht zu rücken: "Es wäre eine Unterlassungssünde, Outsourcing nicht zu nutzen", sagt Bernhard Rohleder, Vorsitzender der BITKOM-Geschäftsführung. Nur durch die Integration internationalen Know-hows blieben deutsche Unternehmen auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig. Dieses als mangelnden Patriotismus zu brandmarken, verdrehe die Tatsachen. Outsourcing könne Produkte besser und günstiger machen und eröffne Firmen die Chance, mehr Geld in Forschung und Entwicklung zu investieren, sagte Rohleder weiter. Dieses geschehe zu allererst in Deutschland.

Der Arbeitsplatzabbau der vergangenen drei Jahre sei konjunkturbedingt gewesen und finde nach Prognose des BITKOM noch in diesem Jahr ein Ende. Vielmehr würden die IT-Unternehmen 2003 etwa 1000 zusätzliche Arbeitsplätze schaffen. Das Auslagern von Tätigkeiten ins Ausland habe zu keinem Stellenverlust in Deutschland geführt, sondern Arbeitsplätze gesichert, so das Resümée des Branchenverbands. Insgesamt beschäftige die Branche hierzulande 751.000 Menschen. (jm/mb)