"Set-top-Box im Wohnzimmer hilft uns nicht weiter"

10.07.1998

CW: Sie haben sich vor einigen Monaten anläßlich der CeBIT sehr kritisch über den Anwendungsstau in Deutschland in Bezug auf moderne IuK-Techniken geäußert. Einige Experten vertraten damals die Ansicht, das sei übertrieben gewesen, und unterstellten Ihnen unterschwellig einen einseitigen Herstellerblick.

Harms: Die Kritik, auf die Sie anspielen, war in dieser Schärfe durchaus beabsichtigt. Wir wollten und wollen einen gewissen Aha-Effekt erzielen. Ich habe meine Ausführungen in Hannover in die Frage gekleidet, was können wir tun, um die Hebelwirkung unserer Branche für Wirtschaft und Gesellschaft noch besser umzusetzen, für mehr Arbeitsplätze, für mehr inländische Wertschöpfung und für mehr internationale Wettbewerbsfähigkeit. Dazu stehe ich auch heute, und das hat zunächst nichts damit zu tun, daß ich in einem Unternehmen dieser Branche Verantwortung trage. Wir alle wissen, daß die Kommunikations-Infrastruktur in Deutschland keinen internationalen Vergleich zu scheuen braucht. Aber wir haben gravierende Defizite bei deren Nutzung.

CW: Welche Lösung schlagen Sie vor? Muß der PC in jeden Haushalt?

Harms: So plakativ würde ich das nicht formulieren. Die PC-Verbreitung in Deutschland ist übrigens im internationalen Vergleich allenfalls durchschnittlich. Aber darum geht es gar nicht. Entscheidend ist: Es fehlt die nötige Aufgeschlossenheit der IT gegenüber. Das läßt sich auch nicht dadurch beheben, daß man bei den PCs - wie in der Vergangenheit bei Fernsehgeräten oder Waschmaschinen - hochrechnet und sagt, in soundsoviel Jahren haben wir eine flächendeckende Versorgung. Nein, man muß die Anwendungen anschauen und sich dann im Einzelfall fragen, was der Einsatz von IT bringen kann. Und man sollte endlich auch etwas mehr Neugier und Riskobereitschaft bei denjenigen einfordern, die an einer verbesserten Wertschöpfung interessiert sein müßten - also der verarbeitenden Industrie und dem Dienstleistungsgewerbe.

CW: Die Verwendung zeitgemäßer IT-Lösungen in den Unternehmen soll also den Weg in die Informationsgesellschaft ebnen?

Harms: Eine Set-top-Box mit Internet-Anschluß in jedem Wohnzimmer hilft uns jedenfalls nicht weiter. Gefordert sind allerdings nicht nur die IT-Profis in Wirtschaft, Industrie und öffentlicher Verwaltung, sondern auch die Schulen. Nicht umsonst denkt unser Verband zusammen mit anderen IT-Herstellvereinigungen im Momemt intensiv darüber nach, wie wir unsere Branche für den Nachwuchs wieder interessanter machen können.

CW: Gibt es dazu bereits konkrete Pläne?

Harms: Eine Arbeitsgruppe wird demnächst Vorschläge unterbreiten. Wie diese aussehen werden, dürfte aber kein Geheimnis sein. Wir alle wissen, daß wir derzeit zuwenig Informatiker und Ingenieure ausbilden. Wir müssen also den Nachwuchs interessieren und begeistern, und wir müssen auch das Unternehmertum in unserer Branche nachhaltiger fördern. Ich sage noch einmal: Wir haben in Deutschland keine Technikfeindlichkeit, aber es fehlt mir die Begeisterung, ohne die es nicht geht. Diese zu wecken ist auch Aufgabe der Schulen und Universitäten, wo mit übertriebener Skepsis in den letzten Jahren keine gute Stimmung erzeugt wurde. Wenn von derzeit 11 000 Informatik-Studienplätzen eines Jahrganges nur zwischen 6000 und 7000 belegt werden, spricht das Bände. Hier muß man mit einer Aufklärung der Studienanfänger und dem Umbau der bestehenden Ausbildungssysteme dringend gegensteuern, wenn in der deutschen IT-Industrie in Zukunft nennenswert Arbeitsplätze entstehen sollen.

CW: Ich komme noch einmal auf meine Frage von vorhin zurück. Den von einigen Experten lange Zeit prognostizierten Electronic-Commerce-Boom bei den privaten Verbrauchern sehen Sie also nicht?

Harms: Wir vom Fachverband Informationstechnik haben uns hier nie etwas vorgemacht. Der von vielen Marktforschern als Business-to-Consumer bezeichnete Markt wird sich entwickeln - aber nicht über Nacht. Manche sagen, bis zum Jahr 2000. Dauert es noch drei Jahre länger, habe ich damit auch kein Problem. Es kommt aber auf die Anwendungen an. Da gibt es momentan im Business-to-Business-Bereich mehr Lösungen, über die es sich lohnen würde, intensiv nachzudenken. Ich denke da an Videoconferencing, weltweiten Datenaustausch in Echtzeit, simultanes Engineering.

Doch zurück zum Consumer-Markt: Jetzt könnte ich mich natürlich hinstellen und sagen, wir verkaufen bei Hewlett-Packard über das Internet Druckertreiber und gebrauchte PCs an Endkunden. Das sind aber erstens zarte Pflänzchen eines Consumer-orientierten Electronic Commerce, zweitens machen dies andere Hersteller auch. Hier haben wir es, das läßt sich nicht wegdiskutieren, mit dem berühmten Henne-Ei-Problem zu tun. Anbieter und Hersteller warten auf eine kommerziell tragfähige Lösung, der Kunde wartet auf etwas, das ihm Spaß und Unterhaltung oder Zeit- und Kostenersparnis bringt.

CW: Das sind aber nachdenkliche Töne. Kommt da auch ein bißchen der Geschäftsführer eines Unternehmens zum Vorschein, das sich mit am deutlichsten das nahende Zeitalter des Electronic Commerce auf seine Fahnen geschrieben hat? Von wieviel Visionen hat man sich denn bei Hewlett-Packard inzwischen verabschiedet?

Harms: Wir korrigieren unsere Pläne, wenn notwendig, ständig - allerdings nicht unsere langfristigen Visionen. Hewlett-Packard entwickelt heute nur noch Produkte, die Internet-fähig sind, weil wir fest damit rechnen, daß dem Netz die Zukunft gehört. Sich auf Veränderungen einstellen muß man in dieser Branche, wie Sie wissen, im übrigen tagtäglich. Als wir bei Hewlett-Packard vor rund zehn Jahren TCP/IP als internes Kommunikations-Protokoll einführten, wußten wir auch nicht, daß sich das Internet in dieser Form durchsetzen wird. Das ändert aber nichts daran, daß es, um auf meine Eingangsbemerkung zurückzukommen, heute hilfreicher wäre, wenn sich die Unternehmen, insbesondere auch der Mittelstand, mehr mit den Themen EDI, Internet, Intranet und Workflow auseinandersetzen würden.

CW: Dort hat man aber vielleicht allmählich genug von den immer kürzeren Produktzyklen der Hersteller; von den vielen leeren Versprechungen der IT-Industrie. Mir fällt da zum Beispiel das papierlose Büro ein, das seit ewiger Zeit angekündigt wird und mit dessen kaum vorangeschrittener Realisierung vor allem Ihr Unternehmen nach wie vor glänzende Geschäfte macht.

Harms: Ich weiß, jetzt wollen Sie mir wieder die pure Herstellerbrille nachweisen. Ich hatte versucht, deutlich zu machen, daß es unserem Verband um die gesellschafts- und arbeitsmarktpolitische Dimension einer modernen Informationsgesellschaft geht. Nicht alle Entwicklungen unserer Branche, das gebe ich zu, setzen sich im Markt durch. Aber der Mainstream bewegt sich in eine erkennbare und nachvollziehbare Richtung. Wenn, um diesen strapazierten Begriff zu benutzen, der Standort Deutschland eine Zukunft haben soll, werden wir uns mit dem Thema Wissens-Management und -Verarbeitung als Wettbewerbsfaktor auseinandersetzen müssen.

CW: Welche Rolle spielt dabei der Mittelstand, den die IT-Branche gerade zu entdecken scheint?

Harms: So würde ich das nicht unterschreiben. Ich habe auch in der Vergangenheit gerne an mittelständische Unternehmen IT-Lösungen verkauft.

CW: Aber Sie hatten, wie die meisten Hersteller, keine für den Mittelstand konzipierte Produkt-, geschweige denn eine Support- und Servicestrategie.

Harms: Auch da muß ich widersprechen. Man muß dem Mittelstand natürlich Lösungen anbieten können, die adaptiv sind und keinen Overkill darstellen. Doch die Wettbewerbsfähigkeit dieser, wie manche sagen, tragenden Säule unserer Wirtschaft wird sich auch nur durch den Einsatz moderner IuK-Techniken sichern lassen. Daß unsere Branche hier, wie Sie argumentieren, erst beginnt, einen Markt zu entdecken, ist ein Eindruck, der vielleicht auch dadurch entstanden ist, daß sich der Mittelstand bis dato sehr zurückhaltend und vorsichtig dem Thema IT genähert hat. Auch, weil man Fehler gemacht hat.

CW: Was meinen Sie damit?

Harms: Es gab sicherlich das eine oder andere IT-Projekt, das nicht den gewünschten Return on Investment im Sinne einer spürbaren Verbesserung der Geschäftsabläufe gebracht hat. Konsequenz daraus war, daß so mancher Mittelständler gesagt hat, laßt mal schön die anderen, vor allem die Großen, bei der Einführung neuer IT-Lösungen vorangehen.

CW: Was letztlich dann doch Rückschlüsse auf ein ungeeignetes Produktangebot zuläßt. Irgendwie bleibt da der von mir erwähnte Eindruck haften.

Harms: Noch einmal: Der Mittelstand war und ist eine strategisch wichtige Zielgruppe. Ich kann nicht ausschließen, daß einzelne Hersteller dies in der Vergangenheit mit unterschiedlichen Marketing- und Vertriebsstrategien gewürdigt haben. Und es ist, so viel gestehe ich Ihnen auch noch zu, mitunter nicht ganz leicht, einer US-Muttergesellschaft die Bedeutung des deutschen Mittelstandes klarzumachen.

CW: Sie haben, um auf Ihre Ausführungen auf der CeBIT zurückzukommen, auch die staatlichen Rahmenbedingungen für eine sich entfaltende deutsche IuK-Industrie kritisiert.

Harms: Ich habe mir seinerzeit erlaubt, auf einige Fehlentwicklungen hinzuweisen. Dazu gehören die Kryptografie-Pläne von Herrn Kanther, die unsägliche Debatte über Rundfunkgebühren für PC-Anwender oder das Thema Internet-Besteuerung. Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Es hat sich in Deutschland in den zurückliegenden vier, fünf Jahren leider nicht viel verändert. Die Firmen haben sich zwar verschlankt und dem globalen Wettbewerb angepaßt, was dazu geführt hat, daß Wertschöpfung ins Ausland abgeflossen ist und Arbeitsplätze abgebaut wurden. Geblieben sind aber die im internationalen Maßstab nach wie vor viel zu hohen Grenzsteuersätze für Unternehmen und ein veraltetes Arbeitsrecht.

CW: Das klingt jetzt sehr nach allgemeiner Standortschelte. Haben wir davon angesichts einer bevorstehenden Bundestagswahl nicht genug?

Harms: Ich denke, wir vom Fachverband Informationstechnik können für uns in Anspruch nehmen, daß wir konstruktive Kritik üben. Was wollen Sie denn hören? Wollen Sie etwa keine Antwort darauf, warum US-Computerfirmen momentan lieber Produktionsstätten in Irland als in Deutschland errichten - es sei denn, es fließen Milliarden an Subventionen? Und ist der Hinweis unangebracht, daß Betriebsauslagerungen, 24-Stunden-Call-Center-Betrieb, die Nutzung der weltweiten Vernetzung und andere globale Anforderungen in unserer Branche durch unser Arbeitsrecht nicht gerade gefördert werden? Wir müssen dieses Arbeitsrecht, die Unternehmensbesteuerung und unsere Bildungsprozesse schnell verbessern. Hier zeigt sich, mit Verlaub gesagt, dringender Reformbedarf, und hier tritt die Politik seit Jahren auf der Stelle.

CW: Kommen wir zum Schluß noch auf die Verbandslandschaft in der deutschen IuK-Industrie zu sprechen. Mittlerweile gibt es mehr als ein Dutzend Herstellervereinigungen; es fällt schwer, einen genauen Überblick zu behalten. Glauben Sie, daß ein derart zersplittertes Herstellerlager noch Sinn macht angesichts der wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Bedeutung, die die IuK-Branche mit Recht für sich einfordert?

Harms: Diese Aufspaltung ist sicherlich nicht mehr opportun. Sowohl in unserer Organisation als auch in den anderen Fachverbänden hat man aber die Zeichen der Zeit erkannt. Es ist nicht gerade effektiv, wenn manche unserer Mitarbeiter in mehreren Verbänden das gleiche Problem diskutieren. Und es dürfte zweckmäßiger sein, den Politikern mit einer Stimme zu begegnen. Was aber nichts daran ändert, daß es auch bei den Herstellern unterschiedliche Interessen gibt, die manchmal nur sehr schwer unter einen Hut zu bringen sind. Aber momentan laufen wieder intensive Gespräche mit dem Ziel, dies entscheidend zu verbessern.

CW: Könnte das Ergebnis dieser Gespräche ein einziger Verband sein, der die Interessen der deutschen IuK-Branche vertritt?

Harms: Das wäre wünschenswert, und wir arbeiten daran.

IuK-INDUSTRIE UND DER STANDORT DEUTSCHLAND

Sie haben im Moment eindeutig Oberwasser, die Vertreter der deutschen IuK-Branche. Deutschland hat auf die Fragen, die der globale Wettbewerb aufwirft, wenig Antworten. Eine davon ist das Pfund, mit dem die IT-Hersteller wuchern: An ihren Produkten, wegweisend für den Marsch in die moderne Informationsgesellschaft, könne, solle, werde der Standort genesen. "Wenn wir als eine der führenden Wirtschaftsnationen bestehen wollen, müssen wir den Wandel vom Grund-Boden-Stahl-und-Stein-Geschäft zum Electronic Business schaffen", forderte Jörg Menno Harms in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Fachverbands Informationstechnik im VDMA/ZVEI auf der CeBIT '98.

Auch die nackten Zahlen geben zu deutlich mehr Selbstbewußtsein Anlaß. Die deutsche IuK-Industrie trug 1997 laut VDMA/ZVEI knapp fünf Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei - 800 000 Arbeitsplätze inklusive. Und selbst konservative Prognosen verheißen der Branche regelrechte Boomjahre - die einschlägigen (Anwendungs-)Szenarien der Marktforscher sind hinlänglich bekannt. Darüber hinaus hat man neue Märkte, Industriezweige im Visier - der plötzlich entdeckte Mittelstand läßt grüßen! Kein Wunder, daß da gelegentlich ein kesser Ton über die Lippen eines Verbandsfunktionärs geht. So reihte sich unlängst auch der Vorsitzende des BVB Bundesverband Informations- und Kommunikationssysteme e.V., Willi Berchtold, auf originelle Weise in den Chor der Standortkritiker ein. "Wenn Bill Gates Microsoft in Deutschland als Garagenfirma gegründet hätte, würde dessen Biografie statt nach 600 Seiten schon nach zwei Seiten mit dem Satz enden: Heute war das Gewerbeaufsichtsamt da." gh