Server-Konzept fuer allgemeine betriebliche Anwendungen entwickelt Pilotprojekt der Universitaet Kassel soll Mittelstand helfen

17.03.1995

Von Uwe Geitner*

Die Universitaet Kassel stellte sich 1992 die Aufgabe, eine Muster- oder Pilotinstallation zu entwickeln, die die Wettbewerbsbedingungen mittelgrosser und kleiner Betriebe in Deutschland verbessern helfen soll.

Das Labor fuer Produktionsorganisation der Universitaet Kassel, kurz LPro, befasst sich schwerpunktmaessig mit der Rechnerunterstuetzung betrieblicher Aufgaben. Zusammen mit anderen Fachbereichen der Hochschule (Konstruktion, Fertigungstechnik etc.) stellt sich LPro die Aufgabe, Hard- und Software zu beschaffen, zu installieren und weiterzuentwickeln, die den Anforderungen mittlerer und kleiner Betriebe bis zum Jahr 2000 gerecht wird.

Der Anforderungsrahmen wurde zusammen mit REFA erarbeitet und ist unter anderem in der REFA-Broschuere "REFA-CIBO" dokumentiert, die eine offene Systemarchitektur bestimmter Auspraegung fuer allgemeine betriebliche Anwendungen vorschlaegt. Dieses Modell wird deshalb auch als REFA OSA bezeichnet. Es ist eine praxisgerechte und leicht anwendbare Ableitung von CIM OSA, einer allgemeinen Architektur, die von der Europaeischen Forschungsinitiative Esprit (European Strategic Programme for Research and Development in JT) vorgeschlagen wird.

Es war nicht zuletzt der Frust ueber diese Forschungsgremien, die die Belange der kleinen und mittleren Unternehmen erst neuerdings mehr halbherzig und buerokratisch als praxisgerecht aufnehmen, der uns zu dieser Aufgabe fuehrte.

Anforderungsrahmen

Aus dem REFA-OSA-Konzept ergibt sich - ohne das im Detail ableiten zu wollen - fuer zukunftsweisende allgemeine betriebliche Anwendungen die klare Forderung nach einem schlanken, verteilten Hard- und Softwarekonzept: Das REFA-OSA-Modell sieht eine gleichberechtigte verteilte Struktur von Hard- und Software fuer die verschiedenen Aufgaben und Funktionen einer Anwendung vor. Zentrale hierarchische Konzepte werden also ausgeschlossen. Vorgeschlagen werden vielmehr Rechnergruppierungen, die sich an die organisatorische Gliederung nach Aufgaben und/oder Funktionen anlehnt: Solche Rechnergruppierungen koennen durch zwei Konzepte abgedeckt werden:

-Midrange-Sile-Systeme, also etwa Unix-Rechner mit X-Terminals und

-Client-Server-Systeme, also Systeme, die als Terminals immer Rechner verwenden, in der Regel PCs.

Die Entscheidung fiel eindeutig gegen Loesung Nummer eins und fuer Variante zwei aus. Dies aus zweierlei gewichtigen Gruenden, die mit den noch folgenden Anforderungen eng zusammenhaengen:

Der Endbenutzer soll den gewohnten PC-Komfort nutzen koennen und sich nicht mit irgendwelchen X-Oberflaechen herumschlagen muessen. Die Wissenschaftler sehen hier natuerlich den Makel einer nur bedingten Offenheit: Die X-Oberflaechen wie OSF Motif sind standardisiert, die PC-Oberflaechen wie Windows nicht. Die praktische "Beliebtheit" verhaelt sich umgekehrt proportional.

Das zweite wesentliche Argument: Alle betrieblichen Anwendungen sollen vom PC aufwaerts kompatibel sein. Der PC wird sich immer weiter zum rechten Kraftpaket entwickeln, und schon jetzt wird sich jeder Unternehmer gluecklich schaetzen, wenn er sein Risiko dadurch minimieren kann, dass er eine Anwendung erst einmal im PC- Bereich testet, ehe er den grossen Einsatz ueber ein verteiltes Konzept freigibt.

Damit stand fest: Als Clients kommen nur PCs mit Windows- Oberflaeche in Frage. Dabei spricht nichts dagegen, eher sehr viel dafuer, auf Servern Unix zu verwenden. Es gibt kaum andere offene, das heisst standardisierte Betriebssysteme, die eine Verteilung entsprechend unserer Forderung zulassen.

Verteilte Anwendungen und verteilte Daten

Der betriebsorganisatorische Hintergrund einer Verteilung gemaess dem REFA-OSA-Konzept ist eng mit den Gruenden fuer eine staerkere Ausschoepfung des Mitarbeiterpotentials durch Abbau der Hierarchie, durch Gruppenorganisation und Selbstregulierung der Gruppen verbunden. Dieses Ziel laesst sich aber nur dann erreichen, wenn nicht nur die Hard- und Betriebssoftware, sondern auch die Anwendungssoftware und die Datenorganisation diesem Konzept folgen.

Daraus ergibt sich die klare Forderung nach verteilten Datenbanken. Jede Gruppe muss ihre Datenbank anlegen und verwalten koennen, und sie muss dennoch den - ueber Berechtigungszuweisungen geschuetzten - Zugriff auf die Daten der anderen haben. Gleiches gilt fuer die Anwendungen: Jede Gruppe muss ihre Anwendung aktiv mitgestalten und veraendern koennen und auch auf andere schutzgerecht zugreifen koennen. Negativ ausgedrueckt: Es soll kein Superanwendungssystem mit allen denkbaren Funktionen irgendwo auf einem Server angeboten werden, aus dem sich die Benutzer ihre Funktionen erst muehsam "herausklauben" muessen.

Die Benutzer sind heute schon muendiger, als die RZ-Chefs es wahrhaben wollen. Viele individuelle Applikationen wie etwa Excel stellen zentrale strategische Anwendungen mittlerweile schon haeufig in die Ecke. Und die Muendigkeit der Benutzer nimmt zu!

Aus der Verteilung der Hardware, der Daten und der Anwendungen ergibt sich zwingend die Forderung nach benutzerfreundlichen und einheitlichen Oberflaechen. Die Anwort dazu kann sich eigentlich nur im Rahmen von DOS und Windows und allem, was hierzu kompatibel ist, bewegen. Das ist eine Welt, die ein "normaler" Benutzer akzeptiert, die er gewohnt ist und versteht.

Die DV-Anwender haben sich an den PC gewoehnt

Diese Antwort haben wir auch schon aus der Forderung abgeleitet, dass unser Konzept PC-kompatibel sein muss. Erstens weil die PCs immer leistungsfaehiger werden. Zweitens ist so eine einheitliche Loesung fuer kleine und groessere Anwendungen sichergestellt.

Aus den obengenannten Forderungen ergibt sich weiter, dass eine Benutzergruppe ihre Applikation sicher nur dann mit dem wuenschenswerten Eigeninteresse pflegt und foerdert, wenn die DV- Barrieren der Programmiersprache, Systemkommandos etc. ueberwunden werden.

Die Forderung lautet also: Jeder Benutzer soll ohne DV- spezifisches Wissen in der Lage sein, eine Anwendung zu aendern oder weiterzuentwickeln. Excel und Word unter anderem machen es vor: Zwar haben Schreibkraefte der aelteren Generation noch Probleme mit den PC-Anwendungen, ihre juengeren Kollegen hingegen weniger.

Diese Forderung nach Einfachheit der Anwendungen gilt es fuer allgemeine betriebliche Programme wie Produktionsplanung und - steuerung, Betriebsdatenerfassung, Kalkulation etc. umzusetzen - also nicht nur fuer Textverarbeitung und kaufmaennische Grafik.

Ein verteiltes System bedarf naturgemaess einer sehr klaren Rahmenstruktur, um fuer jeden Anwender transparent zu sein. Diese Rahmenstruktur wird durch REFA-OSA angeboten.

Uebrigens stellte sich hier die Frage, ob sich solch eine Rahmenstruktur nicht schon durch eine Einbindung in die Software sichern liesse. Die Benutzer waeren damit an eine gewisse Ordnung angebunden. Ansonsten entstuende ein Anwendungschaos, das den auch nicht immer ineffizienten Mechanismen der Chaosorganisation folgt. Wichtig ist es in diesem Zusammenhang auch, die Integritaet, Konsistenz und Redundanzfreiheit nicht nur der Daten, sondern auch der Anwendungen zu sichern.

Hard- und Software:

Angebot und Auswahl

Fuer die Pilotinstallation in den verschiedenen Fachbereichen der Universitaet Kassel wollte man sechs Server beschaffen. Zirka 70 PCs waren vorhanden und sollten eingebunden werden. Fuer Hard- und Software standen knapp eine Million Mark zur Verfuegung. Uebrigens sind die Hochschulpreise deutlich guenstiger als die Marktpreise. Die Nachlassstruktur ist bei allen Anbietern etwa gleich, so dass der Anbietervergleich durchaus auch fuer gaengige Marktpreise gilt.

Eines sei vorweggenommen: Der absolute Preis sollte fuer die Anschaffungsentscheidung weniger relevant sein. Der endgueltige Beschaffungspreis einschliesslich Hardware und aller Betriebs- und Anwendungssoftware lag unter 500 000 Mark. Als Planungs- und Beschaffungszeitraum wurden zwei Jahre angesetzt, installiert wurde Anfang 1994.

Hardware

Der gewuenschte Durchsatz soll fuer die Server bei ueber 60 Specmarks liegen, an Hauptspeicher waren mindestens 32 MB, an Plattenkapazitaet 2 GB gefragt. Fuer die Datensicherung sollte zusaetzlich ein Streamer eingesetzt werden.

Auf unsere Anfragen hin haben DEC, HP, IBM, SNI und Sun an der Ausschreibung teilgenommen. Unsere Vorstellungen bezueglich eines "Superservers" waren dabei im Prinzip ueberfluessig: Kleinere Server lassen sich auf kostenguenstige Weise nachtraeglich hochruesten. Alle am Auswahlverfahren beteiligten Maschinen waren in etwa gleich stark.

Betriebssystem

Das Betriebssystem muss entsprechend der obengenannten Anforderungen Unix sein. Die Praxis hat zudem gezeigt, dass das Problem unterschiedlicher Derivate so lange von untergeordneter Bedeutung ist, wie die Kommunikation nicht auf der Betriebssystemebene - die wird vom Netzprotokoll abgedeckt -, sondern auf der Anwendungsebene ablaeuft.

Kommunikation

In Frage kommen aus Gruenden der Homogenitaet und der Einfachheit TCP/IP und/oder Ethernet. Fuer die Server-Verbindung verwendeten wir ein Ethernet-Protokoll, das vom Hochschulrechenzentrum zur Verfuegung gestellt wird. Die PCs arbeiten mit den Serven meist ueber TCP/IP. PCs und Server haengen alle am gleichen Kabel.

Datenbank

Geeignet sind objektorientierte oder SQL-Datenbanken. Wichtig ist: Sie muessen sowohl den einzelnen PC als auch Mehrplatzsysteme unter Unix bedienen und sie muessen eine brauchbare Programmier- Schnittstelle aufweisen, etwa zu C oder C++.

Aufgrund der Forderung nach einem zwar zukunftsweisenden, aber auch betriebsnahen Konzept faellt die Entscheidung bezueglich des Datenbankstandards leicht: SQL. Dabei ist die Weiterentwicklung der SQL-Datenbanken zu objektorientierten Konzepten einbezogen. Bleibt die Frage, fuer welche SQL-Datenbank man sich am besten entscheidet. Hier sollten die gewuenschte, moeglichst betriebsnahe Anwendungsbreite und der Preis als Kriterien dienen.

Anwendung

Bei den Anwendungen gilt es, den Anwendungsrahmen nicht nur von CAD/CAM abzudecken, sondern alle gaengigen betrieblichen Applikationen zu beruecksichtigen: Hierzu gehoeren Planung und Steuerung, Ueberwachung und Abrechnung fuer den Vertrieb, Entwicklung, Produktion, Qualitaetssicherung sowie die Verwaltung einschliesslich der Bilanzbuchhaltung und Kontofuehrung. Der Benutzer soll dabei mit der vorgesehenen einfachen Oberflaeche selbst eingreifen, aendern und konfigurieren koennen.

Ergebnis

Bei der Auswahl ist neben der Funktionserfuellung der Preis entscheidend. Bezueglich der Hardwarekosten liegen IBM und DEC dicht beieinander. Das Rennen machte schliesslich IBM mit der Serie RS/6000. Wegen einiger Software-Kompatibilitaetsfragen zu technischen Anwendungen wurde auch HP mit zwei Maschinen beruecksichtigt. Bei der Datenbank bieten Informix und Oracle etwa das gleiche Leistungsspektrum. Beide werden installiert und eingesetzt, um eine moeglichst breite Basis betrieblicher Anwendungen zu erhalten.

In puncto Planungs-, Steuerungs- sowie Ueberwachungs- und Abrechnungssoftware sah es allerdings schlecht aus. Hier gab es nichts, was unseren Anspruechen nach einer zukunftsorientierten Handhabung entsprochen haette. Deshalb musste das LPro selbst aktiv werden und entwickelte "Aibas" (Allgemeine individuelle betriebliche Anwendungssoftware).

Der Begriff Aibas weist auf den allgemeinen Rahmen von Standardsoftware und den individuellen Rahmen von Eigenentwicklung hin. Ziel hinsichtlich der zu entwickelnden Software war es, unter Einbeziehung aller neuen benutzerfreundlichen Techniken den Konflikt zwischen Standard- und Individualsoftware aufzuheben.

Dem Benutzer sollte ein Paket von Standards fuer die verschiedenen betrieblichen Anwendungen und von Werkzeugen fuer eine beliebige Anpassung an die Hand gegeben werden. Die Werkzeuge sind ohne jede Programmierkenntnis nach dem Stil der Windows-Oberflaeche aufgebaut und lassen sich vom Benutzer in dreierlei Weise fuer die eigene Anwendungsentwicklung nutzen:

-Anpassung der Referenzmodelle mit den Werkzeugen;

-Bau eines Anwendungssystems mit den Bausteinen aus dem Katalog und den Werkzeugen sowie

-Bau eines Anwendungssystems nur mit den Werkzeugen.

Aibas wurde nach dem REFA-OSA-Modell konzipiert: Es ist ein verteiltes offenes System, wobei das REFA-Modell selbst eine Art Entwurfs- und Konstruktionshilfe beinhaltet. Das OSA-Modell zeichnet sich durch seine Einfachheit, Praxisnaehe und Anpassungsfaehigkeit aus. Aibas will in diesem Sinne keine Einzelloesung, sondern einen betriebsumfassenden Ansatz darstellen. Die Ansaetze im Produktionsbereich sind besonders gut ausgepraegt.

Aibas enthaelt folgende Komponenten:

-Entwurfshilfe auf Basis von REFA-OSA;

-Entwicklungs- und Anpassungswerkzeuge mit grafischer

Fuehrung des Benutzers;

-Infrastrukturwerkzeuge nach dem Group- und Workflow-Prinzip;

-Referenzmodelle insbesondere fuer den Bereich der Produktion sowie einen

-Bausteinkatalog insbesondere fuer anspruchsvollere Aufgaben wie Aufloesung, Verwendungsnachweis etc.

Die Entwicklungs- und Anpassungswerkzeuge umfassen zudem vier Generatoren, die, aufeinander abgestimmt, eine klare logische Folge der Entwicklungsschritte bilden:

-Datenbankfenster,

-Masken- und Listengenerator,

-Methodengenerator sowie einen

-Menuegenerator.