Selbstbeschraenkung vermeidet frustrierende Erfahrungen Dinosaurierhafte CIM-Projekte sind zum Scheitern verurteilt Von Claus Burger*

08.10.1993

Die Begriffe Rechnerintegration in Produktionsunternehmen, rechnerintegrierte Fabrik und CIM stammen alle aus der zweiten Haelfte der 80er Jahre und haben in den letzten Jahren deutlich an Glanz verloren. Der CIM-Trend wurde zwischenzeitlich durch die Lean-Bewegung abgeloest. Dabei koennten die beiden sich ergaenzenden Ideen zu einem neuen Ansatz zusammengefuehrt werden: "Lean CIM" beziehungsweise "CIM light".

Die Anfang der 80er Jahre aufkommenden PCs und Workstations haben durch Grafikfaehigkeit und niedriges Preisniveau neue Moeglichkeiten fuer technisch-wissenschaftliche Rechneranwendungen eroeffnet. Schnell etablierten sich seither in der Industrie die sogenannten C-Techniken (CAD, CAP, NC-Programmierung), und es entstanden DV- technisch relativ gut unterstuetzte Arbeitsplaetze, zum Beispiel fuer Konstruktion und Arbeitsvorbereitung. Fuer Stammdatenverwaltung und Auftragsabwicklung wurden - zumeist noch auf dem Host - PPS- Systeme eingefuehrt.

Alle Anwendungen stellten, fuer sich betrachtet, bereits hoch entwickelte Inselloesungen dar, die allerdings kaum Schnittstellen zu anderen Systemen besassen und die daher nicht im erforderlichen Masse Daten austauschen konnten. Redundante Datenhaltung, Probleme mit der Datenkonsistenz, wiederholte Datenerfassung und zeitraubende Doppelarbeiten waren die Folge.

Als Loesung hat man ab Mitte der 80er Jahre die vollstaendige Rechnerintegration in Produktionsunternehmen, CIM (Computer Integrated Manufacturing), propagiert. Vor allem in groesseren Industrieunternehmen brach eine regelrechte CIM-Euphorie aus. CIM sei modern, wurde als Wettbewerbsfaktor fuer unbedingt notwendig gehalten und als Wundermittel fuer Probleme mit dem innerbetrieblichen Informationsfluss gehandelt.

Die CIM-Euphorie der Anfangsphase ist vorbei

Fuer manchen war sogar der Begriff CIM noch nicht weit genug gefasst; neue Wortschoepfungen tauchten auf: CAI (Computer Aided Industry), CIB (Computer Integrated Business), CIL (Computer Integrated Logistics) etc. Ueber gemeinsame Datenbestaende und Schnittstellen sollten alle bestehenden Inselloesungen integriert oder durch homogene Gesamtloesungen ersetzt werden. Umfassend angelegte Projekte wurden begonnen, die das unternehmensweite CIM- Konzept beziehungsweise die geeignete CIM-Architektur definieren und umsetzen sollten.

Als Anfang der 90er Jahre die Erfahrungen aus solchen Vorhaben bekannt wurden und zugleich das Wirtschaftswachstum erlahmte, schlug die Stimmung ins Gegenteil um. Enorme Investitionen waren vorgenommen worden, zum Teil ohne einen angemessenen nachweisbaren Nutzen nach sich zu ziehen. Durch die steigende Automatisierung und Rechnerintegration war die Komplexitaet der Produktionsprozesse und der Datenverarbeitung stark angestiegen. Gleichzeitig aenderten sich die Rahmenbedingungen von seiten des Marktes immer schneller. Anfangs optimale CIM-Konzepte waren bis zu ihrer vollstaendigen Realisierung bereits teilweise ueberholt und vor allem nicht mehr zu bezahlen. Das Schlagwort CIM war abgenutzt.

Nach der anfaenglichen Euphorie und der darauf folgenden Desillusionierung befindet CIM sich gegenwaertig in einer Reifephase. Das Konzept ist mittlerweile den Kinderschuhen entwachsen. Die Gruende fuer die bisherige Entwicklung liegen in Illusionen und vermeidbaren Fehlern.

Schlechte Organisation wird mit DV nicht besser

CIM wurde anfangs von vielen Entscheidungstraegern als strategisches Allheilmittel betrachtet. Mit Hilfe der Rechnerintegration sollten Geschaeftsablaeufe optimiert und Kosten gesenkt werden, ohne die bestehende Aufbau- und Ablauforganisation gravierend veraendern zu muessen. Eine mangelhafte Organisation wird aber durch hoehere DV-Integration hoechstens unwesentlich besser. Es besteht sogar die Gefahr, dass die suboptimale Organisation einfach "in Software gegossen" (zementiert) wird, was spaetere Verbesserungen noch weiter erschwert. Um bestmoeglichen Nutzen aus CIM ziehen zu koennen, gilt es zunaechst, die Organisationsstrukturen grundlegend zu ueberarbeiten und Ablaeufe sowie Grunddaten umzugestalten.

Die Projektverantwortlichen aus Industrie und Systemhaeusern haben CIM-Gesamtloesungen oft als "aus einem Guss" machbar eingestuft und mit urdeutschem Perfektionismus auch so geplant. Die aus diesem umfassenden Integrationsansatz resultierende, kaum beherrschbare Komplexitaet und die entstehenden Kosten haben sie dabei gewoehnlich unterschaetzt.

Viele ehrgeizige Projekte sind heute CIM-Ruinen

Die Folge war, dass Loesungen, die als Komplettsystem angelegt waren und die auch nur als geschlossenes Ganzes wirksam werden konnten, nur in Einzelteilen nach und nach eingefuehrt wurden. Oder sie wurden letztendlich ueberhaupt nur teilweise realisiert und konnten dadurch ihre Vorzuege auch niemals entfalten. Die so entstandenen CIM-Ruinen haben die Rechnerintegration unberechtigt in Verruf gebracht.

Die DV-Spezialisten haben ihren Teil zu dieser Entwicklung beigetragen. Mit wenigen Ausnahmen haben sie lange Zeit nicht deutlich zum Ausdruck gebracht, in welchem Ausmass datenverarbeitungstechnische Pionierarbeit erforderlich war. Die meisten Anwendungssoftwarepakete basierten seinerzeit nicht auf relationalen Datenbanken und hatten auch kaum offene Daten- Schnittstellen. Fuer die Vernetzung unterschiedlicher Rechner und den erforderlichen Datenaustausch gab es weder standardisierte Protokolle noch geeignete Softwarewerkzeuge. Auch die aus Sicht des Managements unbedeutendsten, systeminternen Softwareteile konnten so einen gewaltigen Aufwand verursachen.

Manche CIM-Ansaetze sind daher vor allem wegen grober Fehleinschaetzungen, falscher Praemissen und unerfuellter - weil unerfuellbarer - Erwartungen in Misskredit gekommen und nicht, weil der CIM-Gedanke an sich falsch oder ungeeignet ist. CIM wurde anfangs haeufig fehlinterpretiert, es gab keine ausreichenden Erfahrungen.

Fehler aus den ersten CIM-Projekten sind bekannt. Die ersten Versuche waren zu perfektionistisch, zu komplex und zu teuer. Dabei gibt es durchaus altbekannte Weisheiten, die lediglich nicht ausreichend beruecksichtigt wurden: Das Gesamte ist mehr als die Summe der Einzelteile. Oder das Prinzip "Keep it small and simple".

Offene Systeme machen CIM-Vorhaben einfacher

Scheinbar neues Gedankengut aus den USA und Japan beeinflusst in zunehmendem Masse deutsche Industrieunternehmen: Nach Lean Production die schlanke Organisation und schlanke Software. Dabei basieren alle Lean-Ansaetze eigentlich nur auf einer Konzentration auf das Wesentliche, den Wertschoepfungsprozess, verbunden mit einer Reduzierung aller nicht unmittelbar beteiligten, unproduktiven Anteile. Darauf haette man mit etwas mehr Pragmatismus auch ohne eine MIT-Studie kommen muessen.

Lean CIM, die schlanke Rechnerintegration, ist die logische Konsequenz. Die unbestreitbaren Vorteile beider Ansaetze lassen sich verbinden. Schlanke Rechnerintegration bedeutet weniger umfassende Integrationsansaetze, die datenverarbeitungstechnisch leicht zu beherrschen sind und die gleichzeitig die Beherrschung der komplex gewordenen automatisierten Produktionsprozesse ermoeglichen. Solche Ansaetze versuchen, den Anwendern moeglichst viel Freiheit und Flexibilitaet zu erhalten. Es handelt sich um kleine dezentrale anstatt komplexer zentraler Loesungen, die vor Ort optimale Unterstuetzung fuer die Geschaeftsabwicklung bieten und trotzdem das Gesamtoptimum nicht vernachlaessigen.

Auf seiten der Informations- technik lassen sich viele CIM- Hemmnisse mittlerweile als ausgeraeumt betrachten. Die dezentrale Informationsverarbeitung mit PC- und Workstation-Netzen hat einen Stand erreicht, dass nicht mehr in jedem Projekt die gesamte Basisfunktionalitaet - beispielsweise fuer Oberflaeche, Vernetzung und Datenaustausch - neu zu erfinden ist. Vor allem im Bereich der offenen Systeme und der PCs existieren De-facto-Standards und Tools, die die Software-Entwicklung und -pflege sehr vereinfachen.

Ausserdem haben sich in diesem Bereich die Kosten fuer Rechnerhardware in Relation zur Leistungsfaehigkeit durch den staendigen Preisverfall seit Mitte der 80er Jahre um ueber 90 Prozent reduziert - bei gleichzeitiger Steigerung der Software- Entwicklungsproduktivitaet und ebenfalls sinkenden Kosten. CIM ist somit heute wesentlich leichter realisierbar und auch eher bezahlbar geworden.

Es gibt schon fuer viele Branchen Standardpakete

Anwendungssoftwarepakete bauen heute meist auf relationalen Datenbanken auf, was die Integration unterschiedlicher Anwendungen sehr erleichtert. Fuer viele Branchen sind speziell ausgerichtete Anwendungen auf dem Markt verfuegbar, die einen Grossteil der unternehmensspezifischen Anforderungen abdecken. Standards erleichtern den Austausch technischer Daten.

Eine CIM-Loesung ist daher heute nicht mehr vollstaendig individuell zu entwickeln, sondern kann Standard- oder Branchensoftwarekomponenten einbeziehen. Fuer individuelle Anwendungen, fuer die Integration der einzelnen Komponenten und fuer Schnittstellen sind jedoch nach wie vor individuelle Softwareteile erforderlich.

Zeit- und Kostenvorteile sind die entscheidenden Faktoren fuer die Wettbewerbsfaehigkeit eines Industrieunternehmens. Angemessene Automatisierung und moderate Rechnerintegration sind inzwischen probate Mittel, sich diese Vorteile zu sichern. Auch unter Lean- Gesichtspunkten bleiben die Produktionsautomatisierung und CIM richtige Wege, um Zeit- und Kostenvorteile zu erzielen.

Aber Augenmass ist gefragt. Nicht der umfassendste und technisch eleganteste Ansatz ist der richtige, sondern derjenige, der flexibel, nicht zu komplex, leicht beherrschbar und schnell einzufuehren ist, und der im Betrieb bei vertretbarem Investitionsvolumen tatsaechlich nachweisbar Zeit und Kosten spart.

Jede neue CIM-Loesung muss die Geschaeftsabwicklung vereinfachen und beschleunigen und mit der strategisch-organisatorischen Ausrichtung des Unternehmens harmonieren. Aber nicht nur eine rein strategische Management-Entscheidung, sondern die richtige Relation von Kosten und Nutzen sollte den Ausschlag bei der Entscheidung ueber CIM-Vorhaben geben.

Der Fortschritt in der Leistungsfaehigkeit von Informa- tionstechnik und Anwendungs- software ermoeglicht heute Integrationsansaetze, die praezise auf die Anforderungen des Unternehmens zugeschnitten sind, ohne gleichzeitig eine umfangreiche Individualloesung erforderlich zu machen. Mit modernen Hilfsmitteln laesst sich Rechnerintegration relativ einfach und kostensparend realisieren. Der schlanken Rechnerintegration, Lean CIM, steht somit heute nichts mehr im Wege.

* Dr.-Ing. Claus Burger ist Berater bei der Mummert + Partner Unternehmensberatung GmbH, Geschaeftsbereich Industrie und Handel, in Muenchen.