Karriere im Internet-Handel

Selbst ist der Mann

22.02.2000
Von VON Winfried
Im elektronischen Handel gelten andere Gesetze. Das trifft auch auf den Berufseinstieg zu. Zu den Jobs im E-Commerce führen mitunter ungewöhnliche Wege.

Im electronic commerce werden nicht nur traditionelle Verkaufskanäle auf den Kopf gestellt. Auch die Sitten haben sich geändert. Seit die Shootingstars Amazon, Ebay und auch QXL die internationalen Analysten und Investoren im Sturm eroberten, brechen auch für Einsteiger neue Zeiten an. Wer schnell genug seinen Fuß in die Tür bekommt, kann sich später die Jobs aussuchen. Mit umständlichen Bewerbungsverfahren muss sich niemand mehr herumplagen.

Ohne die Fühler auf dem Personalmarkt auszustrecken, ist Michael Beckh in den Internet-Handel eingestiegen. Nach genau acht Semestern schloss der Wirtschaftsinformatiker Ende 1999 sein Studium an der Universität Nürnberg-Erlangen ab und ist mittlerweile bei der Atrada Trading Network AG untergeschlüpft. Wie die fünfköpfige Gründermannschaft und viele seiner neuen Kollegen stammt auch Beckh aus dem Umfeld von Professor Peter Mertens (mertens@wiso.uni-erlangen.de), der nicht nur zahlreiche Projekte in anwendungsbezogener Forschung vorantreibt, sondern sich auch der Gründung von neuen Firmen aus der Hochschule heraus verschrieben hat.

"Mittlerweile hat sich daraus ein Netzwerk gebildet, aus dem viele Unternehmen ihren Nachwuchs rekrutieren", sagt Personalvorstand Stefan Morschheuser. Anzeigen in Tageszeitungen zu schalten wird dadurch überflüssig. Die meisten Mitarbeiter von Atrada kommen aus der Region. "Spannende Arbeitsbereiche", verspricht Morschheuser, mit "steilen Lernkurven" in E-Commerce und Internet. Die offene Arbeitsatmosphäre trage dazu bei, dass die Fluktuation gegen Null tendiert und permanente Abwerbungsversuche von Headhuntern zum Scheitern verurteilt sind.

Im Unterschied zu Atrada, das einen facettenreichen Handelsplatz ins Internet gestellt hat, ist die Frankfurter Portum AG auf die "Reverse auction" spezialisiert. Das fünfköpfige Führungsteam, fast ausnahmslos ehemalige Manager der IBM-Tochter Sercon, will Einkäufern großer Unternehmen bei der Einsparung von Millionensummen unter die Arme greifen. Der Clou: Online und ohne voneinander zu wissen unterbieten sich zahlreiche Lieferanten um einen Großauftrag. Vor allem der strategische Einkäufer wird so von der zeitaufwendigen Suche nach weltweiten Spezialanbietern befreit und kann sich anderen Aufgaben widmen.

Das Modell hat große Zukunft. Wie die Marktforscher von Forit in einer Umfrage unter Chefeinkäufern der Industrie ermittelten, soll der Einkaufsumsatz im Internet in den nächsten Jahren um das Zehnfache steigen, während der Umsatz über den herkömmlichen Vertrieb nur um den Faktor sechs zulegen soll. Für Aufbruchstimmung ist bei Portum gesorgt. Pilotprojekte in der Automobil-, Chemie- und Halbleiterindustrie sind schon unter Dach und Fach. Mit der BASF steht man kurz vor einer langfristigen Kooperation. Personal- und Finanzvorstand Melanie Prester: "Wer bei uns einsteigt, ist beim Boom von Anfang an dabei." Insbesondere Softwarespezialisten sollten sich angesprochen fühlen. Denn aus der IBM-Tochter Sercon habe man jede Menge Entwicklungswissen ins Unternehmen eingebracht.

Von Frankfurt aus den europäischen Markt aufrollen

Prester, die vorher als Chief Financial Officer einer Investmentfirma zahlreiche Börsengänge begleitete, verspricht auch internationale Perspektiven. "Von Frankfurt aus wollen wir den europäischen Markt aufrollen und Auslandstöchter gründen." Davon hat sich auch Michael Hinrich, 26, anregen lassen. Mit seiner Diplomarbeit über virtuelle Märkte hat sich der BWL-Absolvent der Uni Frankfurt ein gutes Entrée bei Portum verschafft. Mit seinem Nebenfach Wirtschaftsinformatik ist er vorbereitet, um Business-Portale aufzubauen, Inhalte zu akquirieren und die neuen Entwicklungen auch gleich zu vermarkten.

Internet-Pioniere wie Portum, Atrada und QXL können sich aufgeblähte Hierarchien und altbackene Umgangsformen nicht leisten. Wer anheuert, kann sofort die Ärmel hochkrempeln. Eigene Ideen zu entwickeln ist selbstverständlich - man muss sie aber auch durchzusetzen wissen. Am besten, man kalkuliert auch gleich ein passendes Budget ein. Beim Thema Gehalt halten sich die Unternehmen jedoch bedeckt. Erwarten können Einsteiger aber Erfolgsbeteiligungen, die jeweils zum Jahresende fällig werden.

Atrada-Einsteiger Beckh hat sich seinen Arbeitsvertrag zuschicken lassen. Er hat sich für ein höheres Grundeinkommen entschieden und verzichtet dafür auf einige Zusatzleistungen. Und wie steht es um die Weiterbildung? Atrada-Vorstand Morschheuser macht keinen Hehl daraus, dass es bisher keine Zeit gab, ein strukturiertes Personalentwicklungsmodell auf die Beine zu stellen. Beckh ist sogar der Ansicht, Weiterbildung sei Sache des Mitarbeiters und damit seine eigene. Learning by doing, der Wissenszuwachs durch intensive Projektarbeit habe absolute Priorität. Bei Atrada hat man ein Intranet-Forum eingerichtet, das die Mitarbeiter laufend mit Neuigkeiten füttern.

QXL-Mitarbeiter Frieder Egermann, 23, kann sich über viele Regelungen im Internet-Handel nur amüsieren. Überhaupt hält der Marketing-Manager die Ansprüche vieler Unternehmen an die Qualifikation ihrer Beschäftigten für überzogen. "Schreiben Sie das ruhig", diktiert er dem Autor in den Notizblock. Animierte Grafiken aufbauen, Marketing-Deals abschließen, Events planen - dafür müsse niemand ein BWL- oder Informatikexamen vorweisen. "Das meiste kann man sich selbst aneignen", ist der aufgeweckte Selfmademan überzeugt.

Händeringend gesucht sind Egermann zufolge sogenannte Trend-Scouts, die in der Szene herumschnüffeln und hippe News ins Internet bringen. Sein abgebrochenes Studium der Kommunikationswissenschaft wird er wohl kaum wieder aufgreifen. Doch auf akademische Weihen will er nicht ganz verzichten. In Brüssel hat er den"European Master of Multimedia Business Adminstration" entdeckt.

*Winfried Gertz ist freier Journalist in München.