Ergonomie

Selbst gute Bürostühle gibt es nur beim Umzug

09.01.1998

Von Petra Adamik*

Auf dem 25. Internationalen Kongreß A&A zogen Anfang November in Düsseldorf Arbeitsmediziner, Ergonomen, Beamte der Gewerbeaufsicht sowie Vertreter der Berufsgenossenschaften zum Thema Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin vier Tage lang eine traurige Bilanz: Rund 90 Prozent aller Bildschirmarbeitsplätze in Deutschland entsprechen derzeit nicht den EU-Vorgaben über ergonomische Anforderungen.

"Etwa 80 Prozent unserer Arbeitsplätze, an denen mit Bildschirmen gearbeitet wird, weisen hinsichtlich ihrer ergonomischen Ausstattung mehr oder minder große Mängel auf", beschreibt Ernst Hölzl, Sprecher des Ausschusses Arbeitssicherheit und Umweltschutz des Siemens-Betriebsrates am Münchner Standort Hofmannstraße, die aktuelle Situation bei dem Elektronikriesen. Von den 15000 Arbeitsplätzen an diesem Standort wurden in den vergangenen Jahren Zug um Zug nahezu vier Fünftel mit Computern und Bildschirmen versehen. Das Mobiliar und die restliche Büroausstattung paßte man aber den modernen Erfordernissen in der Regel nicht an.

"Bereits 1995 wurde die Betriebsleitung von der Münchner Gewerbeaufsicht schriftlich darauf hingewiesen, daß sie gut beraten sei, schon im Vorfeld der gesetzlichen Verordnung eine Bestandsaufnahme der Arbeitsplätze vorzunehmen, um Verbesserungen zu erreichen", berichtet Hölzl. "Passiert ist trotzdem nichts." Man wolle die Arbeitsplätze, so die Begründung der Unternehmensleitung gegenüber dem Betriebsrat, von einer zentralen Stelle aus an allen deutschen Standorten nach einheitlichen Kriterien beurteilen.

Dafür entstand gar eine eigene Software, die allerdings zunächst nur bildschirmlose Arbeitsplätze berücksichtigte. An der notwendigen Erweiterung für Computerarbeitsplätze wird noch gearbeitet. "Ein unnötiger Aufwand, da es mittlerweile hervorragende Programme gibt, die von verschiedenen Verbänden und Berufsgenossenschaften bereitgestellt werden", schimpft Hölzl. Mittlerweile hat der Betriebsrat einen Rechtsanwalt beauftragt, um seinen Forderungen nach ergonomischen Arbeitsplätzen mehr Nachdruck zu verschaffen.

Für den Betriebsrat ist die starre Haltung der Unternehmensleitung auch deshalb unverständlich, weil die Betriebsärzte darauf hingewiesen haben, daß die schlechte Ergonomie der Arbeitsplätze in der Hofmannstraße für rund 20000 Ausfalltage im Jahr verantwortlich zu machen ist, die durch Erkrankungen am Bewegungsapparat entstehen.

Um das Bewußtsein der Mitarbeiter für ihren körperlichen Zustand zu schärfen und die Ausfallzeiten zu reduzieren, hat man auf der Vorstandsebene das Siemens-Programm "Top in Form" initiiert und darüber hinaus als ersten Schritt neue Bürostühle bewilligt. Die gibt es allerdings nur, wenn ohnehin eine neue Büroeinrichtung oder ein Umzug notwendig ist, moniert Hölzl.

Seit einiger Zeit sind darüber hinaus Fremdfirmen engagiert, um im Rahmen eines Ergonomietrainings Mitarbeitern praktische Hilfestellung zu geben. Das reicht von der richtigen Einstellung des Bürostuhls über die geeigneten Lichtverhältnisse im Büro bis hin zum allgemeinen Wohlbefinden am Arbeitsplatz und der Kontrolle der eingesetzten Arbeitsmittel. "Aber solche Maßnahmen kosten Geld, und das wird nicht in jeder Abteilung problemlos bewilligt", kommentiert Hölzl.

Zunehmendes Interesse am Thema Arbeitsplatzbeurteilung verzeichnet die Münchner Niederlassung der Berufsgenossenschaft der Banken, Versicherungen, Verwaltungen und freien Berufe.

Johannes Schott, Leiter des Bereichs Prävention, gibt mit seinem Team von zwölf Mitarbeitern bei der Arbeitsplatzbeurteilung kostenlose Hilfestellung. Umfangreiches Informationsmaterial schildert zahlreiche Variationsmöglichkeiten für eine ergonomische Arbeitsplatzgestaltung und enthält entsprechende Checklisten. Dabei beschränkt sich die Genossenschaft nicht nur auf die Bildschirme, sondern bezieht auch das Mobiliar und sonstige Arbeitsmittel ein. Eine CD-ROM enthält ein Programm zur Arbeitsplatzbeurteilung.

"Schon seit Jahren bieten wir den Unternehmen Fachseminare zur ergonomischen Arbeitsplatzgestaltung oder Bildschirmarbeitsplatzgestaltung an", berichtet Schott. 1998 sind erstmals Seminare für die Arbeitsplatzbeurteilung im Programm, mit denen die Verwaltungs-Berufsgenossenschaft in erster Linie die Sicherheitsbeauftragten anspricht. "Sämtliche Kurse sind bereits ausgebucht, so daß wir bundesweit weitere Termine anbieten, um die Wartelisten abzuarbeiten", erklärt der Münchner.

Der Trend zu ergonomischen Bildschirmen und Komponenten ist besonders bei Projektgeschäften seit einigen Jahren deutlich. "Ergonomische Anforderungen gehören schon länger zu den Ausschreibungsbedingungen von Behörden oder Großunternehmen", berichtet Doris Hauser, Marketing-Communications-Manager bei der Nokia Display Products GmbH, München. "Ausschreibungen aus dem Jahr 1997 verlangen bereits zu 80 Prozent Bildschirme mit dem TCO-95-Siegel."

Bei Microsoft zeigt man sich zufrieden mit den Umsatzzahlen für das "Natural Keyboard", das sich als Alternative zu herkömmlichen Tastaturen auf immer mehr Schreibtischen durchsetzt. Zwar hapert es noch an international einheitlichen Standards, aber verschiedene Gremien haben sich bereits mit den alternativen Tastaturen auseinandergesetzt. So hat das Natural Keyboard mittlerweile die internationale Zertifizierung nach ISO 9241 4.2 erhalten und die Ergonomieprüfung des TÜV Bayern bestanden.

Trotz dieser positiven Aspekte bleibt das Gesamtbild betrüblich. Nach einer in Köln vorgelegten Marktforschungsuntersuchung, die das Büromöbel-Forum Wiesbaden (www.buero-forum.de) bei der BBE-Unternehmensberatung im Oktober 1997 in Auftrag gab, ist erst in 17 Prozent der Büros eine Arbeitsplatzbeurteilung erfolgt.

Rund 52 Prozent der 500 befragten Unternehmen und öffentlichen Verwaltungen wollen sich erst noch näher über die notwendigen Maßnahmen informieren. Sage und schreibe 31 Prozent lehnen es gar rundweg ab, Auskünfte über gesundheitserhaltende Maßnahmen in ihren Büros einzuholen.

Die BBE-Marktforscher stellten fest, daß dort, wo der vom Gesetzgeber verlangte Gesundheitscheck bereits stattfand, die Ergebnisse bei zehn Prozent der Fälle ausgewertet und bei fünf Prozent lediglich "gesichtet" wurden. Von den 54 Prozent der befragten Unternehmen, die sich noch informieren möchten, wollen sich 27 Prozent an die Berufsgenossenschaften wenden, 22 Prozent beim Bürofachhandel, acht Prozent bei "anderem Handel" nachfragen. 16 Prozent der Betriebe wollen ihre Industrie- und Handelskammer kontaktieren, 14 Prozent beim TÜV oder Verbänden und Krankenkassen Informationen einholen und sieben Prozent mit den Büromöbelherstellern die Problematik besprechen.

Bei den bislang überprüften Büroarbeitsplätzen wurden zahlreiche Mängel festgestellt, so der Tenor der Studie. In 18 Prozent der Fälle erwiesen sich beispielsweise die Bildschirmgeräte als mangelhaft, bei 15 Prozent ließen die Arbeitsplätze zu wünschen übrig, und in neun Prozent der Fälle haperte es mit der gesamten Bürogestaltung. Das Raumklima stand mit sechs Prozent auf der Mängelliste.

Den erschreckenden Ergebnissen der aktuellen Studie stehen allerdings die Zusagen der Befragten gegenüber, daß in den nächsten Jahren mit einem Wandel zu rechnen ist. So gaben in öffentlichen Verwaltungen sogar 64 Prozent und in der Industrie 57 Prozent zu Protokoll, für die kommenden beiden Jahre Veränderungen in den Büroräumen zu planen. Investitionen in Bildschirmgeräte, Schreibtische und Arbeitsplatzsysteme sowie Bürostühle stehen auf der Prioritätenliste ganz oben.

"Es ist absolut notwendig, die Mitarbeiter für das Thema Ergonomie zu sensibilisieren und entsprechend zu schulen", resümiert Siemens-Betriebsrat Hölzl. "Die Betroffenen solletn ihre Arbeitsplätze anhand von gemeinsam erarbeiteten Listen selbst beurteilen, damit alle relevanten Aspekte in die Untersuchung einfließen.

*Petra Adamik ist freie Journalistin in München.