COMPUTERWOCHE-Roundtable zum Thema Supply-Chain-Management

SCM muss beim Kunden beginnen

14.11.2003
Analysten zufolge verspricht das Thema Supply-Chain-Management (SCM) hohe Rentabilität. Die Anwenderunternehmen hingegen klagen über langwierige Einführungsprojekte und Umstellungsschwierigkeiten. Die COMPUTERWOCHE lud drei SCM-erfahrene IT-Manager zum Erfahrungsaustausch.CW-Bericht, Karin Quack

Unterschiedlicher hätten die Interessen kaum sein können: Hans-Achim Quitmann, IT-Direktor der Hydro Aluminium Deutschland GmbH in Grevenbroich, schlägt sich vor allem mit einem Problem herum: Die kostspieligen Walzanlagen sollen bestmöglich ausgelastet werden, ohne dass sich totes Kapital in Form von internen Beständen anhäuft.

Jürgen Waas, Director Supply Chain Operations bei der Imaging and Printing Group (IPG) der Hewlett-Packard GmbH in Böblingen, koordiniert ein weit verzweigtes Supply-Netz, innerhalb dessen HP eigentlich nur noch als der Träger einer Marke fungiert. Alle Glieder der Lieferketten - einschließlich der Fertigung - befinden sich in den Händen von Partnerunternehmen.

Michael Kolodziej treibt als Geschäftsführer der DM-Drogerie Markt GmbH & Co. KG mit Hauptsitz in Karlsruhe das Thema Continuous Planning, Forecasting and Replenishment (CPFR) voran: Über eine in enger Kooperation mit den Lieferanten betriebene, zentrale Disposition will DM sicherstellen, dass jeder Kunde in jeder Filiale und jederzeit das von ihm bevorzugte Produkt antrifft.

Verschiedenartig sind denn auch die SCM-Ansätze in den drei Unternehmen. "Als Aluminiumverarbeiter haben wir lange nicht so viele Lieferanten, wie es beispielsweise im Endverbrauchermarkt üblich ist", konstatierte Quitmann. 1998/99, als Hydro, damals noch unter VAW Aluminium firmierend, in das Supply-Chain-Management einstieg, habe das "primäre Ziel" nicht darin bestanden, ein Zulieferproblem zu lösen, sondern die Liefertreue zu garantieren und die Bestände zu senken: "In unseren Werken haben wir zwischen 200 und 300 Millionen Euro im Bestand gebunden; wenn wir diese Summe reduzieren können, bringt das unmittelbar eine Ergebnisverbesserung."

Forschung und Entwicklung für Prozesse

In einem so breit gefächerten Unternehmen wie Hewlett-Packard hat das Thema SCM zwangsläufig sehr unterschiedliche Ausprägungen. Eine einzige Supply Chain könne es nicht geben, stellte Waas klar. Trotz der vier unterschiedlichen Geschäftssparten betreibe HP aber einen einheitlichen, vom jeweiligen Produkt oder Kundensegment unabhängigen Supply-Chain-Ansatz: "Wir haben auf der einen Seite der Prozesskette unsere Fertigung, auf der anderen Seite unsere Kundensegmente, und dazwischen fahren wir unser Supply-Chain-Pipe-Modell." Wobei sich die einzelnen "Pipes" an bestimmten Produktcharakteristika, beispielsweise an der "Halbwertszeit" des jeweiligen Artikels, orientierten.

"Bei uns ist SCM eine Haltungsfrage", warf Kolodziej ein. Schon 1987 habe sich der DM Drogerie Markt entschlossen, eine zentrale Logistik zu installieren, zwei Jahre später habe er den Dialog mit den Zulieferern aufgenommen: "Allerdings scheren wir unsere Lieferanten nicht über einen Kamm. CPFR zum Beispiel machen wir nur mit Lieferanten, die ihrerseits eine sehr komplexe Struktur haben."

DM produziert auch eine eigene Produktlinie, fungiert aber hauptsächlich als Handelsunternehmen. Folglich nimmt das Lieferketten-Management in der Geschäftsstrategie breiten Raum ein. Dennoch existiert eine dedizierte SCM-Abteilung. "Sie besteht aus vier Leuten und ist eine Forschungs- und Entwicklungsabteilung", führte Kolodziej aus. "Ein Händler hat ja normalerweise überhaupt kein F&E-Budget. Das ist bei uns anders."

"Man muss die Supply Chain wohl tatsächlich unter dem Aspekt der Forschung und Entwicklung sehen", stimmte Waas zu: "Wenn Unternehmen Research and Development ausweisen, handelt es sich meistens um Produkte. Aber was uns Wettbewerbsvorteile bringt, ist eigentlich das Prozess-R&D."

Zusammenspiel von Push und Pull

Eines der wichtigen SCM-Themen ist die Bedarfsplanung, die dank moderner Softwaretechnik unmittelbar in die Produktionsplanung einfließt. Der Aluminiumproduzent Hydro legt schon in seiner Jahresplanung fest, welchen Produktmix er am leichtesten abzusetzen glaubt. "Was unsere Planung erschwert, sind Aufträge, deren Lieferzeit kürzer ist als ihre Durchlaufzeit in der Produktion", berichtete Quitmann. "Das bedeutet für uns: Vorproduktion auf einem möglichst standardisierten Zwischenstand." Die Kundschaft verlange beispielsweise eine Lieferzeit von vier Wochen, obwohl die Durchlaufzeit anderthalb mal so lang sei; zudem zögere sie gern die Entscheidung hinaus, auf welche Breite sie das Material geschnitten haben möchte.

Solche Probleme kennt Waas ebenfalls: "Auch bei uns ist die Verfügbarkeit zum Markt hin ungleich höher als die Fertigungskapazität, die wir steuern können." Deshalb würden für den Weltmarkt nur "Basisprodukte" gefertigt, die sich dann in die Regionen liefern und dort - möglichst nah am Endkunden - fertig stellen ließen. "Auf der einen Seite haben wir also einen Push-Prozess, der an mittelfristiger Planung ausgerichtet ist, in der Region hingegen einen Pull-Prozess, der sich an Kundenaufträgen orientiert." Neben der höheren Flexibilität habe die Fertigung von Vorprodukten auch den Vorteil, so Waas weiter, dass sich standardisierte Teile dichter packen ließen: "Das Thema hier heißt Design for Supply Chain; da lässt sich sehr viel Geld sparen."

Den Aufwand für alle an der Lieferkette Beteiligten zu verringern ist eines der Ziele, die sich Kolodziej auf die Fahne geschrieben hat. "Wenn ein Lieferant uns Ware im Wert von 300 Euro schickt, hat er einen ungeheuren Aufwand: Er druckt einen Lieferschein, stellt eine Rechnung, hat möglicherweise noch eine Reklamation und so weiter." Mittels zentraler Disposition könne sich der Hersteller heute darauf beschränken, nur noch ganze Paletten anzuliefern.

Seinen "Planungshorizont" beziffert der DM-Geschäftsführer mit "nicht länger als vier Monate". Geplant werde "von unten nach oben", also aus den Filialen heraus: "Bei uns bestimmen die Kunden, was Sache ist." Und nun komme es darauf an, die Reaktion auf den Kundenwunsch zu beschleunigen, indem der Lieferant möglichst schnell darüber informiert wird: "Unsere Abverkaufsdaten sind nicht Fort Knox; wir teilen sie gern mit unseren Lieferanten, weil wir beide davon profitieren."

Neben der gemeinschaftlichen Planung und Disposition betreibt DM mit einigen seiner Zulieferer auch ein "Continuous Replenishment" - bis hin zur selbständigen Gestaltung der Verkaufsflächen: "Die besten Lieferanten ernennen wir zum Cathegory Captain; sie sorgen dafür, dass das Regal mit ihren Produkten und denen ihrer Konkurrenten richtig dimensioniert ist und die Artikel an der richtigen Stelle stehen", schilderte Kolodziej das Prinzip. Aus seiner Sicht bringt diese Arbeitsteilung beiden Seiten Vorteile: "Wir arbeiten nicht nach dem Box-, sondern nach dem Judo-Prinzip. Wir nehmen die jeweilige Stärke des Anderen auf und verwandeln sie in Geschwindigkeit." Die in den Medien heiß diskutierte Aufteilung des Preisvorteils zwischen Hersteller und Händler war für Kolodziej eigenen Angaben zufolge nie ein Thema: "Der Lieferant rechnet sich selbst aus, was ihm das bringt."

Auch HP verfolgt bereits ein rudimentäres CPFR - mit den Einzelhändlern, die ein breites Sortiment vorhalten müssen und stark kampagnengetrieben arbeiten. Laut Waas hat der Hardwareanbieter vor einem Jahr einen wöchentlich aktualisierten integrierten Planungsprozess vom Händler über die Region zur weltweiten Fabrik aufgesetzt. "Vorher haben wir das auf monatlicher Basis gemacht und festgestellt, dass wir dadurch zu langsam werden und zu viele Pufferbestände aufbauen." Der kontinuierliche Strom der Abverkaufsdaten ist dadurch gesichert, dass HP an deren Lieferung einen Teil der Händlerrabatte knüpft.

Schwerpunkte statt Totalansatz

Diese repräsentativen Beispiele belegen, dass sich mit einem intelligenten Lieferketten-Management viel Zeit und Geld sparen lassen. Doch breit angelegte Supply-Chain-Management-Projekte, wie sie vor wenigen Jahren zuhauf gestartet wurden, will sich heute kaum noch ein Unternehmen leisten - zumal gerade die besonders ambitionierten Vorhaben häufig scheitern.

"Der Totalansatz ist nicht zielführend", hat auch Quitmann gelernt. "Als wir 1999 anfingen, wollten wir gleichzeitig die Bestände senken sowie die Auslastung und die Liefertreue erhöhen. Diese Ziele widersprechen sich aber teilweise. Also muss man im Unternehmen ausdiskutieren, was Priorität hat, wenn es zu Konflikten kommt." Das sei allerdings leichter gesagt als getan, denn in jedem Unternehmen gebe es eingefahrene Verhaltensmuster, die zu ändern eine Menge Überzeugungsarbeit erfordere. "Man kann jedenfalls nicht einfach zu i2 oder zu SAP gehen und sagen: Wir führen jetzt mal kurz APO oder etwas anderes ein."

Übereinstimmend raten die drei SCM-Manager ihren Kollegen, ein Konzept zu entwerfen, sich aber zunächst auf einen Schwerpunkt zu konzentrieren. Sinnvoll sei es dabei, mit der Neuordnung der Prozesse im eigenen Unternehmen zu beginnen. "Man sollte vor der eigenen Tür kehren, bevor man den Dreck beim Nachbarn moniert", formulierte Kolodziej. Und Waas pflichtete ihm bei: "Kurzfristige Einsparungen kann ich sicher am leichtesten in der internen Supply Chain erzielen." Allerdings relativierte er seine Aussage umgehend: "Kosteneinsparungen bringen per se aber noch keine Wettbewerbsvorteile."

Der Kunde als Ausgangspunkt

Wenn er heute ein Unternehmen gründen würde, so der HP-Manager, dann ginge er die Supply Chain anders an, als Hewlett-Packard es getan habe - von der Kundenseite her. Die Integration von Supply-Chain- und Customer-Relationship-Management ist für ihn ein heißes Thema. "HP kommt aus der Fertigungswelt und hat die Optimierung von der CRM-Seite noch nicht ganz geschafft", räumte er ein. "Aber wir sehen die Potenziale."

Welcher Art die Möglichkeiten sind, stellte Waas unter anderem am Beispiel der Kundenpriorisierung dar. "Eine Supply-Chain ist nie perfekt, Lieferengpässe treten immer wieder auf. Und dann gibt es mehr oder weniger profitable Kunden. Da ist es doch hilfreich zu wissen, für welche Kunden ich in einer Engpasssituation den Bedarf reservieren sollte."

Beim Aluminiumhersteller Hydro gehört das offenbar längst zu den Selbstverständlichkeiten des Geschäfts: Eine Zuordnung der begrenzten Produktionskapazitäten zu bestimmten Kundengruppen sei Bestandteil der rollierenden Planung, beteuerte Quitmann.

Waas bemühte sich hingegen, sein Beispiel in einen Gesamtzusammenhang zu stellen, und plädierte für eine neue SCM-Perspektive: "Auf den meisten Charts beginnt die Lieferkette in der Fabrik und endet beim Kunden. Wir sehen das mittlerweile umgekehrt." Allerdings verhehlte er nicht, dass HP damit so seine Umstellungsschwierigkeiten habe, weil das Unternehmen ein "großes Commitment" gegenüber dem Händlerkanal eingegangen sei.

Doch für den Handel selbst ist die von Waas proklamierte "End-Customer-driven Supply-Chain" ein alter Hut. Aus Kolodziejs Sicht steht der Käufer, den er als seinen "Arbeitgeber" tituliert, ohne jeden Zweifel am Ausgangspunkt der Supply-Chain-Planung: "Die Kunden legen Wert darauf, dass ein Produkt in ihrer Filiale auch vorrätig ist. Wenn es das nicht ist, dann besteht die Gefahr, dass sie zum Wettbewerber gehen und nicht mehr zurückkommen. Deshalb muss unsere Lieferfähigkeit 100 Prozent sein; da unterscheiden wir nicht zwischen A-, B- und C-Produkten." Auf die Vorhersagen der Marktforschungsinstitute will sich die Drogeriemarkt-Kette nicht verlassen: "Wenn die das so genau wüssten, dann wären nicht 90 Prozent aller in Deutschland eingeführten Produkte Flopps", spottete der langjährige DM-Manager, der eigenen Angaben zufolge unter der Personalnummer 1 geführt wird.

Keine Software ohne Schwächen

Um aus Abverkaufsdaten Planungsinformationen zu generieren, die wiederum eine Lieferkette antreiben, ist nicht nur eine Organisation notwendig, sondern auch eine funktionierende Softwareumgebung. Die marktgängigen Anwendungen sind nach Auskunft der Anwender aber alle noch mit Haken und Ösen behaftet. "Wir als globaler Konzern haben kein Produkt gefunden, das die Vielfalt unserer Anforderungen wirklich erfüllen könnte", bestätigte Waas. Jede Software habe ihre Stärken und Schwächen. "Für uns stellt sich deshalb immer die Frage: Welche Defizite sind wir bereit, in Kauf zu nehmen?"

HP hat sich für die SAP-Software entschieden, wenngleich auf der Shopfloor-Ebene noch das Planungssystem von i2 eingesetzt wird. "Ich muss allerdings sagen, dass auch die SAP-Software unsere Anforderungen nicht ganz erfüllt", so Waas. "Es gibt derzeit keine Lösung mit einem integrierten Frontend, das es erlaubt, einen Kunden als Gesamtheit zu managen, auch wenn dahinter sehr differenzierte SCM-Prozesse liegen." Schwierigkeiten bereite auch das Supply-Chain-Management über verschiedene Unternehmen hinweg. Hier hapere es aber nicht nur an der Software, sondern auch an den Prozessstandards: "Bei Rosettanet kommt leider noch zu wenig Implementierbares heraus."

Quitmann machen vor allem die unterschiedlichen Schnittstellen zu schaffen. Er nutzt im ERP-Bereich SAP, in der Planung i2 und für die Reihenfolgeplanung Quintiq: "Einen Hersteller, der wirklich alle Spezialfälle abdeckt, haben wir noch nicht gefunden." Darüber hinaus bemängelte der Hydro-Manager, dass sich die Softwarehersteller ihre Kenntnisse über die Branchenspezifika zum Teil erst bei den Einführungsprojekten aneigneten.

Geist auf Arbeit anwenden

Ein konsensfähiges Fazit der Gesprächsrunde zog Kolodziej: "Ich habe heute gelernt, dass Supply-Chain-Management für jedes Unternehmen etwas anderes sein kann. Aber es geht immer darum, Geist auf Arbeit anzuwenden", resümierte der DM-Geschäftsführer. "Erfolgreiche Unternehmen unterscheiden sich von den anderen dadurch, dass sie sowohl den Kunden als auch den Industriepartner im Auge haben."