Junge Branche setzt auf andere Formen der Mitbestimmung

Schöne neue Arbeitswelt - ohne Betriebsrat?

02.06.2000
Old Economy und New Economy - das sind auf den ersten Blick zwei Begriffe, zwei Systeme und zwei Arbeitswelten. Die traditionelle Gewerkschaftsbewegung kämpfte noch um das Recht auf betriebliche Mitbestimmung. Bei den Startups und ihren Mitarbeitern provoziert dieses Modell höchstens ein höfliches Lächeln, wenn nicht gar gelangweiltes Gähnen.Von Gabriele Müller*

Was ist das? Es ist jung und dynamisch, will bald Marktführer in seiner Branche werden und beschäftigt lauter gut qualifizierte und erfolgreiche Mitarbeiter. Die sind höchstens Anfang 30, arbeiten mindestens 60 Stunden die Woche, sind hoch motiviert und haben jede Menge Spaß im Job. Richtig geraten: Es ist die Firma XY.com.

Der Name tut da kaum etwas zur Sache, so oder ähnlich charakterisiert sich eine ganze Branche, die mit IT und Multimedia beschäftigt ist. Sie fegt völlig unbekümmert beiseite, was noch bis vor kurzem als heilige Kuh galt, das gesetzlich verbriefte Recht der Arbeitnehmer auf Mitbestimmung. Von Arbeitnehmern wollen die jungen Internet-Firmen nicht mehr sprechen. "So wird bei uns der Mitarbeiter nur einmal genannt, im Arbeitsvertrag", sagt Simone Baader, Director Human Resources der Intershop Communications AG in Jena. Diese Abkehr ist ein kleines sprachliches Signal, aber eines mit Bedeutung. Denn mit der rasant wachsenden Branche, die nicht nur aus Personalmangel auf unkonventionelle Wege der Mitarbeiterrekrutierung setzt, fallen auch die starren Grenzen zwischen Unternehmern und Angestellten.

Gesetzlich erst wenig geregelte Ausbildungswege, ein Dschungel von Weiterbildungskursen, keine Tarifverträge, dafür um so mehr Quereinsteiger und Querdenker - das prägt die ganze Szene. Die hat mit dem gesetzlichen Instrumentarium "aus Großvaters Zeiten" nur wenig am Hut. Dafür umso mehr mit Mitarbeiterbindung durch Aktienoptionen. Begriffe wie "Betriebsrat" passen da nur schlecht in das Vokabular der Jungen und Erfolgreichen. Als "überholt, unvorbereitet und überflüssig" müssen sich die Gewerkschaften im Zeitalter der elektronischen Kommunikation charakterisieren lassen. Denn in Unternehmen ohne Hierarchien lösen sich die Probleme scheinbar per E-Mail.

Ob diese schöne neue Arbeitswelt wirklich so problemlos funktioniert, darüber diskutierten auf einer Veranstaltung in Köln die Praktiker - Firmeninhaber, Personalexperten, Berater, Mitarbeiter und Gewerkschafter.

Eingeladen hatte das Forum Mitbestimmung und Unternehmen, eine gemeinsame Initiative der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung und der Bertelsmann-Stiftung.

Formale Regeln und Prozeduren gehören der industriellen Arbeitswelt der Vergangenheit an - das Zeitalter des Wissens setzt auf neue Wege. Da ist etwa ein Betriebsrat überflüssig. So könnten zumindest die Ergebnisse einer Studie der Deutsche Börse AG in Frankfurt am Main interpretiert werden. "Die Unternehmen, die im Dezember 1999 im Nemax 50 gelistet waren, verzeichneten in den letzten Jahren einen durchschnittlichen Mitarbeiterzuwachs von rund 50 Prozent", berichtet Helmut Potthoff, Leiter Human Resources der Deutschen Börse AG. Obwohl die Mehrzahl der befragten Unternehmen immerhin zum Mittelstand gehört, haben nur 16 Prozent einen Betriebsrat. Eine Zahl allerdings, die auch bei anderen neu gegründeten Firmen nicht gravierend anders aussieht, halten die Gewerkschaften dagegen. Der Betriebsrat als Institution - alles nur eine Frage der Zeit, bis der erste große Krach, die Übernahme oder der Konkurs ansteht?

Zumindest, auch das bestätigt die Untersuchung, gibt es in diesen jungen Firmen durchaus Formen der Mitbestimmung, auch wenn sie offiziell nicht so genannt wird. Hoch im Kurs stehen regelmäßige Informationsveranstaltungen, Mentoring, Coaching, elektronische Foren und Medien, die einen unkomplizierten und unbürokratischen Austausch erlauben. "Die Devise heißt Fördern und Fordern, und das alles unter Zeitdruck", fasst Potthoff die Stimmung in der Branche zusammen. Darum müsse der Mitarbeiter unter dem Motto "Ich AG" an seine Berufstätigkeit herangehen. Da Lebensstellungen der Vergangenheit angehören, muss sich der Einzelne selbst organisieren, um sich seine Qualifikation und seine Beschäftigungsfähigkeit zu erhalten. Das stellt auch die Personaler vor neue Herausforderungen. Im Zeichen der "Hi-Boss-Mentalität" kommunizieren die Firmenchefs und ihre Angestellten ohne lange Umwege per Mail direkt - wie bei Intershop in Jena. Personalchefin Baader versteht sich deshalb auch eher als Katalysator zwischen dem Unternehmen und dem Mitarbeiter. "Ich schalte mich nur ein, wenn ich dazu von Kollegen aufgefordert werde. Ansonsten werden Probleme zwischen den Betroffenen direkt geregelt."

Was bei 20 Beschäftigten noch problemlos funktionieren mag, ist bei 700 - so im Fall Intershop - nicht immer einfach, räumt die 32-Jährige ein. Was wie die Werbung des schwedischen Modeimperiums Hennes und Mauritz klingt, ist im Unternehmen Realität: Die Belegschaft, im Durchschnitt 30 Jahre alt, arbeitet ohne Zeiterfassung. Jeder schafft, so viel er will und kann - was meist weit mehr ist als die historischen 40 Stunden pro Woche. Und die Kontrolle? "Die hat das Team", ganz einfach.

Aber nicht nur die Kollegen sorgen dafür, dass hart angepackt wird. Denn über allem schwebt drohend wie ein Damoklesschwert der Aktienkurs. "Wir alle verzichten auf einen Teil unseres Gehalts für Aktienoptionen", sagt Baader. "Ohne die wäre das Unternehmen bei den neuen Kollegen, die ja ständig gesucht werden, längst nicht so attraktiv." Kein Wunder, dass hier intern nicht die Rede von Arbeitnehmern, sondern von "Mitunternehmern" ist, die rackern, um die Aktie zu neuen Höhenflügen zu treiben. Doch auch der eifrigste Mitunternehmer will motiviert und ernst genommen werden. Deshalb gibt es regelmäßige wöchentliche "all-company-meetings", Weiterbildung und Incentives. Die eben doch existierende Führungsebene trifft sich auf eigenen Meetings, um den Informationsaustausch und die Diskussion sicherzustellen. Bis jetzt floriert das Unternehmen, die Mitarbeiter über 40 Jahren sind leicht abzuzählen, und Ermüdungserscheinungen machsen sich noch nicht bemerkbar. Aber wie lange noch? "Wir hoffen auf eine Normalisierung der Arbeitszeit und denken auch über neue Arbeitszeitformen nach", kommentiert die Personalchefin. Zum Beispiel über ein zweimonatgies Sabbatical.

Die Mitarbeiter der Aachener Hancke & Peter IT Service AG nannten es "Roundtable" und nicht Betriebsrat. Heute, wo durch Übernahme der Firmen Ascad und NCC daraus die Arxes Information Design AG geworden ist, hat sich ein bundesweiter Dienstleister für IT-Lösungen entwickelt. Obwohl bereits 1200 Mitarbeiter an 21 Standorten für Arxes arbeiten, verlangt bislang niemand nach einem Betriebsrat. Stattdessen soll der Roundtable nun auch für die neuen Kollegen eine kooperative Mitbestimmung ermöglichen. Die, so glaubt Jürgen Adamek, Moderator des Roundtable, ist mit diesem Konzept beispielhaft erreicht worden. Die Einrichtung wird von allen Unternehmensbereichen und dem Vorstand getragen. Einmal im Monat beraten sie über aktuelle Probleme, vom Sonnenschutz bis zum Großraumbüro. Unterstützt und getragen wird dieses Gremium durch den Vorstandsvorsitzenden Jürgen Peter, der als Mitglied des Roundtable auch nur eine Stimme hat. So muss bei jeder anstehenden Entscheidung basisdemokratisch eine Mehrheit gefunden werden, was bisher auch funktioniere. Wirklich ernsthafte Gedanken machen sich alle Beteiligten nur um die staatliche Besteuerung von Mitarbeiterbeteiligungen in Form von Aktien.

*Gabriele Müller ist freie Journalistin in Wuppertal.

MitbestimmungDas Forum Mitbestimmung und Unternehmen, das die "Vertrauenskultur, die kooperative Unternehmensführung und die Mitbestimmung in der Praxis fördern" will, veranstaltet einen weiteren Forumsdialog für Praktiker. Am 2. November 2000 findet in Frankfurt die Veranstaltung "Mitbestimmung - Vor- oder Nachteil für ausländische Investoren und Unternehmen" statt. Kontakt: Forum Mitbestimmung und Unternehmen, c/o Hans-Böckler-Stiftung, Bertha-von-Suttner-Platz 1, 40227 Düsseldorf, Telefon 0211/7778-276.