Schade, daß Sie gehen

27.03.1975

Der Geheimtip eines Freundes war so ungeheuerlich, daß Ich es zunächst nicht fassen konnte: "Man hat beschlossen Sie abzuschießen", meinte er am Telefon. "Sie sollten möglichst bald Ihre Fühler ausstrecken!" Dann hängte er schnell ein, denn neuerdings war man sich nicht mehr sicher, ob jemand in der Leitung saß, der beflissen Notizen für entsprechende Denunzierungen sammelte. (Der Informant wurde wenig später ins Ausland versetzt, 10 000 Kilometer weit von seiner Familie. Ein Zufall?!)

Was war geschehen? Aus dem seriösen, mittelständischen Unternehmen mit den gediegenen inneren und äußeren Formen - in das ich vor zehn Jahren eintrat - war die Produktionsstätte "Werk F" eines Großkonzerns geworden. Innerhalb kürzester Zeit hatte man den Vertrieb, die Entwicklung und die Wissenschaft ausgegliedert. Übriggeblieben war der nackte Rumpf eines ehemals prachtvollen Segelschiffs.

Zugegeben, dieser "Rumpf" produzierte jetzt dreimal soviel wie ehedem, und nur dieser Erfolg zählt in den konsolidierten Bilanzen.

Wenige Tage später, an einem windigen Vormittag, kam der entscheidende Anruf. "Sie möchten zum Vorstand kommen." Der Bedeutung meiner Gesprächspartner entsprechend nahm ich die Unterlagen der seit fast drei Jahren fälligen Entscheidung für die neue Anlage mit. Vielleicht ist es endlich soweit, dachte ich mir. Aber was dann kam, traf mich völlig unvorbereitet: "Wir sehen die Vertrauensbasis als nicht mehr gegeben an und stellen Ihnen frei zu kündigen. Andernfalls tun wir es!"

Wie kann man in solcher Situation Selbstbeherrschung bewahren, wenn einen Panik erfaßt Existenzangst? Da laufen schemenhaft zehn Jahre Mühe und Plage vor Dir ab, tage- und nächtelanges Ringen um den Erfolg von so vielen Projekten. Da werden die schlaflos vergrübelten Nächte wieder gegenwärtig, in denen man sich um Lösungen bemüht und wie man die Mitarbeiter an den gemeinsamen Aufgaben interessiert und mitreißen kann. Da hat man sich nun als tüchtigen und rechtschaffenen EDV-Manager gesehen, verheiratet mit der Firma und der Aufgabe. Da war man stets auf dem Sprung, die Geschäfte eines Vorgesetzten-Gremiums zu erfüllen; immer bereit, in "gottgewolltem Abstand" Weisungen zu empfangen und auszuführen. Und jetzt?

Vor wenigen Wochen wurde ein neuer Geist proklamiert: Mehr Aufmerksamkeit auf die Mitarbeiter zu verwenden, die Sachlichkeit des täglichen Geschäftslebens zu vermenschlichen und eine Basis des gegenseitigen Verstehens zu schaffen. Hatte das denn nicht auch für mich gegolten? Oder waren es nur Lippenbekenntnisse und reine Ordererfüllung der Weisungen der Konzernspitze? Nein! Hier waren Schrotthändler der Gefühle am Werk. Man wartete bereits darauf, die Leiche auszuplündern. Was nützt in dieser Situation die Bestürztheit der Mitarbeiter, das stammelnde "Schade, daß Sie gehen"?