Kostenexplosion und Verdacht auf regelwidrige Auftragsvergabe

SAP-Projekt der AOK kriselt

14.05.2004
MÜNCHEN (ba) - Den Bundesverband der Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK) kommt das laufende SAP-Projekt teuer zu stehen. Statt 360 Millionen Euro soll die Entwicklung einer neuen Standardlösung für alle Arbeitsfelder der Kassen nun rund 540 Millionen Euro kosten. Statt Ende 2006 wird das Vorhaben erst 2009 abgeschlossen. Experten werfen den Verantwortlichen mangelnde Planung und Misswirtschaft vor.

Verantwortlich für die Kostenexplosion des "SAP-AOK-Master"- (SAM-)Projekts seien Schlampereien der AOK-Firmentochter AOK-Systems GmbH, berichtet der Berliner Dienst für Gesellschaftspolitik (DFG). Die Krankenkassenverantwortlichen hätten ihre Tochter an einer zu langen Leine geführt. Eine Aufsicht sei gar nicht oder nur sehr lasch erfolgt. Nun müsse das Mutterunternehmen viel Geld ausgeben, um das aufgelaufene Defizit auszugleichen.

Die AOK-Systems hatte das Projekt SAM zusammen mit der SAP und dem Dienstleister Information Management Group (IMG) im Herbst 2000 gestartet. Gemeinsam sollte auf Basis von SAP-Lösungen wie SAP for Insurance, Mysap Customer Relationship Management (CRM) und Mysap Business Intelligence sowie Eigenentwicklungen der AOK Systems eine Standardsoftwarelösung für den Betrieb sämtlicher Krankenkassenprozesse entwickelt werden. SAM soll das über 25 Jahre alte, noch auf Batch-Verarbeitung basierende System "IDVS II" ablösen. Neben der Implementierung in allen 17 regionalen Niederlassungen der AOK wollen die Partner das Produkt auch an andere gesetzliche Krankenkassen verkaufen, die häufig ebenfalls veraltete Programme einsetzen.

Bereits in der Anfangsphase lief jedoch das Projekt, was Zeit- und Geldbudget betraf, aus dem Ruder. So berichtete der DFG unter Berufung auf Untersuchungsergebnisse des Wirtschaftsprüfungsunternehmens Ernst & Young, dass allein 2002 die ursprünglich auf 57,4 Millionen Euro angesetzten Kosten für SAM um 17,2 Millionen Euro überschritten wurden. Von diesen 74,6 Millionen Euro soll in dem betreffenden Jahr SAP 30,6 Millionen Euro kassiert haben. Die Kostenkontrolle sei unvollständig, nicht zeitnah und nicht transparent erfolgt, monierten die Wirtschaftsprüfer.

Trotz eines Vier-Stufen-Plans, wie die Probleme behoben werden könnten, nahm die Misere ihren Lauf. Mitte 2003 musste sich der Verwaltungsrat der AOK mit SAM beschäftigen. Das Gremium äußerte sich besorgt hinsichtlich der Leistungen der IT-Tochter. Die Verantwortlichen zeigten sich unzufrieden mit dem Projektfortschritt und den -kosten. Sie waren außerdem verärgert über die verspäteten Informationen zum entstandenen Defizit.

Angesichts der anhaltenden Schwierigkeiten beauftragten die Verantwortlichen das US-amerikanische Beratungshaus Bain & Company mit einer Untersuchung. Die Berater kamen laut DFG zu dem Schluss, dass mit weiteren Budgetüberschreitungen zu rechnen sei. Sie entwickelten vier Szenarien für den weiteren Projektverlauf. Das Spektrum reichte vom Abbruch, der einen Scherbenhaufen im Wert von 140 Millionen Euro hinterlassen hätte, bis zum Beibehalten des Projektplans, allerdings mit einem "kaufmännisch hart gemanagten" Vorgehen. Veranschlagte Kosten: 510 bis 574 Millionen Euro.

"Wir haben die Komplexität der Software unterschätzt", räumt Rolf Hoberg, stellvertretender Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes, ein. Laut dem Projektfahrplan der IT-Verantwortlichen wird die neue Lösung schrittweise eingeführt. Das erste Release SAM 1.0 betreffe den Beitragsbereich und das Controlling. In den nächsten Stufen werde nach und nach eine neue Bestandsführung sowie das gesamte Leistungsspektrum der Kasse umgestellt. Vor diesem Hintergrund müssten jedoch die Altsysteme parallel weiterbetrieben werden, erläutert Hoberg. Außerdem waren Schnittstellen zum bestehenden Finanzwesen zu entwickeln. "Das war herausfordernder, als wir ursprünglich gedacht hatten."

Als Folge habe die AOK das Vorhaben neu justieren müssen, berichtet Hoberg. Dennoch gibt sich die Krankenkasse optimistisch. So laufe das erste Pilotprojekt mit SAM 1.0, das Anfang April beim AOK-Landesverband Mecklenburg-Vorpommern in den Echtbetrieb ging, reibungslos. Bis Ende 2005 soll der Baustein in den übrigen Regionalverbänden implementiert werden.

Wen AOK-Systems als IT-Dienstleister wählt, um den Rollout zu begleiten, ist unklar. Während die Pilotierung in Mecklenburg-Vorpommern noch mit Unterstützung der SAP geschah, sei der weitere Verlauf nicht Gegenstand der Verträge, berichtet Wolfgang Damm, verantwortlicher Manager der SAP Consulting Business Unit Financial Services. Bislang habe SAP zusammen mit der IMG als Subunternehmer in erster Linie Unterstützung im Rahmen der Entwicklungsarbeiten bei der AOK-Systems geliefert. Dort liege auch die Verantwortung für das Gesamtprojekt. Neben der technischen Unterstützung des Partners AOK bei der Programmierung der krankenkassenspezifischen Zusatzfunktionen liefere SAP lediglich seine Standardlösung für den Versicherungsbereich. Daher könne man auch nichts zu Problemen im Projektverlauf sagen, argumentiert Damm. Es liege nicht in der Verantwortung der SAP, wie die AOK ihre Prozesse anpasse.

Genau dies scheint jedoch das Problem der Krankenkasse zu sein, berichtet ein Branchenkenner, der namentlich nicht genannt werden möchte. Die Verantwortlichen hätten es im Vorfeld versäumt, die Prozesse bundesweit zu standardisieren. Derzeit gebe es im Kassenbetrieb unterschiedliche Organisationsformen in den einzelnen AOK-Länderniederlassungen und sogar innerhalb der Filialen einzelner Bundesländer. "Für jeden Programmierer ist diese Situation ein Graus."

AOK-Vorstandsmitglied Hoberg verteidigt indes die Projektstrategie des Krankenversicherers. Im Vorfeld sei die Anforderung an die Software gestellt worden, dass diese für die unterschiedlichen Organisationsformen innerhalb der AOK geeignet sein müsse. Man habe zwar den Länderfilialen empfohlen, die Chance zur Vereinheitlichung der Prozesse zu nutzen. Dafür seien jedoch allein die Länder-AOKs zuständig.

Wer letztendlich die Verantwortung für die Budgetüberschreitungen zu tragen hat, bleibt unklar. Auch zahlreiche Vorwürfe, die AOK habe Beratungsaufträge nach eigenem Ermessen und unter Verletzung der Ausschreibungsrichtlinien vergeben, sind bislang ungeklärt. So hatte der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) in seiner Sendung "Fakt" in den vergangenen Monaten wiederholt über Unregelmäßigkeiten bei der AOK berichtet. Seit dem Jahr 2000 seien mindestens 50 Millionen Euro ohne öffentliche Ausschreibung für externe Berater ausgegeben worden, berichtete das Magazin. Sozialversicherungsträger seien jedoch verpflichtet, Aufträge im Liefer- und Dienstleistungsbereich ab einem Volumen von 200000 Euro öffentlich auszuschreiben.

Da von Seiten des für die Rechtsaufsicht verantwortlichen Bundesministeriums für Gesundheit und Soziales (BMGS) keine Reaktion erfolgte, nahm die CDU/CSU-Bundestagsfraktion die Fakt-Berichterstattung zum Anlass, Ende März 2004 eine kleine Anfrage im Haushaltsausschuss des Bundestages einzureichen. Laut dem DFG, der die Antworten des Ministeriums veröffentlichte, rechtfertigte sich das BMGS mit dem Hinweis darauf, die Rechtsaufsicht in der Sozialversicherung erstrecke sich nicht auf ausgegliederte privatrechtliche Gesellschaften wie die AOK-Systems. Außerdem habe das Ministerium die vom Bundesverband offen gelegten Vergabeverfahren als vertretbar angesehen.

Damit scheint die Angelegenheit für das Ministerium vorerst erledigt. Man werde die Sache weiter beobachten, kündigte ein Sprecher auf Anfrage der COMPUTERWOCHE an. Derzeit liefen jedoch keine Untersuchungen gegen den Krankenversicherer. Auch AOK-Vorstand Hoberg sieht die Vergabequerelen als überwunden an. Man habe alles im Detail mit den Aufsichtsbehörden geklärt. In keinem Fall sei gegen Vergaberecht verstoßen worden. Im Fall der AOK sei die Vergabeordnung für freiberufliche Dienstleistungen (VOF) mit ihren entsprechenden Ausnahmetatbeständen anzuwenden.

Dennoch bleibt offensichtlich, dass die Krankenkassen trotz geltender Vergaberichtlinien kaum kontrolliert werden. Rund 26 Millionen Menschen sind bei der AOK versichert. Das jährliche Leistungsvolumen beträgt über 55 Milliarden Euro. Schätzungen zufolge beläuft sich das Defizit der Ortskrankenkassen auf derzeit knapp drei Milliarden Euro. Die Zeche zahlen die Beitragszahler.