Prozeßfertiger in der zweiten Phase eines Mammutvorhabens

SAP legt Hand an beim R/3-Projekt von Wacker

13.09.1996

In jüngster Zeit war häufig von Unternehmen zu lesen, denen es gelungen sei, innerhalb weniger Monate von der SAP-Software R/2 auf die Nachfolgeversion R/3 zu migrieren. Solche Projekte sind aber weder so umfangreich noch so komplex wie das Vorhaben, das die Wacker-Chemie derzeit in die Tat umsetzt. Dort wird es voraussichtlich bis zur Mitte des übernächsten Jahres dauern, bis alle Anwender in einer R/3-Umgebung arbeiten.

Mit Frank Hurtmanns, im Rang eines Abteilungsdirektors für Informatik und Prozeßgestaltung zuständig, versucht sich mittlerweile der dritte Projektleiter an der Software-Umstellung. Initiiert wurde das Unterfangen "R3 plus" (heute: "Wacker plus") bereits Mitte 1994 von Peter Clotten, inzwischen Direktor des europäischen Manufacturing Industry Center bei Digital Equipment. Dafür, daß er das Projekt nicht zu Ende führen wollte, nennt Clotten allerdings keine sachlichen, sondern persönliche Gründe.

Ende 1994 verließ der damalige Vice-President für Informationssysteme das Unternehmen, und der Leiter des Rechnungswesens, Klaus Nuding, übernahm das Steuer. Offenbar war der promovierte Kaufmann aber nicht der ideale Dreh- und Angelpunkt für das DV-Vorhaben im XXL-Format. Jedenfalls legte er die Verantwortung nach einem vorläufigen Abschluß der Konzeptionsphase wieder in die Hände der Informatik und zog sich auf die Position des Chef-Controllers zurück.

Unter dem amtierenden Projektleiter Hurtmanns wurde das unter Nuding entwickelte Konzept nachgebessert und aktualisiert. Seit März arbeitet das Team daran, diesen Entwurf in die Realität umzusetzen.

Die kleineren Geschäftsbereiche des Konzernverbunds sollen R/3 schon Anfang 1997 produktiv einsetzen. Dazu zählen vor allem die Wacker-Tochter Siltronic AG, Burghausen, und die Vinnolit Kunstoff GmbH, Ismaning bei München, ein Joint-venture mit dem Frankfurter Hoechst-Konzern. Wie Hurtmanns erläutert, arbeiten diese Unternehmensteile mit separaten Abläufen, wohingegen die Prozesse in der Silikon- und Polymer-Produktion stark miteinander verflochten seien. Der schwierigere Teil des Projekts besteht also offenbar darin, den beiden Kerngeschäftsfeldern mit ihren 3500 Arbeitsplätzen eine R/3-basierte Infrastruktur zu verpassen.

Dazu hat sich Hurtmanns nicht nur der Mithilfe externer Re-Engineering-Berater, sondern auch der Unterstützung durch den Softwarelieferanten selbst versichert. Zusammen mit mehr als 20 SAP-Beratern werden er und seine Mitarbeiter die kommenden zehn Monate darauf verwenden, die mit dem Münchner Consulting-Unternehmen MMG überarbeiteten Geschäftsprozesse in der R/3-Software abzubilden. Mitte des kommenden Jahres wird das Gesamtsystem voraussichtlich einem ersten Praxistest unterzogen.

SAP-Kunde ist Wacker schon seit fast zwei Jahrzehnten. Für die kaufmännischen Anwendungen setzt das Unternehmen seit dem Ende der 70er Jahre die entsprechenden R/2-Module ein. In der Produktionsplanung und -steuerung (PPS) hingegen nutzt es bislang eine selbstentwickelte Applikation, die relativ eigenständig mit einem separaten Datenhaltungssystem operiert.

Die Stunde dieser PPS-Lösung schlug, als Wacker beschloß, das vom Anbieter ausgemusterte R/2-Release 4.3 nicht durch die Version 5.0 zu ersetzen, sondern im Zuge der ohnehin notwendigen Softwaremigration die gesamte Informationstechnik neu zu gestalten. Bei Wacker lief dieser Entschluß, wie in vielen deutschen Betrieben, auf eine Entscheidung zugunsten der SAP-Software R/3 hinaus - sogar für die produktionsnahen Unternehmensbereiche.

Bei einer ersten Evaluation hatten sich die von SAP angebotenen PPS-Funktionen jedoch als unzureichend erwiesen. Noch vor zwei Jahren war die Software aus Walldorf nicht in der Lage, die in der Prozeßindustrie übliche Kuppel-, Chargen- und Kampagnenproduktion ausreichend zu unterstützen (siehe auch CW Nr. 11 vom 17. März 1995, Seite 1: "Henkel entscheidet sich für Außenseitersoftware"). Mittlerweile ist dieses Manko augenscheinlich behoben. Der intensive Gedankenaustausch zwischen der SAP und einer Reihe deutscher Chemieunternehmen führte zur Gründung eines Arbeitskreises Standardsoftware im Verband der Chemischen Industrie (VCI). Die Ergebnisse seiner Arbeit sind in die R/3-Entwicklung eingeflossen.

Mit dem R/3-Modul "PP/PI" bietet das größte deutsche Software-Unternehmen heute, so Hurtmanns, eine Anwendung, die "die Belange der Wacker-Chemie abdeckt". Nur in puncto Logistik sei das speziell auf die Prozeßindustrie zugeschnittene Konkurrenzprodukt "Prism" von Marcam den vergleichbaren R/3-Modulen noch einen Schritt voraus. "SAP tut sich schwer bei prozeßorientierten, multifunktional ausgerichteten Arbeitsplätzen", resümiert der Projektleiter.

Der ehemalige Wacker-Manager und spätere SAP-Berater Clotten nennt dafür ein Beispiel: Die spezifischen Probleme der Prozeßfertigung seien nicht gelöst, wenn ein taugliches Modul für die Produktionsplanung zur Verfügung stehe vielmehr müsse auch die Kostenrechnung an die Herstellprozesse angepaßt werden.

Das Kernproblem besteht darin, die an und für sich funktionsorientierten SAP-Module über ein vorgangsorientiertes Unternehmensmodell zu stülpen. Diese Aufgabe will Wacker nicht allein lösen. Deshalb bezieht sich das Abkommen mit der SAP vor allem auf die gemeinsame Anpassung der R/3-Software an die Unternehmensprozesse. Die Zusammenarbeit zwischen Kunde und Softwarelieferant soll sogar über den Projektabschluß hinausreichen.

Einen Betrag in zweistelliger Millionenhöhe läßt sich Wacker die SAP-Unterstützung bis zum Ende diese Jahrtausends kosten. Aber Umsatz ist nicht der einzige Vorteil, den die Walldorfer aus dieser Kooperation ziehen. Sie profitieren auch von dem Know-how, das sie aus der engen Kooperation mit dem Prozeßfertiger mitnehmen können.

Das Unternehmen

Die Wacker-Chemie GmbH, München, erzielte im vergangenen Jahr einen Konzernumsatz von 3,9 Milliarden Mark, von denen unter dem Strich rund 230 Millionen übrigblieben. Das Unternehmen beschäftigt etwa 14000 Mitarbeiter und setzt sich aus vier Geschäftsbereichen zusammen: Die Siltronic AG, Burghausen, beziehungsweise deren Produktionsanlage in Portland, Oregon, stellt Reinstsilizium für Halbleiter her. Keramische Werkstoffe produziert die Elektroschmelzwerk Kempten GmbH. Den Löwenanteil am Wacker-Geschäft machen jedoch die über ganz Deutschland verteilten Fertigungsstätten für Silikone und Polymere aus.