Run auf die Aktie rational schwer erklaerbar Neuemission Netscape legt am ersten Tag Senkrechtstart hin

25.08.1995

MUENCHEN (sc) - Was treibt die Boersianer dazu, sich wie Haie auf die Aktie einer Start-up-Company zu stuerzen, die nur Verluste macht? Kurz nach Handelsbeginn am Mittwoch, den 9. August 1995, hiess es bei der neu an der Nasdaq emittierten Netscape Communications Corp. bereits: Ausverkauft. Die Aktie war vielfach ueberzeichnet.

Dem Software-Unternehmen aus Mountain View, Kalifornien, diesen Anfang nachzumachen, duerfte schwerfallen. Noch Tage vor der Ausgabe mit einem Preis zwischen elf und 14 Dollar pro Anteilsschein angesetzt, gingen die Papiere, die aufgrund der erwarteten Nachfrage von 3,5 auf fuenf Millionen Stueck aufgestockt wurden, fuer 28 Dollar in den Telefonhandel. Morgan Stanley zufolge haetten sogar 100 Millionen Netscape-Notizen einen Abnehmer gefunden. Der Kurs schoss im Laufe des ersten Tages auf fast 75 Dollar hoch und lag kurz vor Boersenschluss bei rund 58 Dollar, also ueber dem Zweifachen des Ausgabewerts. Bei 36,6 Millionen Aktien ergibt sich anhand des Schlusskurses vom Mittwoch eine Boersenkapitalisierung von ueber 2,1 Milliarden Mark. Angesichts eines Halbjahresumsatzes in Hoehe von 16,6 Millionen Dollar sowie 4,7 Millionen Dollar Verlust ist der Newcomer damit deutlich ueberbewertet. Doch was trieb die Aktionaere dazu, sich sofort auf die Papiere eines eineinhalb Jahre alten Unternehmens zu stuerzen?

"Netscape ist eine der interessantesten Internet-Softwarefirmen. Und das ist ein Marktsegment, das abhebt", urteilt Kathy Smith, Analystin bei Renaissance Capital, Greenwich, Connecticut. So deckt das Unternehmen mit seinem Internet-Browser, den es fuer nicht kommerzielle Zwecke kostenlos abgibt, etwa 70 Prozent des Markts fuer Internet-Navigationssoftware ab. Diese Pole-Position hat bei den Anlegern offenbar Erwartungen geweckt. Der Wettbewerber Spyglass Inc. naemlich, der einige Wochen zuvor mit 17 Dollar den Handel eroeffnete, lockte die Investoren keineswegs - obwohl der Netscape-Konkurrent sein Produkt an OEM-Partner wie Microsoft lizenziert.

Die Aktionaere hoffen bei Netscape auf ein zweites "Wunder Microsoft", mutmassen die Analysten, die indes davon ausgehen, dass sich die Aktie innerhalb der naechsten Monate wieder auf einem niedrigeren Level einpendelt. So schloss der Netscape-Kurs bereits einen Tag nach der Neuemission mit 51,38 Dollar und erreichte zwischenzeitlich sogar einen Tiefstand von rund 48 Dollar.

Fuer kleine Kursspruenge sorgte um den 15. August herum nur AT&Ts Ankuendigung, den Navigator mit seinen PCs anzubieten und das Produkt konzernweit selbst zu benutzen. OEM-Abkommen dieser Art fehlten der Software-Company im Gegensatz zu Spyglass bisher, weswegen die Strategie, den Browser kostenlos abzugeben, zwar Marktdurchdringung, aber kein Geld in die Kassen brachte. Ob sich die Plazierung als Nummer eins je im Umsatz niederschlaegt, muss Netscape erst noch beweisen. Die Zeit koennte knapp werden. So kuendigte Microsoft an, den auf der Spyglass-Technologie basierenden Web-Browser "Internet Explorer" kostenlos abzugeben.

Wie Klein-Billy kann sich zumindest jeder der beiden Netscape- Gruender und Mehrheitseigner fuehlen: Chairman Jim Clark besitzt nach Berechnungen der "Financial Times" ein Aktienpaket im Wert von 670 Millionen Mark. Marc Andreesens Anteil duerfte nach dem Kurs vom Mittwoch etwa bei 69 Millionen Dollar liegen. Gut dabei ist dem Wirtschaftsblatt zufolge auch James Barksdale. Der President und CEO besitzt Aktien fuer umgerechnet 290 Millionen Mark.