Deutsch-französisches ISDN-Netz geht in Betrieb

Ricke schließt Privatisierung der Telekom nicht gänzlich aus

30.11.1990

BONN (pg) - Die offizielle Inbetriebnahme des deutsch-französischen ISDN in Bonn wurde von der Diskussion um die Privatisierung der Deutschen Bundespost Telekom überschattet. Auf das Thema angesprochen, sagte deren Vorstandsvorsitzender Helmut Ricke: "Wir wollen uns nicht auf Spekulationen über eine noch sehr unklares angedachte Neuordnung einlassen."

Wie erwartet stand nach dem Interview, das Finanzminister Theo Waigel dem "Spiegel" gegeben hatte, die Privatisierung der Telekom mit im Mittelpunkt der Veranstaltung zur Zusammenschaltung des deutschen ISDN und seines französischen Pendants Numeris. Gegenüber der COMPUTERWOCHE meinte Ricke: "Eine Privatisierung ist Sache unserer Eigentümer. Das ist der Bund. Deshalb muß sich die Bundesregierung darüber Gedanken machen und eine Entscheidung treffen."

Der Vorstandsvorsitzende scheint eine teilweise oder gänzliche Privatisierung seines Unternehmens jedoch nicht völlig ausschließen zu wollen. Alles, so Ricke, sei vorstellbar; England sei ein solches Beispiel. Die Telekom habe aber momentan ihr Augenmerk auf andere Schwerpunkte zu richten, nämlich auf die Entwicklung der Infrastruktur in den neuen Bundesländern und die Realisierung der Vorgaben des Poststrukturgesetzes. "Für andere Überlegungen", so Ricke, "bleibt keine Zeit."

Rickes oberster Dienstherr, Minister Christian Schwarz-Schilling, hatte die Spekulationen um die Übernahme der Telekom durch private Hände am selben Tag dementiert. Für das Unternehmen der Bundespost, so der Minister, gäbe es keine Verkaufspläne. Davon könne keine Rede sein, auch der Kanzler lehne einen solchen Schritt ab, versicherte Schwarz-Schilling. Er bestätigte jedoch, daß seit längerer Zeit überlegt werde, die Telekom bis zu einer Minderheitsbeteiligung für private Anbieter zu öffnen.

Ricke versuchte bei der Konferenzschaltung zwischen Bonn und Paris anläßlich der Inbetriebnahme des grenzüberschreitenden ISDN-Verkehrs, das Thema Privatisierung rasch in den Hintergrund zu drängen und den europäischen Gedanken zu betonen. Der Telekom-Chef bezeichnete die Zusammenschaltung der beiden Netze als einen wichtigen Schritt in Richtung auf das "Europäische Haus der Telekommunikation" und als infrastrukturelles Fundament für die europäische Wirtschaft.

Nach der Verbindung mit dem niederländischen ISDN ist die französische Koppelung die zweite der Telekom mit dem Ausland. Im Dezember soll laut Ricke Großbritannien folgen, im Frühjahr 1991 Italien, die USA und Japan. Bis 1993 werde ein europaweites ISDN mit einem gemeinsamen Standard angestrebt. Auf das sogenannte Euro-ISDN, eine koordinierte Einführung eines in Europa gültigen Standards, so Ricke, hätte sich die Telekom mit 25 weiteren Netzbetreibern aus 20 Ländern in einem "Memorandum of Understanding" verständigt.

Bei der Gelegenheit unterstrich der Vorstand auch die Fortschritte des ISDN-Ausbaus in der Bundesrepublik. Laut Ricke ist die Flächendeckung nach wie vor für 1993 geplant, werde in den fünf neuen Bundesländern aber noch etwas länger dauern. Bis Ende des Jahres sollen 135 Städte in Deutschland direkt versorgt und 117 Orte zusätzlich durch Fremdschaltungen an ISDN angeschlossen sein.

Bis Mitte der 90er Jahre rechnet Ricke mit 300 000 bis 500 000 Anschlüssen. Er rückte damit deutlich von früheren Prognosen der Post ab, die weit mehr Kunden vorhersagten. Der Telekom-Boß pries bei der Veranstaltung besonders die Wirtschaftlichkeit von ISDN an. Bei dem digitalen Netz der Post, so Ricke, stünden weniger die technischen Möglichkeiten im Vordergrund als vielmehr die kostengünstige Nutzung. Die Telekom müsse deshalb die Vorzüge von ISDN dem Anwender nahebringen und sich für eine Verbesserung der Produkte und Dienste einsetzen.