Standardsoftware für das Finanzwesen/Integriertes Standardsoftwarepaket versus Best-of-Class-Lösung

Reederei nutzt Finanzstandardsoftware als Basis für Management-Entscheidungen

15.05.1998

Die DSR-Senator Lines arbeitet im Rahmen eines dezentralen DV-Konzepts mit mehreren Host-Rechnern (DEC-Alpha von Digital), an den Hauptstandorten Bremen, Hongkong und Paramus/ New Jersey. An diese sind je 50 Terminals in Asien und Amerika und etwa 300 Terminals in Europa angeschlossen. Die Host-Rechner sind über ein WAN miteinander und über lokale Netze mit den Terminals verbunden, wobei als Übertragungsprotokolle TCP/IP und IPX eingesetzt werden. Zusätzlich stellt das WAN Verbindungen zu weiteren eigenen Niederlassungen, den Vertriebspartnern sowie zahlreichen Kunden und Lieferanten weltweit her.

Bis 1995 war die Systemlandschaft der DSR-Senator Lines von einer Vielzahl eigens für den Reedereibetrieb entwickelter operativer Systeme geprägt, die den spezifischen Anforderungen der Geschäftsprozesse angepaßt waren. Diese basierten auf verteilten Datenbanken, die mit dem System "Mumps/M Technology", einer Entwicklungsumgebung und einer hierarchischen Datenbank, realisiert wurden. Zu den operativen Systemen zählten Programme zur Abwicklung des Schiffsbetriebs, beispielsweise für das Stauen der Ladung oder das Erstellen von Fahrplänen und Positionslisten, eine Container-Control-Lösung zur Verwaltung der Containerflotte sowie Programme zur Unterstützung der Landtransportlogistik. Darüber hinaus arbeitete das Unternehmen mit einem Buchungs- und Dokumentations- sowie dem Buchhaltungssystem "Ships/Wildata". Um mit dieser Standardsoftware die spezifischen Anforderungen einer Reederei erfüllen zu können, wurde jedoch der vom Hersteller zur Verfügung gestellte Quellcode im Laufe der Nutzung fast vollständig neu programmiert.

Die technisch ausgerichteten Vorsysteme lösten kommerzielle Prozesse aus, die sich letztlich in der Finanzbuchhaltung widerspiegelten. 1995 waren die Kapazitätsgrenzen der Finanzbuchhaltungslösung erreicht. Die Ursachen dafür lagen vor allem in den hohen Leistungsanforderungen an die Finanzbuchhaltung, die sich durch das immense Datenvolumen, das bei der Abwicklung des weltweiten operativen Geschäfts innerhalb der Bremer Gesellschaft anfällt, ergeben. Hinzu kommt, daß der Rechnungsverkehr inklusive der Rechnungsprüfung wegen komplizierter Tarifsysteme im Leistungseinkauf sehr komplex ist und mit den meisten Geschäftspartnern elektronisch abgewickelt wird. Ein weiterer Grund für die hohen Anforderungen an die Finanzbuchhaltung ist das Handling von Aufträgen, die internationale Transporte betreffen und deshalb auch in den verschiedensten Fremdwährungen berechnet werden müssen. Zudem müssen derzeit 15 administrative Tochtergesellschaften in den Konzernabschluß einbezogen werden.

Die Überlastung des alten Finanzbuchhaltungssystems machte sich vor allem durch ungenügende Sicherheitsstandards und eine hohe Fehleranfälligkeit bemerkbar. Am meisten störten jedoch die ungenügenden Möglichkeiten zum Handling fremder Währungen sowie die fehlende Zweitwährungsfähigkeit für den US-Dollar. Hinzu kamen eingeschränkte Funktionalitäten in Debitoren- und Kreditorenbuchhaltung, zum Beispiel im Mahnwesen.

So entschied DSR-Senator Lines Anfang 1995, eine neue Finanzbuchhaltungssoftware einzusetzen. Dabei sollten neben der Beseitigung der Fehler und Schwachstellen zusätzliche Funktionalitäten entwickelt werden, die größtenteils im Bereich der Kostenrechnung liegen und branchenspezifischen Anforderungen entsprechen müssen: Schiffahrtstypische Geschäftsabläufe führen dazu, daß sich insbesondere Kostendaten nur mit großer Zeitverzögerung buchen lassen. Deshalb setzt das Unternehmen im Controlling sowohl für die Ist-Berichterstattung als auch zur Bewertung zukünftiger Geschäfte Schätzwerte ein. Um die notwendige Validierung dieser Schätzwerte durchführen zu können, wird das Finanzbuchhaltungssystem auch als relationale Datenbank mit zusätzlichen statistischen Informationen eingesetzt, die aus Vorsystemen an die Buchhaltung übergeben werden. Die flexible Nutzung der Buchhaltung als Informationsbasis hatte hierbei Vorrang vor spezifischen Kostenrechnungsverfahren.

Der Entscheidung für ein bestimmtes Produkt ging im Juni 1995 eine ausführliche Machbarkeitsstudie voraus. Darin dokumentierte die Reederei die gesamte Systemlandschaft und ermittelte einen detaillierten unternehmensspezifischen Anforderungskatalog. Bereits in dieser Phase des Projekts ließ sich DSR-Senator Lines durch Consult Team Hamburg (CTH) begleiten. Den Entscheidungsprozeß unterstützte die Anwendung eines Punktbewertungsverfahrens (siehe Kasten "Anforderungskatalog..." auf Seite 56).

Diesen Anforderungskatalog erweiterte die DSR-Senator Lines mit zahlreichen Detailfragen und legte diese schließlich sieben von ursprünglich mehr als 30 angesprochenen Softwarehäusern vor. Basierend auf den Antworten, bestimmte das Unternehmen Zielerreichungsgrade auf der Ebene der Hauptkriterien, gewichtete diese mit einem Bewertungsschlüssel und errechnete schließlich aus den einzelnen Punktwerten eine Gesamtbewertungszahl. Dieses strenge Auswahlverfahren bestanden nur drei Unternehmen. Die anderen schieden von vornherein aus: Sie boten keine Möglichkeit, mehrere Perioden gleichzeitig für Buchungen zuzulassen oder Rechnungen in einer anderen als der Buchungswährung zu zahlen. Als weiteres K.-o.-Kriterium galt die ungenügende Möglichkeit der Historisierung von Daten und der gleichzeitigen Bebuchung von Debitoren- und Kreditorenkonten. Darüber hinaus erfüllten ihre Angebote eine der wichtigsten Bedingungen nicht: die Daten der Finanzbuchhaltung als Informationsbasis für Management-Entscheidungen nutzbar zu machen.

Entscheidung zwischen zwei Systemphilosophien

Mit den drei im Rennen gebliebenen Softwarehäusern vereinbarte die Reederei im Oktober 1995 ausführliche Präsentationen, in denen ein Modell-Mandant mit spezifischen Geschäftsvorfällen dargestellt werden sollte. Nachdem eines der Unternehmen vom Angebot zurücktrat, blieben für die DSR-Senator Lines noch zwei Standardsoftware-Unternehmen zur Auswahl: SAP und Coda.

Die Software von SAP als typisches Beispiel eines integrierten Systems bietet allerdings neben der Finanzbuchhaltung im engeren Sinn eine Auswahl darauf abgestimmter Vorsysteme beziehungsweise ergänzender Module mit einer Vielzahl vorstrukturierter Abläufe, die die DSR-Senator Lines erst an ihre speziellen Branchenerfordernisse hätte anpassen müssen.

Darüber hinaus hätte die Anpassung sämtlicher Schnittstellen bei SAP einen absehbar höheren Aufwand verursacht als bei Coda, das mit dem Modul "Coda Link" komfortable Schnittstellen-Optionen bereitstellt. Schließlich wäre die Nutzung vieler SAP-Detaillösungen im Rechnungswesen - zum Beispiel im Controlling - nicht möglich gewesen, weil die hierfür erforderlichen SAP-Vorsysteme nicht zur Verfügung gestanden hätten.

Coda wiederum realisiert eine offene Systemphilosophie, die darauf abzielt, eine Best-of-Class-Lösung für den Bereich Rechnungswesen anzubieten, die sich möglichst flexibel in eine fremde Systemlandschaft einbetten läßt.

Hierbei verzichtet man bewußt auf vorstrukturierte Abläufe, um eine möglichst hohe Systemflexibilität zu erreichen.

Aufgrund dieser Flexibilität konnte das Unternehmen in sehr kurzer Zeit einen funktionsfähigen Beispiel-Mandanten erstellen, der in der Lage war, die vorgegebenen Geschäftsvorfälle vollständig zu bearbeiten. Sie war letztendlich auch ausschlaggebend für die Entscheidung der DSR-Senator Lines, das Finanzbuchhaltungssystem "Coda-Financials" einzusetzen. Außerdem erwartete die Reederei, daß sich die Implementierung der neuen Software innerhalb kürzester Zeit realisieren läßt.

Schnelle Implementierung

Diese Erwartung wurde nicht enttäuscht. Nach dem Vertragsabschluß im Dezember 1995 begannen im darauffolgenden Januar die technischen Installationen sowie die Definition detaillierter Umsetzungswege. Im Mai 1996 erfolgte der erste erfolgreiche Einsatz in zehn administrativen Gesellschaften. Die Software für die operative Gesellschaft, in der die gesamte Frachtabwicklung durchgeführt wird, wurde im Dezember in Betrieb genommen. In der Zeit von Juni bis Dezember 1996 waren 15 komplexe Schnittstellen zu realisieren. Im April 1997 war der stabile Betrieb in allen Gesellschaften erreicht.

Bei der Implementierung ging die DSR-Senator Lines prozeßorientiert vor. Administrative Vorgänge, beispielsweise die Bearbeitung eines bestimmten Rechnungstyps oder einer Bankbuchung, wurden in Dokumententypen umgesetzt. Mit diesen ließen sich Verarbeitungsabläufe vordefinieren und durch die Führung des Benutzers die administrative Effizienz erhöhen sowie etliche Fehlerquellen eliminieren.

Das Definieren der Schlüsselelemente der Datenbankstruktur war ein weiterer wichtiger Punkt bei der Implementierung der Finanzbuchhaltungssoftware, wobei maximal acht Elemente zu belegen waren. Sie erlauben jeweils eine Ergänzung durch vier Felder, in denen weitere Informationen vorgehalten werden können. Über die Angaben von Kontonummer, Kostenstelle und Kostenträger hinaus lassen sich also weitere Kriterien frei definieren, die dann eine weitaus flexiblere Nutzung des Buchhaltungssystems als Basis für ein umfassendes Executive Information System (EIS) gestatten. Bei der DSR-Senator Lines sind Informationen über Teilstrecken des Transportnetzwerks, Transportaufträge und Kunden von besonderer Bedeutung. Dabei soll in der letzten, heute noch nicht erreichten Ausbaustufe, eine Ist-Erfolgsrechnung nach Kunden, Aufträgen und Teilstrecken der Transportkette ermöglicht werden.

Mit ein Grund für die erfolgreiche Implementierung des neuen Finanzbuchhaltungssystems war die Projektphase der Machbarkeitsanalyse, in der Schwachstellen des alten Systems offengelegt und alle anzubindenden Vorsysteme dokumentiert wurden. Diese Projektphase hätte, wie sich später zeigte, noch ausführlicher gestaltet werden sollen. Denn die Mängel in der Dokumentation der Vorsysteme waren Ursache für zeitraubende Probleme bei der Umsetzung der Schnittstellen-Realisierungen - eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Anbindung des neuen Finanzbuchhaltungssystems.

Mit der neuen Standardsoftware unternahm DSR-Senator Lines den Schritt von einer dezentralen zu einer zentralen Finanzbuchhaltung. Obwohl es sich dabei um die erste derartige Systemanwendung handelte, traten keine für Client-Server-Systeme typischen Schwierigkeiten auf, zum Beispiel unbefriedigende Antwortzeiten oder hoher Bedarf an Rechnerleistung, Netzwerk-Performance und DV-Personal. Auch die geplante Verdoppelung der Datenmenge wurde mit Einführung des neuen Systems nicht überschritten. Dennoch sollte die Datenbankorganisation effizient organisiert und täglich von einem erfahrenen Systemadministrator betreut werden.

Die Systemleistung bestimmen nicht nur die Fähigkeiten der Host-Rechner; sie hängt auch wesentlich von der Kapazität der lokalen Netzwerke ab. Genauso ist auf die Dimensionierung des WAN zu achten, insbesondere wenn Entfernungen wie Bremen - Hongkong zu überbrücken sind, bei denen die physikalisch möglichen Signallaufzeiten zu einem spürbaren Faktor werden.

Schließlich mußten die Client-PCs gegenüber der Planung leicht aufgewertet werden, wobei 486-PCs mit 16 MB Speicher und 60 Megahertz Taktfrequenz schon zu befriedigenden Ergebnissen führten.

Abschließend sollen hier die Vor- und Nachteile der beiden Systemphilosophien integriertes Softwarepaket und Best-of-Class-Lösung diskutiert werden.

Bei Coda-Financials gibt es die eine oder andere Kinderkrankheit, die wahrscheinlich bei der lange im Markt etablierten Software von SAP nicht mehr auftritt. So gab es zum Beispiel Probleme bei der Realisierung von Schnittstellen.

Diese Schwierigkeiten ließen sich auf ein fehlerhaftes Modul zurückführen, das nicht in der Lage war, ein bestimmtes Feld einer Datei zu beschreiben. In der neuen Version ist dieser Fehler bereits behoben. Ein anderes Beispiel sind die Probleme bei der Ermittlung von Währungskursdifferenzen. Hier soll die neue, eurofähige Version Coda-Financials 6.0, auf die die Reederei migrieren wird, Abhilfe schaffen.

Ein Nachteil, der sich gerade aus dieser Etabliertheit von SAP ergeben mag, ist die aus Sicht der Reederei wahrgenommene Zurückhaltung bei der Präsentation schiffahrtsspezifischer Lösungsansätze: So schnitt Coda bei der Präsentation um ein Vielfaches besser ab als SAP, und dies, obwohl SAP Schiffahrtserfahrung hat. Dieses Wissen setzte der Marktführer allerdings nicht unmittelbar für die Präsentation ein.

Die Vorteile eines offenen Systems liegen sicherlich im Er- halt der Vorsysteme, die weiterhin in vollem Umfang genutzt werden können. Gleichzeitig ermöglicht diese Art der Systemphilosophie die schnelle Implementierung einer neuen Finanzbuchhaltung.

Allerdings birgt der hohe Grad an Systemflexibilität auch Risiken. Der erfolgreiche Verlauf der Implementierung steht und fällt mit der detaillierten Strukturierung der administrativen Abläufe. Das heißt konkret: Der Anwender kann nicht wie bei einer integrierten Lösung auf gut vorstrukturierte Abläufe aufbauen, sondern muß diese Strukturierungsarbeiten selbst leisten.

Bei DSR-Senator Lines wurden genau aus diesem Grund einige Details nicht zur letzten Zufriedenheit umgesetzt. Dafür muß in nächster Zukunft eigens Aufwand und Vorsorge betrieben werden, was beim Einsatz einer integrierten Lösung aller Voraussicht nach nicht der Fall wäre.

Angeklickt

Für DSR-Senator Lines kam es nicht in Frage, das Produkt eines Software-Anbieters mit umfangreicherem Anpassungsbedarf und damit absehbar höheren Implementierungskosten einzusetzen. Darüber hinaus war es der weltweit tätigen Reederei wichtig, daß sich die neue Finanzbuchhaltungssoftware nahtlos in ihre Vorsysteme integrieren läßt. Deshalb fiel die Entscheidung der Bremer Reederei auf die Lösung von Coda. Unternehmen, die jedoch bereit sind, sich eher SAP anzunähern als umgekehrt oder die aus einer Branche kommen, die von SAP gut abgedeckt wird, sind mit einem integrierten Systempaket möglicherweise besser bedient. In diesem Fall dürfte der Anwender aus den zahlreichen vorstrukturierten Abläufen mit hoher Zuverlässigkeit profitieren können.

Der Anwender

DSR-Senator Lines ist eine global tätige Reederei, die vielfältige Linienverkehre für containergebundene Transporte anbietet. 1997 beschäftigte das Unternehmen weltweit etwa 640 Mitarbeiter, die bei einem Transportvolumen von zirka 800000 TEU (= twenty foot equivalent unit) einen Umsatz von mehr als zwei Milliarden Mark erzielten. Die Reederei arbeitet mit über 100 Befrachtungsagenten zusammen und setzt derzeit 46 Containerschiffe mit einer Stellplatzkapazität von insgesamt knapp 116000 TEU ein.

Dr. Bernd Pokrandt ist Direktor Corporate Controlling, Kevin Overman ist Department Manager Systems Development der DSR-Senator Lines in Bremen.