IuK-Standort Großbritannien: Ein Status-quo-Bericht

Rechtzeitig die Weichen gestellt

08.06.2001
Offensiver als andere EU-Staaten hat Großbritannien bereits in den 80er Jahren die Liberalisierung des TK-Marktes und den Ausbau der dazugehörigen Infrastruktur vorangetrieben. Das Resultat: Dutzende private Telefonanbieter, Tausende von IT-Dienstleistern, aber auch zahlreiche etablierte Hard- und Softwarefirmen wie Microsoft, Cisco, Lucent und Nortel, die auf der Insel produzieren lassen, machen das Land zu einem der gefragtesten IT-Standorte weltweit. Von Martin Steffan*

Das positive Umfeld hat die Großen der IuK-Branche schon früh auf die Insel gelockt. Heute machen aber auch dem mittelständischen Investor flexible Arbeitsmarktregelungen, niedrige Arbeitskosten, Fördermittel, Vergünstigungen und eine, gemessen am europäischen Durchschnitt, niedrige Körperschaftssteuer die Standortwahl leicht. Allein die Entwicklung des TK-Sektors verläuft so rasant, dass der ebenfalls boomende Computer- und Elektronikbereich erstmals seit Jahren überflügelt wurde, wie eine im vergangenen Jahr veröffentlichte Liste der 100 am schnellsten wachsenden Unternehmen im Königreich beweist.

Im Kern lieferten aber sowohl Entwicklungen im Computer- als auch im TK-Bereich letztendlich die Basis für ein florierendes E-Commerce-Geschäft, in dem unter anderem mehr kommerzielle Websites als in irgendeinem anderen europäischen Land die britische Internet-Wirtschaft prägen. 81 Prozent der Unternehmen verfügen über einen Internet-Anschluss, und mehr als 27 Prozent wickeln den B-to-B- und B-to-C-Handel teilweise oder ganz über das Web ab.

Die positiven Folgen der Deregulierung zeigen sich insbesondere im IT- und E-Commerce-Sektor. Allein im Softwarebereich sind derzeit mehr als 30000 Firmen mit unterschiedlichsten Zielen und Mitarbeiterzahlen aktiv. Die Menge der Unternehmen ist ein Ergebnis der staatlichen Zulassungsmodalitäten, die unkomplizierter sind als in anderen EU-Staaten, wie eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaft (IW) belegt: Beurteilt wurden in diesem Gutachten sieben Indikatoren. Bei der "administrativen Bewertung", also der Einschätzung von Genehmigungsverfahren und Auflagen für junge Unternehmen, schnitten die Briten mit 5,5 am besten ab, noch vor den USA mit einem Wert von 5,0 und Deutschland mit 3,3. Auch beim Indikator "Internationale Offenheit" belegt das Königreich den Spitzenplatz weit vor seinen Konkurrenten.

"Herzstück" der Gründungswelle ist die Ballung zahlreicher Spezialfirmen, die sich entlang der Autobahn von London zur Westküste, dem so genannten M-4-Korridor, angesiedelt haben. In dieser Zone ist auch die Berliner Dica Technologies AG mit 50 Software-Spezialisten präsent. Das Unternehmen entwickelt eine Blackbox, die E-Mails über ISDN von Firma zu Firma verschickt, ohne dass sie von einem Außenstehenden eingesehen werden können. Gordon Temple, geschäftsführender Direktor in der britischen Außenstelle, ist überzeugt, mit der Blackbox eine echte "Internet-Sicherheitsrevolution" auf den Weg gebracht zu haben.

Ansiedlung "großer Namen"Rund 160 Kilometer nördlich, in Derby, hat sich die Darmstädter Software AG angesiedelt. Insgesamt 120 Mitarbeiter, weitere 30 im Verkaufs- und Marketing-Büro in Bracknell, produzieren und vertreiben dort E-Business-Lösungen. Dabei ist der Kundenstamm ebenso international ausgerichtet wie die Belegschaft. Zu den Abnehmern der Darmstädter gehören Großbanken wie die britische Niederlassung der Deutschen Bank, Verwaltungen oder Konzerne wie British Petroleum - aber auch Hunderte von mittelständischen Unternehmen, die den Produktionsstandort Großbritannien gewählt haben.

Und das aus gutem Grund: "Die Kunden verlangen es einfach", erklärt Mark Edwards, Geschäftsführer der Software AG in Derby, lakonisch. Der Standort biete gegenüber London Vorteile, die auf den ersten Blick zunächst nur im Vergleich mit der Hauptstadt deutlich werden. Eine vorzügliche Lebensqualität und ein überdurchschnittlich gutes Angebot an Arbeitskräften sind Gründe, die für ein Engagement in den Midlands sprechen. Deshalb, so Edwards, biete der Neubau seines Arbeitgebers am Standort Pride Park, einem neu erschlossenen Gewerbegebiet mit eigenem Bahnhof, ein hervorragendes Umfeld für Softwareentwickler.

In Bristol, knapp 190 Kilometer von London entfernt und am westlichen Ende des M-4-Korridors angesiedelt, entwickeln 100 Mitarbeiter eine neue Generation von Halbleiterchips für den deutschen Chipproduzenten Infineon. Hier haben auch Motorola und Orange eine Niederlassung. Auf einem alten Landsitz in der Nähe stellen aber die Designer und Fachleute der Motion Media Technology Ltd. Tischgeräte für telefonische Übertragungen von Ton und Bild her. Die Company begann 1993 mit acht Mitarbeitern; heute sind dort 70 Fachkräfte beschäftigt. Damit der Gründerboom nicht abebbt, wird von staatlicher Seite alles unternommen, um auch die kommerzielle Nutzung des Internet in Großbritannien voranzutreiben.

Aktiv ist hier insbesondere Invest-UK, die britische Regierungsbehörde für Auslandsinvestitionen, die potenziellen Investoren die Ansiedlung in Großbritannien so einfach wie möglich machen möchte. Zu ihren Aufgaben gehört die Informationsbeschaffung für Firmengründer, die Klärung von Rechts-, Steuer- und Personalfragen, aber auch die Beratung über die Vergabe finanzieller Hilfen. Die Regierungsstelle greift den "Neuen" sogar bei der Vermittlung von Gewerbeflächen und Büros unter die Arme.

Regierung als SchrittmacherStarke Unterstützung erhält die Arbeit von Invest-UK durch ein Regierungsprogramm, das den Firmen der mittelständischen Old Economy das Internet so nahe wie möglich bringen will. Patricia Hewitt, seit 1999 Staatssekretärin für E-Commerce, hat für die staatliche Internet-Beratung mehr als 100 Fachleute eingestellt, die den noch ungeübten Firmen den Weg ins Netz erleichtern sollen. Dabei liegt der Ministerin der Auf- und Ausbau von Handelsplattformen besonders am Herzen, wie das Programm "UK Online for business" belegt. Vorrangig kleine und mittlere Unternehmen bekommen hier ihre ersten Internet-Einweisungen. Für die Bildungseinrichtungen im Lande hat sich die Regierung Blair darüber hinaus ein ganz besonderes Ziel gesetzt, nimmt man Patricia Hewitt beim Wort: Bis 2005 wird das am besten ausgebaute Breitbandkabelnetz in den G7-Staaten entstehen. Alle Schulen, Bibliotheken, Colleges und Universitäten sollen dann die neue Technologie nutzen können.

Endgültig gelöst werden muss bis dahin das Problem der Rekrutierung von Arbeitskräften, das aber rechtzeitig erkannt und konsequent entschärft wurde und darum nicht so massiv auftritt wie in Deutschland. Entgegen dem - auch im übrigen Westeuropa üblichen - Fachkräftemangel bringen die Universitäten in Nordengland und Nordirland mehr geeignete Absolventen hervor, als im unmittelbaren Umland beschäftigt werden können. Mit anderen Worten: Die viel zitierte Green Card war bis dato auf der Insel kein Thema. Im Gegenteil: Der "Überschuss", den die Hochschulen produzieren, findet in den großen Softwareschmieden des Landes schnell einen guten Job. Unter dem Strich sind heute über 600 000 hoch qualifizierte Computerfachkräfte im Softwarebereich tätig. Hinzu kommen mehrere tausend Mitarbeiter in der Elektroindustrie.

Neben den Bereichen Forschung und Produktion zog auch der Ausbau von Kabel- und TK-Netzen eine Fülle von Dienstleistungen nach sich. Am In- wie Outbound-Geschäft verdienen auch ausländische Unternehmen wie der deutsche Bertelsmann-Konzern prächtig. Das Unternehmen hat erst jüngst eines der modernsten Call-Center in Liverpool für rund 2,5 Millionen Pfund eingerichtet. Bis Ende 2002 sollen dort mehr als 350 Arbeitsplätze in einem alten Handelshaus nahe den Liverpooler Docks entstehen.

Großbritannien liegt im internationalen Vergleich mit rund 5000 aktiven Call-Centern hinter den Vereinigten Staaten auf Platz zwei. 40 Prozent der britischen Call-Center sind dabei international - will heißen: multilingual - ausgestattet. Diesem Umstand ist es mit zu verdanken, dass die einschlägige Branche um 35 Prozent pro Jahr wächst. Insgesamt beschäftigen die entsprechenden Dienstleister im Moment fast 40 Prozent aller Call-Center-Agents in Europa.

Telefontarife als "Visitenkarte"Für die privaten Verbraucher, aber auch für Geschäftskunden sind indes die rapide fallenden Telefongebühren immer noch das sichtbarste Zeichen, dass sich im Königreich eine Menge tut. Seit der Privatisierung des TK-Marktes im Jahr 1984 fielen die Preise im Durchschnitt um bis zu 50 Prozent. Nur in Schweden ließ sich 1999 im westeuropäischen Vergleich noch günstiger telefonieren. Andere technische Innovationen, wie der Ausbau der Breitbandtechnologie, sollen in den kommenden Jahren einen weiteren Preissturz einleiten. Auf dem Weg zu diesem Ziel schlägt die britische Regulierungsbehörde seit Anfang 2001 schärfere Töne gegenüber der ehemals staatlichen British Telecom (BT) an, die sich immer noch nicht ganz aus der alten Rolle eines Staatsunternehmens gelöst hat und zunächst nur 600 der insgesamt 6000 Vermittlungsstellen im ganzen Land für Konkurrenzgesellschaften geöffnet hat.

Sollte die anvisierte Marktöffnung für private Unternehmen in den kommenden Monaten konsequent durchgezogen werden, dürfte einer flächendeckenden Verbreitung von Breitbanddiensten nichts mehr im Wege stehen. Die technischen Voraussetzungen, also der digitale Austausch von Daten, sind seit November 2000 zumindest schon für mehr als ein Drittel der Bevölkerung gegeben - Tendenz steigend. Unterm Strich verspricht das Breitbandgeschäft nach Ansicht von Experten zu einem der lukrativsten und wichtigsten Segmente (auch) des TK-Marktes zu werden.

*Martin Steffan ist freier Mitarbeiter bei der deutschen Pressestelle von Invest-UK.