Pilotanwender fuehrt Finanzbuchhaltung ein

R/3 stellt hohe Ansprueche an Rechnerperformance und Speicher

26.03.1993

Fuer die beteiligten Unternehmen war die Einfuehrung ein Pilotprojekt in doppeltem Sinn. "Uns war beim Start des Projektes bewusst, dass wir zu den ersten R/3-Kunden gehoeren. Zu einem spaeteren Zeitpunkt waere uns sicherlich einige Zusatzarbeit, erspart geblieben", bringt Heinz Moerbe von der Stuttgarter Messe- und Kongressgesellschaft mbH die Projekterfahrungen auf den Punkt.

Anforderungen an das neue System

Ende 1990 definierten die Verantwortlichen im Rahmen einer Studie die zukuenftigen Informationssysteme. Anlass dieser Untersuchung war die mittelfristige Abloesung der beiden Nixdorf 8870-Systeme und ihrer Comet-Anwendungen. Das neue DV-Konzept sollte verfuegbare und zukuenftige Standards und den Weg zu offenen Systemen beinhalten. Wesentliche Punkte dabei waren folgende Forderungen:

- offene Betriebssysteme,

- offene Netzwerksysteme,

- Einsatz von Standard-Anwendungssoftware,

- operatorloser RZ-Betrieb,

- einheitliche Arbeitsplatz-Ausstattung auf Basis von DOS-PCs,

- flaechendeckendes, schnelles und flexibles Netz,

- Verfuegbarkeit von Rechenleistung und Ressourcen ueber entsprechende Server im Netz,

- einfacher Zugang der Endbenutzer zu den Anwendungen sowie

- Verfuegbarkeit aller Anwendungen an jedem Arbeitsplatz.

Das Netzwerk als Rueckgrat fuer die neue Informations-Infrastruktur wurde zuerst in Angriff genommen. Eine flaechendeckende Verkabelung auf Basis von Ethernet stellt an jedem Arbeitsplatz den Zugang zu den gemeinsamen Anwendungen und Ressourcen sicher. Die PC- Arbeitsplaetze werden ueber Novells "Netware" in mehreren Server- Subnetzen mit Anwendungen und Peripherie-Ressourcen versorgt.

Die Ausschreibung fuer die Einfuehrung des Messeplanungs-Systems als erste Unix-basierende Anwendung erfolgte Mitte 1991. Die darin enthaltenen Anforderungen beruecksichtigten bereits wesentliche Aspekte einer unter Unix laufenden Finanzbuchhaltung und Kostenrechnung. Den Voraussetzungen fuer einen eventuellen Einsatz von SAP-Komponenten bei der Hardware- und Software-Ausstattung sollte so weit wie moeglich Rechnung getragen werden.

In puncto Hardware entschieden sich die Verantwortlichen fuer die RS/6000 von IBM. Ende 1991 fuehrten die Fachbereiche der Messe und SAP eine Untersuchung ueber den moeglichen Einsatz von SAPs R/3- Finanzbuchhaltung und Kostenrechnung durch. Das Ergebnis dieser Studie war dann das endgueltige "Go" fuer die Einfuehrung dieser Komponente.

Zu diesem Zeitpunkt war allen Beteiligten bewusst, dass bei diesem Projekt Pionierarbeit zu leisten sein wuerde. Weder Referenz- Installationen noch ausreichend andere Erfahrungen im Markt waren verfuegbar. Um die technischen Voraussetzungen moeglichst fruehzeitig zu erfassen und die Erfahrungen aus den ersten Testinstallationen nutzen zu koennen, fanden noch 1991 die ersten Gespraeche mit dem IBM-Competence-Center der SAP in Walldorf statt.

Fuer die Zusammenstellung des eigentlichen Projektteams wurde auf eine bereits in frueheren Vorhaben bewaehrte Mischung aus eigenen und fremden Ressourcen zurueckgegriffen:

- Die Messe war fuer Ansprechpartner aus den Fachabteilungen verantwortlich.

- Die DV-Abteilung stellte alle technischen Ressourcen zur Verfuegung.

- Die Firma Softpro kuemmerte sich um die gesamte Systemtechnik und Vernetzung.

- Der Aufgabenbereich des Unternehmen D&S umfasste den gesamten fachlichen Teil und die Gesamtkoordination.

- Die IBM Deutschland uebernahm als Hardware-Lieferant fuer das Gesamtprojekt die Patenschaft.

- SAP in Walldorf stellte den Second Level Support.

Die Verstaerkung des Personals ermoeglichte es, dass die sehr kleine DV-Mannschaft der Messe parallel zu dem umfangreichen Tagesgeschaeft mehrere Projekte bewaeltigen konnte. Dazu gehoert derzeit die Betreuung von sechs Unix-Servern und zirka 200 PCs mit umfangreicher Peripherie. Auf diesen Systemen stehen den Endbenutzern ueber 15 verschiedene Anwendungen zur Verfuegung.

Bis zum Abschluss des Vertrages mit der SAP sollte aber noch ein halbes Jahr vergehen. Das Projektteam nahm Mitte des Jahres die Arbeit auf und fuehrte die ersten Gespraeche mit den Fachabteilungen. Fast parallel zum Eingang des unterschriebenen Vertrages in Walldorf trafen die Baender des SAP-Releases 1.1 Anfang August in Stuttgart ein. Die Version 1.1 wurde von SAP zum Anfang Juli 1992 offiziell freigegeben. Nach einer reibungslosen Installation auf dem Testsystem konnte Ende August 1992 die praktische Projektarbeit beginnen.

Im Juni 1992 hatten die beteiligten Partner ein Meeting veranstaltet, auf dem man sich ueber Fragen der Projektorganisation verstaendigte. Aufgrund der strategischen Bedeutung des Vorhabens wurde auch ein Lenkungsausschuss ins Leben gerufen, der mit Mitgliedern der obersten Fuehrungsebene besetzt war.

Der Messe Stuttgart war bewusst, dass fuer den Umgang mit der neu zu schaffenden Infrastruktur parallel zum Projekt SAP-spezifisches Know-how sowohl in betriebswirtschaftlicher als auch technischer Hinsicht aufzubauen war. Dies betraf neben der Finanzbuchhaltung vor allem die Komponenten AIX und Oracle.

Die Messegesellschaft erreichte diese Ziele durch externe Grundlagenkurse, die auch die Basis fuer eine einheitliche SAP- bezogene Terminologie und Ablauforientierung bildete sowie durch hausinterne Schulungen mit besonderer Gewichtung zu Beginn und Ende des Projektes.

Den urspruenglichen Ansatz, die Komponenten Finanzbuchhaltung und Controlling gemeinsam einzufuehren, hatten die Stuttgarter aufgrund der Empfehlungen der Berater fruehzeitig aufgegeben. Diese Entscheidung hat sich rueckblickend wegen des verbindlichen Einsatztermins zum 1. Januar 1993 und der Unwaegbarkeiten aufgrund der neuen Infrastruktur als richtig erwiesen.

Dazu kam, dass mit R/3 nicht auf der gruenen Wiese begonnen werden konnte. Neben der abzuloesenden Comet-Finanzbuchhaltung auf einer Nixdorf 8870 mussten weitere Messe-eigene Systeme beruecksichtigt werden.

Deshalb mussten die Projektteams nicht nur ein Gesamtszenario ueber das Zusammenwirken aller Anwendungen entwickeln, sondern auch dafuer sorgen, dass alle auf dem Nixdorf-System befindlichen Anwendungen in neue technische Umgebungen, also auf PC beziehungsweise RS/6000 portiert werden konnten. Hinzu kam eine zusaetzliche Neuentwicklung "Messe-Planung" auf Oracle-Basis, die zentrale Daten mit SAP austauscht.

"Wir messen SAP R/3 in unserem Haus eine grundlegende Bedeutung zu. Deswegen haben wir uns entschlossen, die zwei abzuloesenden Systeme ,Kartenstelle´ und ,Kreditoren-Rechnungsverfolgung´, in der SAP-eigenen Entwicklungsumgebung realisieren zu lassen", schildert Moerbe die strategischen Ueberlegungen bei der Messe Stuttgart.

Dass der Kunde mit R/3 kein weiterentwickeltes R/2 erwirbt, sondern ein technisch und Bedienungs- sowie Ablauf-organisatorisch voellig neuartiges Produkt, hatte sich auch bereits aus den ersten Kontakten zu SAP ergeben.

Erfahrungen ueber Performance und Durchsatz unter Produktionsbedingungen lagen naturgemaess nicht vor. Die Messe begann mit einem Testsystem auf einer RS/6000, Modell 530, deren Performance-Grenzen sich bei mehr als fuenf Benutzern zeigten.

Grosser Bedarf an Speicherplatz

Die Finanzbuchhaltung laeuft auf einer RS/6000, Modell 950, die urspruenglich fuer einen gemeinsamen Betrieb mit dem Messe-eigenen System "Messeplanung" konfiguriert worden war. Performance und Durchsatz legen nahe, nur die Finanzbuchhaltung von R/3 sowie die Datenbank auf einem Rechner zu betreiben und das Messe-eigene System auf einem anderen Rechner laufen zu lassen. Schon R/2 war sehr ressourcenintensiv. Der Speicherbedarf von R/3 knuepft an diese Tradition an. Die urspruenglich prognostizierten 5 GB reichten lange nicht. Aktuell werden 8,5 GB Plattenplatz belegt.

Das von R/2 bereits bekannte Verhalten, dass die SAP-seitigen Ressourcen-Zugriffe (CPU, Datenbankzugriffe) nur bedingt fuer die Traegersysteme (Betriebs- und Datenbanksystem) transparent sind, zeigt sich auch unter dem neuen System. R/3 entzieht sich damit nachhaltig Tuning-Massnahmen auf dieser Ebene. Auf der anderen Seite wird der SAP-Basis- oder Systemspezialist durch die R/3- Monitoring-Funktionen positiv unterstuetzt.

Die Messe Stuttgart hatte sich beim Workstation-Konzept fuer Windows entschieden. Die Gruende hierfuer lagen vor allem in der hausinternen Infrastruktur. Entgegen ersten Befuerchtungen stellen die Praesentationsteile unter Windows keinerlei Problem fuer den Durchsatz im Netzbetrieb dar. Generell erwies sich die durch die SAP-Software entstehende Netzbelastung bei der Messe Stuttgart als unproblematisch.

Als Nachteil hat sich erwiesen, dass Standardfunktionalitaeten von SAP noch nicht verfuegbar beziehungsweise offiziell freigegeben waren. Dies betraf zum Beispiel das Erstellen eines Datentraegers auf dem PC fuer den automatischen Zahlungsverkehr mit Banken.

War bereits R/2 ein ueberwiegend dialogorientiertes System, so wartet R/3 mit dem Wegfall jeglicher Batch-Ablaeufe auf. Jede Funktion, also auch Auswertungen und Listen, werden vom Endbenutzer im Dialog angestossen. So macht der Betrieb des R/3- Systems vom Konzept her ein RZ-Operating ueberfluessig. Umgekehrt erfordert dies natuerlich zusaetzliche Organisationsmassnahmen im Fachbereich, beispielsweise: Wer darf oder muss welche Ablaeufe und zu welchem Zeitpunkt initiieren?

Auch eine Reihe anderer im R/2-Umfeld praktizierter Verfahren laesst sich mit R/3 nicht mehr in der bekannten Weise durchfuehren, sondern wird teilweise dem Datenbanksystem Oracle ueberlassen. Exemplarisch seien hier nur die Auswertungen und Methoden zum Wiederanlauf (Restart-/Recovery) auf Basis der Protokoll-Datenbank (R/2-Terminologie: APLZ) genannt.

Technische und organisatorische Probleme

Auch wer im R/3 in gewohnter Manier die aus der R/2-Welt bekannten Transaktionscodes oder Tabellen sucht, wird einige Zeit brauchen, um sich an die neue Oberflaeche zu gewoehnen. So lagen auch die groessten Hindernisse, die die Stuttgarter zu ueberwinden hatten, im organisatorischen und technischen Umfeld des neuen Produktes R/3. Fuer das Team vergingen beispielsweise wertvolle Wochen, bis Literatur und Handbuecher fuer das R/3-System vollstaendig vor Ort verfuegbar war.

Dass die SAP sich der Problematik des noch jungen Produktes sehr bewusst ist, zeigte auch, dass bereits zum Installationszeitpunkt Putlevel-Updates im Abstand von drei bis vier Wochen angekuendigt wurden. Diese Prognose bestaetigte sich im Verlauf des Projektes, und Ende 1992 war bereits der Release-Stand 1.1H erreicht.

Die Messe Stuttgart hatte sich in Abstimmung mit ihren Partnern dazu entschlossen, den noch vier Wochen vor Beginn des produktiven Betriebes gueltigen Release-Stand 1.1F einzufrieren, um eine gesicherte Uebernahme aus dem Test- in das Produktionssystem zu gewaehrleisten. Ungluecklicherweise brachte jedoch gerade dieses Release einige grundsaetzliche Probleme und Veraenderungen mit sich, die teilweise sogar die Datenstrukturen tangierten, so dass die Messe kurzfristig auf den Putlevel-Stand 1.1 G migrieren musste.

Die Einfuehrung der Finanzbuchhaltung hat von allen am Projekt Beteiligten erheblich mehr Aufwand und persoenlichen Einsatz erforderlich gemacht als urspruenglich geplant, so der Messe- Mitarbeiter Moerbe. Dafuer passe R/3 vollstaendig in die DV-Strategie der Messe: "Wir haben fruehzeitig auf verteilte Datenverarbeitung und Intelligenz am Arbeitsplatz gesetzt. R/3 unterstuetzt mit seiner Client-Server-Architektur unseren Weg und bietet den Bedienungskomfort, den die Mitarbeiter in den Fachbereichen zu Recht erwarten." Bei der Messe denkt man bereits ueber die naechsten R/3-Projekte nach. Geplant ist die Einfuehrung der Anlagenbuchhaltung und Kostenrechnung.

*Georg Mey ist Bereichsleiter bei der Softpro Software Professional GmbH in Boeblingen. Dieter Dejan ist Geschaeftsfuehrer der D&S EDV-Beratung GmbH in Leonberg.

Abb: Die Einfuehrung der R/3-Finanzbuchhaltung gestaltete sich muehsam, aber erfolgreich. Quelle: Mey/Dejan