R/3-Migration: Die Qual der Wahl

20.10.2005
Nach wie vor stehen viele SAP-Anwender vor der Wahl, auf R/3 Enterprise oder das modernere Mysap ERP zu migrieren. Die Aussicht auf neue Funktionen spielt dabei oft nur eine untergeordnete Rolle.

Seit SAP mit "Mysap ERP 2004" den Nachfolger von R/3 ins Rennen geschickt hat, fragen sich Anwender, wie sie ihre ERP-Umgebung modernisieren sollen. Entweder wechseln sie innerhalb der R/3-Welt auf das letzte Release 4.7 oder sie migrieren auf das Ablöseprodukt.

ERP-Umgebung Flughafen München

• R/3 4.7

• BW 3.5;

• SEM 4.0

• Mysap SRM

• "Netweaver Mobile Infrastructure"

ERP-Umgebung Melitta

• Zentrales ERP-System am Hauptsitz in Minden;

• Beteiligung am Ramp-Up von Mysap ERP 2004;

• Migration von R/3 4.5B auf die ECC.

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*82292: Mysap SCM 5.0;

*82315: Solution Manager;

*81443: Enterprise Services Architecture;

*81324: Alternative Wartung;

*79248: Ungenutzte Lizenzen.

Melitta wollte neues ERP-Produkt

Im Herbst vergangenen Jahres hatte sich die Firma Melitta aus Minden mit den beiden Alternativen R/3 Enterprise und Mysap ERP 2004 auseinandergesetzt. Man entschloss sich zur Migration auf den R/3-Nachfolger, die zu Pfingsten dieses Jahres vollzogen wurde. "Wir können einen Release-Wechsel nur alle vier bis fünf Jahre durchziehen, daher wollten wir ein möglichst modernes Produkt", so Frank Deges, Bereichsleiter Neue Medien bei der Melitta Unternehmensgruppe. Zudem hatte die IT-Tochter des Konzerns, die das Business-System betreibt, den Wunsch geäußert, lieber mit einem neuen Produkt Know-how aufbauen zu wollen.

Eins-zu-Eins-Upgrade

Nicht ausschlaggebend für Melitta waren dagegen die über R/3 hinausgehenden Funktionen von Mysap ERP 2004 wie etwa "Employee Self-Service" (Urlaubsanträge, etc.) "und Internet Sales" (Web-Shop). Vielmehr wollte das Unternehmen die heute genutzten R/3-Funktionen im Sinne eines Eins-zu-Eins-Upgrades auf den neuen Release-Stand heben. Gemeint ist damit, von R/3 4.5B auf die "ERP Central Component" (ECC) umzusteigen. Diese, so bestätigen Deges und andere SAP-Kenner, würde praktisch R/3 4.7 entsprechen. Somit komme der Umstieg einem Release-Wechsel innerhalb der R/3-Generation gleich. Dabei wird es laut Deges aber nicht bleiben. "Wir wollten zunächst auf ECC wechseln. Auf diese Weise können wir künftig sukzessive Techniken wie Internet Sales und RFID einführen." Die Unterstützung für die Radio Frequency Identification realisiert SAP innerhalb der Infrastrukturplattform "Netweaver", auf der Mysap ERP 2004 und mittlerweile alle neuen Produkte aufsetzen.

Neue Funktionen hatten dagegen den Flughafen München dazu veranlasst, sich mit Mysap ERP 2004 zu beschäftigen. Im Gegensatz zu Melitta wollte das Unternehmen jedoch nicht die Kernfunktionen des ERP-Systems modernisieren, sondern benötigte die Neuerungen für die Geschäftsdatenanalyse des "Strategic Enterprise Management" (SEM) in Verbindung mit dem "Business Information Warehouse" (BW). "Wir nutzen SEM 3.1 und wollten die Features für Business Planning & Simulation und Business Consolidation in SEM 4.0 verwenden", so Werner Hieke, Leiter SAP-Koordination beim Airport. Da diese SEM-Tools Teil von Mysap ERP 2004 sind, hatte sich das Unternehmen am Ramp-Up dieser Software beteiligt. Als ERP-Kernsystem nutzen die Münchner seit 1993 R/3, das seit Anfang 2004 im Release 4.7 läuft. Ein Umstieg für das erst seit Ende März verfügbare Mysap ERP 2004 kam für Hieke allerdings nicht in Frage, unter anderem wegen interner Umstrukturierungen sowie turnusgemäßer Planungsläufe, die ja einen reibungslosen ERP-Betrieb voraussetzen. Den Schwenk auf die neue Technik will der Airport mit Mysap ERP 2005 vollziehen, das unlängst in den Ramp-Up gegangen ist.

Wenige wollen noch auf R/3 4.7

Nach den Erfahrungen von Michael Jacob, Leiter des SAP Competence Center bei der IBM-Tochter Sercon, treffen Kunden wegen ihrer individuellen Ausgangssituationen auch sehr unterschiedliche Entscheidungen bezüglich des Upgrades von R/3. Viele Firmen, die R/3 4.6C nutzen, überlegen derzeit, wo sie hinwollen: 4.7 oder ECC. Der Flughafen München zähle da eher zur Minderheit, denn nur wenige erwägten den Umstieg auf Mysap ERP mit einem Zwischenstop über R/3 4.7, sondern wechselten lieber gleich auf die aktuelle ERP-Technik. Unter den Zögerlichen sind solche die - wenn auch unbegründet - eine gewisse Angst haben vor der neuen Technik aus Walldorf.

Die meisten der von Jacob beratenen Kunden sind klassische R/3-Anwender. Viele fahren logisch getrennte Systeme für Branchenanwendungen, ERP sowie das Personalwesen. Statt alle diese SAP-Umgebungen gleichzeitig zu aktualisieren, würden einige Firmen beispielsweise zunächst die HR-Lösung von R/3 auf Mysap ERP 2004 migrieren und die restlichen Applikationen später nachziehen. Jacob zufolge bedeutet eine solche Migration in den allermeisten Fällen ein Eins-zu-Eins-Upgrade von R/3 auf die ECC, wie ihn Melitta vollzogen hat.

Zehn Stunden Downtime

Die technische Migration auf ECC bereitete Melitta keine großen Schwierigkeiten. Deges zufolge betrug die Nichtverfügbarkeit des ERP-Systems ("Downtime") zehn Stunden und fiel damit kürzer aus als erwartet. "Für den Umstieg hatten wir absichtlich das lange Pfingstwochenende gewählt, ein normales Wochenende hätte aber ausgereicht." Dem Systemwechsel ging eine umfangreiche Planung voraus, da zahlreiche Landesgesellschaften des Konzerns sowie deren Anwender einbezogen werden mussten. Darüber hinaus musste Deges und sein Team quasi parallel ein neues Berechtigungskonzept aufsetzen, was ebenfalls den ERP-Umstieg beeinflusste. "Es hätte keinen Sinn gehabt, das Berechtigungskonzept auf dem Altsystem umzustellen." Dieser Schritt wurde erst im Juli vollzogen, als die neue Software bereits lief.

Beim Flughafen München nimmt das hauseigene Customer Competence Center (CCC) die Release-Wechsel vor. Schwierigkeiten gab es bei der Einführung des neuen SEM nicht.

Den Support seitens SAP lobt Hieke. Auch der obligatorische "Ramp-Up-Coach", den SAP stellt, habe gut mit dem Team zusammengearbeitet. Auf diesen Coach konnte man bei Melitta verzichten: "Die Funktion und die konkreten Aufgaben der Ramp-Up-Coaches waren für uns nicht transparent gewesen, so dass wir nach Gesprächen mit SAP und unserem IT-Dienstleister das Coaching nicht in Anspruch nehmen mussten", so Deges. Grundsätzlich war der IT-Manager mit dem SAP-Support während des Migrationsprojektes zufrieden. Die Zusammenarbeit mit Walldorf habe gut funktioniert, das Gros der Probleme wurde schnell behoben. Allerdings würde Melitta nicht unbedingt wieder an einem Ramp-Up-Verfahren teilnehmen.

Kunden, die lediglich ein Eins-zu-Eins-Upgrade von R/3 auf ECC fahren, passen allerdings gar nicht in das Bild, das die SAP von Mysap ERP 2004 zeichnet. Der R/3-Nachfolger soll nämlich der erste Schritt in Richtung der "Enterprise Services Architecture" sein und den Anwendern zudem die Ablauf- und Integrationsumgebung "Netweaver" näher bringen. Doch wenn überhaupt, dann nutzen Firmen nur ganz bestimmte Netweaver-Bestandteile, zum Beispiel das "Netweaver Portal" (vormals "Enterprise Portal").

Auch der Entschluss der R/3-Kunden, einen Mysap-Vertrag abzuschließen, begründet sich nicht unbedingt immer in der Funktionsvielfalt des neuen Produkts. "Manche R/3-Kunden entscheiden sich jetzt für Mysap ERP, weil dort zum Beispiel die Lizenzen für das Business Information Warehouse enthalten sind", hat Jacob festgestellt. Das Lizenz-Bundling sei gefragt, weil R/3-Nutzer unter anderem das Netweaver Portal und BW erwerben müssten. Diese Lizenzen sind bei Mysap ERP bereits enthalten. "Rund die Hälfte unserer Kunden schließt Mysap-ERP-Verträge ab, weil sie so günstiger an Netweaver-Bestandteile kommen."

Vorteile wenig bekannt

Doch einigen Anwendern sind die Vorzüge des neuen ERP-Produkts schlicht nicht präsent. Speziell bei der Vermarktung von Mysap ERP hat der SAP-Vertrieb nach den Worten von Berater Jacob zum Teil Erklärungsprobleme. Beispielsweise wollte ein IT-Leiter seinen Vorstand vom Mysap-Vertrag überzeugen, konnte aber den betriebswirtschaftlichen Mehrwert nicht darlegen. Das Unternehmen halte nun am alten R/3-System fest, und nimmt höhere Wartungsgebühren in Kauf.

Andere hätten den Vertrag für die Mysap Business Suite letztes Jahr nur deshalb unterschrieben, um so höhere Anrechnungen ihrer bestehenden R/3-Investitionen ausschöpfen zu können. Je später sie einen Mysap- oder Mysap-ERP-Vertrag abschließen, desto geringer fällt der Anrechnungsbetrag aus. Sind die Mysap-Lizenzen einmal erworben, versäumen es viele Käufer, den tatsächlichen Nutzen daraus zu ziehen. "Die haben den Vertrag in der Schublade, ohne genau zu wissen, was sie damit tun sollen", so Jacob. "Hier gilt es mit den SAP-Anwendern zusammen zu analysieren, welche Funktionen sinnvoll sind."

XI-Einsatz kostet (zu) viel

Auch die Plattform Netweaver kommt nicht bei allen Kunden so an, wie es SAP gern hätte. Firmen hätten durchaus Interesse, zum Beispiel ihre Integrationsprobleme mit dem Netweaver-Bestandteil "Exchange Infrastructure" (XI) zu lösen. Allerdings schreckten viele dann vor den Preisen zurück. Langfristige Kostenvorteile durch schnellere Entwicklungs- und Anpassungszyklen, sowie geringere Pflegekosten der Schnittstellen, unterlägen hier häufig dem Aufwand für die ersten Investitionen in XI. Kunden nutzten daher oft während eines Übergangszeitraums XI für interne Schnittstellen und blieben bei älteren SAP-Techniken, wenn es um externe Anbindungen geht. Als kurzfristige Investitionsentscheidung sei dies zu verstehen, bringe aber mittel- und langfristig Nachteile, da Investitionen in Technik und Know-how lediglich verschoben würden. Die Umstellung müsse dann zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen.

Die Kostenproblematik kann Hieke vom Flughafen München bestätigen. Da die derzeitige Nutzung des Business Connectors kostenlos erfolge, sei nicht nachzuvollziehen, warum der Datentransfer mittels XI kostenpflichtig sein solle. "An den Preisen für XI muss sich etwas ändern", fordert Hieke.

Wollen Unternehmen XI dafür einsetzen, Schnittstellen zu Drittsystemen zu realisieren, kassiert SAP Geld. Eine reine SAP-zu-SAP-Integration kostet hingegen nichts. Laut Hieke verhält es sich mit dem Netweaver-Element "Master Data Management" zur Stammdatenverwaltung und -harmonisierung ähnlich: "Das Interesse ist da, doch der Preis ist nicht akzeptabel."