Der lange Weg zur 100-Prozent-Lösung

Qual der Wahl: Workflow für die öffentliche Verwaltung

23.12.1998
Das Zögern der öffentlichen Verwaltung (ÖV) bei der Workflow-Einführung läßt sich nicht mehr mit Produktschwächen begründen. Die Probleme sind vielmehr in den Behörden selbst zu suchen. Diesen Eindruck konnte man auf dem fünften Berliner Anwenderforum "IT-gestützte Vorgangsbearbeitung in der öffentlichen Verwaltung" gewinnen. Margrit Falck* beschreibt die derzeitige Situation.

Als das Forum vor fünf Jahren ins Leben gerufen wurde, gab es Pläne für die Digitalisierung der Aktenbearbeitung, aber kaum vorzeigbare Anwendungsbeispiele. Die Anbieter waren seinerzeit nur als Zaungäste zugelassen. Der Entwicklungsstand der am Markt verfügbaren Workflow-Systeme orientierte sich stark an den Anforderungen von Banken und Versicherungen - für die Belange der ÖV, so das Urteil des Forums damals, eigneten sich die Lösungen nicht. Einer kritischen Analyse hielten die Produkte etwa bei den ÖV-Prinzipien der "Federführung" und "Schriftlichkeit" sowie bei einigen Sicherheitsaspekten nicht stand.

In der Folgezeit wagten sich vereinzelt Verwaltungsbereiche an den Einsatz von Dokumenten- und Workflow-Management-Systemen (DMS/WFMS). In den wenigen Projekten fand meist eine enge Zusammenarbeit mit den Softwareherstellern statt. Diese Kooperation hat sich für die ÖV ausgezahlt. Heute stehen ihr eine Reihe hochentwickelter Werkzeuge mit umfangreicher Funktionalität zur Verfügung, so daß die Wahl des richtigen Produkts inzwischen auch zur Qual geworden ist.

Obwohl sich immer mehr Anbieter mit Produkten, Dienstleistungen und Demonstrationslösungen für die ÖV präsentieren und auch die IT-Infrastruktur in vielen Behörden deutlich besser geworden ist, in einem nennenswerten Umfang werden die Systeme dennoch nicht eingesetzt. Es entsteht der Eindruck, daß die Verwaltungen abwarten und insgeheim auf eine Erlösung durch Microsofts "Exchange" und "Outlook" oder das Internet beziehungsweise Intranet hoffen.

Dabei wächst der Handlungsdruck, sowohl von innen als auch von außen: Budgets sind knapp bemessen, mit der Verwaltungsreform enstehen neue Aufgaben, die Wirtschaft als "Kunde" der Verwaltung steht unter Innovationsdruck, und in der Öffentlichkeit steigen die Erwartungen an die Qualität von Verwaltungsdienstleistungen. Die Potentiale der Technik müssen deshalb noch stärker als bisher zur Kostenersparnis und zu effektiverem Verwaltungshandeln herangezogen werden.

Auf dem Berliner Anwenderforum, das alljährlich vom Landesbetrieb für Informationstechnik (LIT) und dem Beratungsunternehmen Infora GmbH organisiert wird, konnten rund 350 Teilnehmer einige erfolgreiche Beispiele sehen. Für eine breite Bewegung in Behörden und Kommunalverwaltungen stehen sie allerdings nicht.

Gründe dafür, daß in der ÖV der Durchbruch zur durchgängigen elektronischen Aktenbearbeitung noch nicht zu erkennen ist, sieht Rainer Ullrich von Infora in dem Beharren auf 100prozentige Lösungen und in dem hohen Aufwand, den die anforderungsgerechte Anpassung vieler Workflow-Systeme verursacht.

Projekte der IT-gestützten Vorgangsbearbeitung wecken Hoffnungen bei den Führungskräften und üben schließlich einen erheblichen Erwartungsdruck aus. Die von den Rechnungshöfen geforderten und für die ÖV empfohlenen IT-Einführungsstrategien sind angesichts der Komplexität der Systeme zu schwerfällig, zu langwierig und zu aufwendig. Ohne gründliche Vorüberlegungen zur individuellen Ausgangssituation und ohne ausgiebige Vorbereitung der Beteiligten ist die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns sehr hoch.

Wer neu mit Dokumenten- oder Workflow-Management-Systemen arbeitet, muß sich in vielem umstellen. Er muß sorgfältig an elektronische Arbeitsweisen herangeführt werden. Das Medium Papier bietet in der öffentlichen Verwaltung eine Reihe von Vorteilen und ist über nahezu ein Jahrhundert um ausgefeilte Instrumentarien ergänzt worden. Alternativen sind nur schwer zu vermitteln, vor allem wenn sie aus einer Vielzahl von unübersichtlichen Fenstern und Buttons bestehen, die mit Mausklicks bei jedem einzelnen Vorgang geöffnet, bedient und geschlossen werden müssen. Die Einführung in neue Arbeitsweisen dauert in der Praxis deshalb oft länger als geplant.

Das erklärt auch, warum Infora seine stufenweise Einführungsstrategie modifiziert hat. Demnach empfiehlt es sich, anfangs zunehmend die klassischen Funktionen von Standardsoftware für die Bürokommunikation (BK) zu nutzen. BK-Produkte stellen den Bearbeitern eine offene Umgebung bereit, die sie in Umfang und Geschwindigkeit nach eigenem Ermessen in ihre Arbeitsweise einbeziehen können. Auf diese Weise lassen sich 50prozentige Lösungen für Vorgänge erreichen, die nicht das Kerngeschäft der ÖV betreffen. Gleichzeitig können neue Qualifikationen, Handlungsweisen und Abläufe entwickelt werden.

Für den Übergang zu einer durchgängigen und hierarchieübergreifenden elektronischen Vorgangsbearbeitung ist es den Spezialisten zufolge sinnvoll, eine funktional einfache oder reduzierte Variante eines Workflow-Systems zu wählen, das in die Oberfläche des Mail-Clients oder eines Browsers integriert werden kann. Hier kommt es darauf an, eine Lösung zu wählen, deren Funktionalität sich dem Benutzer intuitiv und ohne großen Schulungsaufwand erschließt. Dennoch muß die Software besonders wichtige Verwaltungsabläufe durchgängig unterstützen können. Wenn die Produkte 70prozentige Lösungen ohne zusätzliche Programmierleistung vom Hersteller ermöglichen, bleiben die Kosten in einem überschaubaren Rahmen und beschränken sich im wesentlichen auf Anschaffung plus Einweisung.

Workflow bereits in der Ausbildung berücksichtigen

Dazu sollte auch die Ausbildung in den Berufsakademien und Fachhochschulen der öffentlichen Verwaltung stärker beitragen. Projekte und interdisziplinäre Computerkurse könnten die Absolventen dort an den Einsatz von Workflow-Management-Systemen heranführen. Die Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege in Berlin geht diesen Weg seit zwei Jahren bei der Ausbildung von Verwaltungsinspektoren.

Der endgültige Übergang zur flächendeckenden elektronischen Vorgangsbearbeitung besteht dann in der Einführung eines einheitlich genutzten Workflow-Management-Systems, in das die vorhandenen Spezialapplikationen des Fachgebietes eingebunden sind. Daran gekoppelt muß ein DMS sein, das die elektronische Behandlung von Eingängen, die Ablage in der Registratur und die Übergabe ans Archiv abdeckt.

Solche 100-Prozent-Lösungen sind in der Regel nur mit zusätzlicher Programmierung möglich. Dafür ist die Hilfe des Herstellers erforderlich - vorausgesetzt, daß er sich auf die Sprache und Denkweise im jeweiligen Verwaltungsbereich einstellen kann. Es entstehen Folgekosten, die schwer zu kalkulieren sind und sich mit dem Sparzwang der ÖV nur dann in Einklang bringen lassen, wenn der entsprechende Nutzen nachweisbar ist. Die Wirkung hängt davon ab, wie stark sich eine Verwaltung in ihrer Arbeitsweise bereits vom Medium Papier gelöst hat. Zu den Erfolgsfaktoren zählt auch, inwieweit die rechtlichen Rahmenbedingungen der Verwaltung elektronische Möglichkeiten berücksichtigen. Schließlich gilt es herauszufinden, welche Synergien zwischen Technikeinsatz und Reorganisation möglich sind.