Publikationstechnologien im Wandel Verleger knacken Streiks mit digitalen Zeitungen via Internet

02.12.1994

SAN FRANZISKO/MUENCHEN (CW) - Wer sich ein wenig in amerikanischer Geschichte auskennt, weiss, dass die Arbeitskaempfe in den USA ausgesprochen blutig ausgetragen wurden. Nicht selten benutzte die Regierung in Washington die Nationalgarde, um Auseinandersetzungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zugunsten des Kapitals zu schlichten. In Zukunft koennten sich solche Konfrontationen moeglicherweise recht elegant, quasi virtuell, loesen lassen. Alles, was man dazu braucht, sind Computer und ein Kommunikationsvehikel wie das World Wide Web beziehungsweise das Internet.

Zugegeben - etwas vereinfacht ist solche Sicht der Dinge schon. Aber aufhorchen laesst doch, was die "New York Times" kuerzlich ueber einen Streik im Zeitungsgewerbe in San Franzisko berichtete: Die beiden wichtigsten Tageszeitungen der Westkuesten-Metropole mit einer Auflage von ueber 600000 Exemplaren, "The San Francisco Chronicle" und "The San Francisco Examiner", konnten wegen eines Arbeitskampfes nicht an die Leser ausgeliefert werden. Hunderttausende waren von neuesten Nachrichten ueber den gerade anstehenden US-Wahlkampf zum Repraesentantenhaus, zum Senat und einigen Governeursposten sowie von den Basketballergebnissen abgeschnitten beziehungsweise mussten sich auf Radio und Fernsehen verlassen.

Anders als viele Kollegen in der Vergangenheit reagierten die Manager der Zeitungen diesmal sehr entspannt: Innerhalb von Stunden nach Beginn der Arbeitsniederlegung, so die "New York Times", habe eine Gruppe von Fuehrungskraeften beider Publikationen einen elektronischen Nachrichtenreport erstellt, den sie dann im Internet der Oeffentlichkeit zugaenglich machte.

Interessanterweise bot eine zweite Gruppe von Mitarbeitern, die sich aus streikenden Gewerkschaftsmitgliedern rekrutierte, eine aehnliche digitale Dienstleistung ebenfalls auf dem Internet an. Die New Yorker Zeitung kommentierte dieses etwas merkwuerdige Streikverhalten allerdings nicht.

Den streikenden Redakteuren und Herausgebern gelang dabei noch ein veritabler Coup: Sie konnten aufdecken - und berichteten dies ueber das Internet auch -, dass die kalifornische Senatorin aus dem demokratischen Lager, Dianne Feinstein, in einem von beiden Seiten mit Haken und Oesen gefuehrten Wahlkampf faelschlicherweise von ihrem republikanischen Widersacher beschuldigt worden war, in den 80er Jahren einen sogenannten illegal alien, also einen Auslaender ohne Aufenthaltsberechtigung, beschaeftigt zu haben.

"Ich blaettere lieber in einer Zeitung"

Die beiden praktisch aus dem Stand produzierten digitalen Zeitungen seien, fuehrt die "New York Times" in ihrem Artikel weiter aus, eine deutliche Demonstration der Leistungsfaehigkeit heutiger grossflaechig vernetzter Computersysteme. Mit ihnen liessen sich Informationen an eine in die Abermillionen gehende Kundschaft verbreiten. Fast jede bedeutende Zeitung, jedes wesentliche Magazin und alle wichtigen Sendeanstalten in den USA machen sich deshalb bereits Gedanken, wie in Zukunft ueber Computer, Kabel, Fernsehen, Telefon und drahtlose Kommunikation publiziert werden kann.

Erste Ergebnisse diesbezueglicher Ueberlegungen praesentierte dieser Tage die Washington Post Company, die unter anderem das internationale Magazin "Newsweek" herausbringt. Nachdem eine vierteljaehrlich aktualisierte CD-ROM-Version nicht den erhofften Erfolg brachte, geht das Magazin jetzt ueber den US-Online-Dienst "Prodigy" auf Sendung: "Newsweek Interactive" soll das erste General-Interest-Medium sein, das Text, Fotos, Tondokumente und Grafik ueber die Telefonleitung auf die heimischen Computer schickt.

Natuerlich ist das Versuchsprojekt in San Franzisko Limitierungen unterworfen. Den positiven Aspekten aktueller Berichterstattung stehen aber auch gravierende Nachteile entgegen: So steht der digitale Zeitungsdienst bislang nur der Avantgarde der Computer- Techies offen. Wegen des waehrend der Streikzeit sprunghaft anwachsenden Interesses der Leser an digital aufbereiteten Nachrichten gestaltete sich ausserdem die Computerlektuere vor allem zu Stosszeiten recht langwierig: Pro Tag wollten rund 20000 Online- Teilnehmer in "The Gate" beziehungsweise "Free Press" - den digitalen Gegenspielern des "Chronicle" und "Examiner" - schmoekern. Das fuehrte zu erheblichen Warteschleifen auf dem Internet.

Ausserdem meldeten auch eingefleischte Computerfreaks gegenueber der "New York Times" liebgewonnene Verhaltensweisen an: "Ich blaettere lieber in einer Zeitung", gab selbst ein Techniker des Kundensupports von "The Well" zu, einem Internet- Dienstleistungsunternehmen in der Bay Area von San Franzisko mit Tausenden von Anwendern. Vielleicht sehen spaetere Generationen solche Denke nur noch als Marotte an.