Proprietaere Gesamtsysteme fuehren in die Sackgasse Anwender: Mit flexibler Software aus der Krise

24.02.1995

FRANKFURT/M. (qua) - Mehr Flexibilitaet und weniger Entwicklungsaufwand - das sind die gemeinsamen Merkmale der IV- Konzepte, die auf der "Wirtschaftsinformatik '95" vorgestellt wurden. Namhafte deutsche Anwenderunternehmen berichteten, wie sie durch Dezentralisierung, Wiederverwendung von Softwaremodulen und Kooperation mit der Konkurrenz ihre Informationsverarbeitung schlanker und leistungsfaehiger gestaltet haben.

Der von der Gesellschaft fuer Informatik (GI) veranstaltete Kongress zog in diesem Jahr knapp 900 Teilnehmer an, von denen etwa jeder zweite aus dem universitaeren Umfeld kam. Aehnlich gross war die Praesenz der Hochschullehrer unter den Rednern. Damit die Praxis nicht zu kurz kam, hatte die GI jedoch auch eine Reihe illustrer IV-Spezialisten aus deutschen Wirtschaftsunternehmen verpflichtet.

Den Eroeffnungsvortrag hielt Michael Endres, Vorstandsmitglied der Deutsche Bank AG. Wie Endres erlaeuterte, gab das Bankhaus 1994 mehr als 640 Millionen Mark fuer seine informationstechnische Ausstattung aus. Diese Summe entspreche zehn bis 15 Prozent der operationalen Kosten. Der Grund fuer die Investitionsbereitschaft liegt fuer Endres auf der Hand: Seit Mitte der 80er Jahre sei die Informationstechnik fuer die Finanzdienstleister nicht mehr nur ein Hilfsmittel, sondern ein zentraler Wettbewerbsfaktor. Die Moeglichkeit, immer mehr Informationen zu sinkenden Kosten zu beschaffen, fuehre dazu, dass dem Kunden eine wachsende Vielzahl von Produkten angeboten werde. Und hier laegen die Qualitaetsunterschiede zwischen den Haeusern.

Eigenen Angaben zufolge hat Endres die IT-Landschaft der Bank dezentralisiert - bis auf einige Querschnittsfunktionen, die als zentrale Servicebereiche fungieren. Die Anzahl der Rechenzentren hat sich von 70 auf zwei verringert. Anschaffungs- und Maintenance-Kosten liessen sich senken, indem die auslaendischen Tochterunternehmen verpflichtet wurden, die DV-Landschaft der Mutter zu nutzen. Den Betrieb des Netzwerks uebernahm ein Serviceanbieter, an dem das Bankunternehmen zu 25 Prozent beteiligt ist. Umgekehrt nutzen derzeit 50 andere Finanzdienstleister das System der Deutschen Bank, um ihren Zahlungsverkehr zu regeln.

Know-how-Vorteile durch lokale Kompetenzzentren

Fuer Brot-und-Butter-Anwendungen setzen die Frankfurter Softwareprodukte von der Stange ein. Nur wettbewerbsrelevante Loesungen, beispielsweise fuer das Investment-Banking, werden noch inhouse entwickelt. An dieser Stelle appellierte Endres an die anwesenden Hochschulangehoerigen, sich mit dem Thema Risiko- Management auseinanderzusetzen. Dies sei einer der Bereiche, wo die Software-Unterstuetzung noch zu wuenschen uebrig lasse.

Ein interessantes Detail am Rande: Die Zufriedenheit der Anwender steht bei dem Finanzinstitut offenbar hoch im Kurs. Laut Endres dient sie als Messlatte fuer die Bewertung und Bezahlung der Projektleiter.

Kosten- und Know-how-Vorteile nutzt die Deutsche Bank auch mit Hilfe lokaler "Centers of Competence". Nach Angaben des Vorstandsmitglieds laesst sie ihre Investment-Banking-Loesung in New York erarbeiten, weil der Markt dort bereits am weitesten entwickelt sei. Ausserdem besitze das Unternehmen eine Software- Company im indischen Bangalore, die die Programmierung zu einem Achtel der in Europa ueblichen Preise uebernehme. Mit Hilfe der Kompetenzzentren habe sich die Produktivitaet der Anwendungsentwicklung um 40 Prozent steigern lassen.

Starke Affinitaet zum indischen Subkontinent bewies auch Lutz Doblaski, Vorstandsmitglied der Wuerttembergischen Versicherung AG. Quasi auf dem Weg zum Flug nach Bombay hielt er seinen Vortrag ueber "Flexible Architekturen und wiederverwendbare Softwarebausteine". Mit einem IV-Budget von 70 Millionen Mark pro Jahr muss das mittelgrosse Assekuranzunternehmen staerker auf die Mark sehen als die deutsche Grossbank. Deshalb setzt Doblaski auf Kosteneinsparung durch mehrfach verwendbare Softwarebausteine.

Zumindest auf dem Papier sieht das IV-System der Wuerttembergischen folgendermassen aus: Aus der Geschaeftsarchitektur erwaechst unmittelbar die Anwendungsarchitektur. Dabei werden die fachlichen Anforderungen in Modelle umgewandelt, diese wiederum in Anwendungs-Frameworks ueberfuehrt, die letztlich als parametrisierbare Softwarebausteine fungieren. Doblaski sprach in diesem Zusammenhang von Softwarerobotern beziehungsweise Fertigungsstrassen fuer die Vorgangsbearbeitung.

"Wir brauchen zukuenftig Anwendungssoftware, die offen ist fuer die raschen Verbesserungen bei der Hardware und der Systemsoftware", ist in Doblaskis Vortrags-Script zu lesen. "Das heisst, wir wollen am technischen Fortschritt teilhaben, ohne unsere Anwendungssysteme dafuer jedesmal veraendern zu muessen." Bedingung dafuer: Anwendungen und Systemsoftware sind entkoppelt und nur durch offene Standard-Schnittstellen verbunden.

Kein Interesse an geschlossenen Loesungen

Wie Doblaski erlaeuterte, kostet ein geschlossenes Anwendungssystem fuer den eigenen Bedarf einen Versicherer mittlerer Groesse heute rund 200 Millionen Mark - eine Summe, die sich nach zehn Jahren Software-Einsatz durchaus verdreifachen koenne. Dieser finanzielle Aufwand lasse sich mit Hilfe wiederverwendbarer Basissoftware- Bausteine - beispielsweise fuer Workflow, Dialog und Praesentation - sowie darauf basierender spartenuebergreifender Anwendungsteile erheblich verringern. In den vergangenen Jahren habe die Wuerttembergische bereits eine prozessorientierte Anwendungsarchitektur sowie eine Infrastruktur aus generischen Softwaremodulen entwickelt, die eine Wiederverwendung von bis zu 95 Prozent zuliessen.

Fertige Funktions- und Branchensysteme auf der Basis einer proprietaeren Basissoftware, wie sie zum Beispiel die SAP anbietet, lehnt Doblaski ab. Auch die "Insurance Application Architecture" der IBM sowie die Loesungen der Anbieter Continuum und Policy Management Systems finden keine Gnade vor seinen Augen. Solche "proprietaeren, geschlossenen Systeme" seien nach den individuellen Normen der jeweiligen Softwarehersteller gebaut worden. Wenn ein Versicherungsunternehmen diese Systeme benutze, begebe es sich komplett in die Welt des Plattformlieferanten - "in guten und in schlechten Jahren".

Als einzigen Ausweg aus dieser "neuen Abhaengigkeit" sieht Doblaski eine offene, branchenweite Anwendungsarchitektur, die von den Versicherungsunternehmen selbst erstellt werden sollte. Die Basis dafuer muessten definierte Bauteile, normierte Schnittstellen und offene Softwarestandards bilden. Das Ergebnis sei dann ein Markt fuer Tarifierungs-, Dokumentierungs- und Provisionsmaschinen - im Gegensatz zu den heute erhaeltlichen geschlossenen Gesamtsystemen.

Als Sackgasse beurteilt der Wuerttemberger auch die "proprietaeren Unternehmensarchitekturen, die wir heute noch so stolz entwickeln". Ungeachtet der Wettbewerbssituation hat er sich mit Kollegen aus anderen Versicherungen zusammengetan, um gemeinsam die Grundlagen fuer die Geschaeftsprozesse zu definieren.

Auch bei der RWE Energie AG, Essen, wird das Prinzip der Wiederverwendung grossgeschrieben: "Gleiche Software fuer gleiche Prozesse" lautet das Schlagwort, das Gerhard Scheibe, Leiter der Hauptabteilung Grundlagenplanung, Steuerung und Berichte, propagierte. Eine unternehmensweite Datenbank unterrichtet die RWE-Entwickler ueber alle geplanten oder bereits fertigen IV- Loesungen. Die Softwarespezialisten des Energieversorgers sind verpflichtet, vor jeder Neuentwicklung diese Datenbank zu konsultieren. Zudem werden bis dato geschlossene Anwendungssysteme - zum Beispiel fuer Rechnungswesen oder Verbrauchsabrechnung - aufgeloest, um Teilfunktionen in neuen Zusammenhaengen als Werkzeuge nutzen zu koennen.

Seit dem vergangenen Jahr praktiziert die RWE Energie eine neue IV-Strategie, die die dezentrale Struktur des Unternehmens widerspiegelt. Im Mittelpunkt steht der PC als multifunktionales Endgeraet. Das hat seinen Preis - nicht nur bei den Anschaffungskosten, sondern auch beim Aufwand fuer die laufende Betreuung. Laut Scheibe sieht das Kostenverhaeltnis folgendermassen aus: 15 Prozent Anschaffung, fuenf Prozent Wartung und 80 Prozent Support.

IV-Leistung aus der Informationssteckdose

Kostensenkend soll sich ein neuartiges "Dienstemodell" auswirken, dessen Ziel die "ganzheitliche Betrachtung der Rechnerlandschaft" ist. Konkret heisst das: Gemeinsam genutzte Programme und Daten werden jeweils dort gespeichert, wo das im Hinblick auf Lizenz-, Speicher- und Leitungskosten am wirtschaftlichsten ist. So wandern die PC-Daten vozugsweise nachts auf den Unternehmensrechner, waehrend Software-Installationen nach Moeglichkeit zentral aufgespielt werden. Fuer den Anwender wird die IV-Welt damit zur Black box. Er bezieht seine Leistung quasi aus der Informationssteckdose.

Ein gemischt besetzter "IV-Lenkungskreis" sichert den Anwendern ein Mitspracherecht bei der Systemgestaltung. Zudem dient dieses Kontrollinstrument unter anderem dazu, die Hauptgefahr der Dezentralisierung zu bannen: Haeufig wird das Gesamtoptimum nicht erreicht, weil das dezentrale System im Mittelpunkt des Interesses stand.

Den Widerspruch zwischen zentralem IV-System und separaten Profit- Centern zu meistern gehoert zu den Aufgaben von Uwe Joenck, Vorstandsmitglied der Esso AG, Hamburg. Die Hamburger Niederlassung der Exxon-Tochter begann bereits Ende der 80er Jahre mit der schrittweisen Einfuehrung der SAP-Software, weil sich die selbstentwickelten Anwendungen nicht mehr zu vernuenftigen Kosten warten liessen.

Dabei hat es sich die IV-Abteilung der deutschen Esso nicht einfach gemacht: Fuer jedes einzelne Modul der Pret-a-porter- Software wurde, so Joenck, zunaechst die Wirtschaftlichkeit nachgewiesen. Durch die sukzessive Vorgehensweise sei allerdings die Chance zur fruehzeitigen Reorganisation der Geschaeftsprozesse vertan worden.

Wie Joenck einraeumt, rechnet sich der Einsatz der SAP-Software aber nur dann, wenn der Anwender strikt auf Modifikationen verzichtet. Ansonsten riskiere er einen permanenten Anpassungsaufwand. Der Esso-Vorstand spricht aus eigener Erfahrung. Einen Versuch, 80 Prozent Standard mit 20 Prozent Eigenentwicklung zu ergaenzen, habe er abbrechen muessen, nachdem sich das Verhaeltnis umgekehrt hatte.