Bedeutung von "Billigländern" für die Softwareproduktion nimmt zu:

Programmierermangel bis 1990 kein Thema mehr

16.09.1983

Die Softwareproduktion wird sich innerhalb der nächsten Jahre zunehmend aus den westlichen Industriesaaten in die "Dritte Welt" verlangen. Der Programmierengpaß wird sich dementsprechend bis 1990 kontinuierlich abbauen. Bereits heute bahnt sich in den USA eine Sättigung mit Anfangsprogrammierern an. Diese Grundaussagen faßte jetzt der amerikanische "Software- Papst" Edward Yourdon in seinem Beitrag "Megatrends in der Computerindustrie" zusammen. Yourdon wird diese Thesen am 26./ 27. September auf dem "Internationalen Symposium für effizientes Software- Management" der CW- CSE, der Seminargruppe der COMPUTER- WOCHE, referieren und diskutieren.

"Megatrends" das jüngst erschiene Buch von John Naisbitt, wurde in den letzten sechs Monaten zum US- Bestseller: Den Leser lehrte es, die Zukunft unter einem neuen Gesichtspunkt zu sehen. Naisbitt geht davon aus, daß sich die entscheidenden soziologischen Trends nicht nach den Vorhersagen und Proklamationen der "Spitze", also gewählter Führungspersönlichkeiten in Washington, richten. Die Wurzeln sieht er vielmehr in Bewegungen, die vom "Fuß der Pyramide" ausgehen. Anhaltspunkte dafür lassen sich seiner Ansicht nach in den Artikeln und Reportagen der amerikanischen Lokalzeitungen feststellen. Diese These erscheint bemerkenswert und beschwört einige provozierende Vorstellungen herauf.

Bei der Lektüre von Naisbitts Buch kam mir der Gedanke, wir sollten unseren eigenen Wirkungskreis, die Computerindustrie, einer ähnlichen Betrachtung unterziehen. Es ist uns allen bewußt, daß die Technologie auf dem Gebiet der Computer, der Informationsverarbeitung und der Telekommunikation heute für unsere Gesellschaft unendlich wichtig geworden ist. Sie stellt sogar einen der "Megatrends" dar, die Naisbitt in seinem Buch beschreibt.

Durch das Studium all dieser Trends in Lokalzeitungen, Computerzeitschriften und Veröffentlichungen der Benutzergruppen läßt sich ein genaueres Bild der langfristigen Aussichten in unserem Markt gewinnen. Aber nachdem ich jetzt sechs Monate lang die DV- Branche unter diesem neuen Aspekt betrachtet habe, sehe ich hier eine beachtliche Anzahl von "Megatrends". Die interessantesten davon sind meiner Meinung nach:

- Der Engpaß an Programmierern verschwindet.

- Die Softwareindustrie verlagert sich in die Dritte Welt.

- Die Mikros behaupten sich gegenüber den Mainframes.

- Hardware wird immer billiger und schneller.

- Heimarbeit gewinnt an Einfluß.

Fast zehn Jahre haben wir uns über den Mangel an Programmierern beklagt. Das "Bureau of Labor Statistics" geht noch jetzt davon aus, daß es zumindest in den nächsten Jahren nicht genügend Softwerker und Analytiker gebe. Diese Zahlen sind allgemein bekannt und wir beglückwünschen uns insgeheim selbst, daß wir einen so elitären Job haben: Ein sicherer Arbeitsplatz scheint garantiert.

Aber die Natur wehrt sich gegen ein Vakuum und die freie Marktwirtschaft verhält sich ebenso. Wenn es über längere Zeit hinweg eine echte Marktlücke gibt, wird sie jemand finden. Als Ergebnis des geballten Angebots von Universitäten, Colleges und privaten Ausbildungsunternehmen ist der Markt für Anfangsprogrammierer bereits gesättigt.

Jedes Jahr entlassen diese Institutionen 50000 Absolventen in die Arbeitswelt. Einer kürzlich veröffentlichten Studie der Computerworld zufolge, finden aber nur etwa 24000 von ihnen eine Anstellung. Was die Industrie tatsächlich dringend braucht, sind nicht Trainees, sondern Programmierer und Analytiker mit mindestens drei bis fünf Jahren Berufserfahrung. Der Engpaß ist in der Tat noch vorhanden, er wird jedoch meiner Meinung nach schon 1990 nicht mehr bestehen.

Die Situation ist in anderen Industriezweigen mit hohen Wachstumsraten ähnlich. So verwendete die Telefonindustrie vor 50 Jahren einen großen Teil ihrer Zeit auf besorgniserregende Prophezeiungen, ein Engpaß an Arbeitskräften im Fernsprechvermittlungsdienst sei unausweichlich. Manche Pessimisten argumentierten gar, bei einem weiteren Anwachsen der Telefonindustrie müsse innerhalb der nächsten 50 Jahre jeder Mann, jede Frau und jedes Kind in den Vereinigten Staaten als "Fräulein vom Amt" arbeiten. Natürlich ist dann auch genau das passiert.

Exakt die gleiche Entwicklung könnte sich auch in der Computerindustrie anbahnen. Die Nachfrage nach neuen Programmen, Anwendungen und Systemen ist derzeit so groß, daß viele DV- Manager sich darüber Gedanken machen, ob schließlich jedermann irgendwann in den Vereinigten Staaten Programmierer werden müsse. Tatsächlich wird auch diese Situation eintreten, deutlich gemacht durch den Trend hin zum "Information Center", den Programmiersprachen der Vierten Generation, hin zu benutzerfreundlichen Systemen und zum Bestreben, jedem Schüler im Land Basic beizubringen.

Es gibt einen vielleicht noch entscheidenderen Grund, warum der Programmierengpaß innerhalb der nächsten Jahre abgebaut wird: Die Computerindustrie gilt auch in China, Indien, Brasilien und vielen anderen Staaten der Dritten Welt als absoluter Wachstumsmarkt.

Lange Zeit stand die Programmierung im Ruf, arbeitsintensiv, fehleranfällig sowie schwer erlern- und kontrollierbar zu sein. Programmierer gelten normalerweise als gut bezahlt, wenn nicht gar überbezahlt. Außerdem sagt man ihnen nach, sie seien launisch und würden unzuverlässig arbeiten. Es läßt sich nicht leugnen, daß sie ihre Arbeit häufig nachlässig erledigen. So enthält etwa in Nordamerika oder Europa produzierte Software durchschnittlich

zehn Mal so viele Fehler wie vergleichbare Produkte aus Japan.

Zustände wie diese sind aus anderen Industriezweigen hinreichend bekannt, etwa in der Stahl- und Automobilbranche oder bei der Fertigung von elektronischen Bauteilen, um nur einige zu nennen. All diese Unternehmensbereiche wurden bereits aus den USA ausgegliedert und in anderen Ländern angesiedelt. Dieselbe Entwicklung ließ sich auch im DV- Markt vor 20 Jahren beobachten, als wir sogenannte "Keypunch"- Systeme aus den Vereinigten Staaten nach Puerto Rico und Taiwan exportierten. Warum sollte mit der Programmierung nicht genau dasselbe passieren?

China kooperiert bereits mit Softwarehäusern und Unternehmensberatern in Hongkong, um Programmierservice auch in anderen Ländern anbieten zu können. In Singapur gewährt sogar die Regierung massive finanzielle Unterstützung, um eine nationale Softwareindustrie aufzubauen. Japan soll einem Gerücht zufolge darauf vorbereitet sein, den amerikanischen Softwaremarkt bis spätestens 1985 mit Produkten zu stürmen, die eine Garantiezeit von 30 Jahren bieten.

Viele Industrieexperten haben sich schon dahingehend geäußert, der Mikrocomputervetrieb werde bereits 1986 die Einnahmen auf dem Großrechnersektor in den Schatten stellen. Diese Vorstellung ist weder besonders kühn, noch umstritten. Die Tragweite dieses Umbruchs dürfte gigantisch sein, größtenteils aber auch soziologischer Natur, so daß es selbst für Computerprofis schwierig sein dürfte, sie voll zu erfassen. Entscheidend erscheint mir jedoch zu sein, was Mikros letztlich übergreifend bewirken: Innerhalb der nächsten Jahre wird es im Besitz von Privatpersonen mehr Computerpower geben und wahrscheinlich auch mehr Speichermedien als im Einflußbereich von Behörden und ähnlichen staatlichen Stellen.

Die Reaktion hierauf mag zunächst nicht über ein Schulterzucken hinausgehen, denn wir sind es gewöhnt, daß Privatpersonen solche "Machtmittel" wie Autos, Schußwaffen, Telefone und nicht zuletzt auch Computer besitzen dürfen. Man stelle sich aber zum Beispiel einmal die Reaktion in der Sowjetunion vor, daß die Computerpower der Bürger in ihrer Gesamtheit größer ist als die der öffentlichen Hand. Selbst in der westlichen Welt haben es die Regierungen nicht immer wohlwollend betrachtet, wenn Privatpersonen solche Machtmittel in ihrem Besitz hatten.

Während der letzten zwanzig Jahre wurde die Computer- Hardware immer billiger und schneller. Die Fehleranfälligkeit ging zurück, die Anlagen beanspruchten weniger Platz, die Klimatisierung der Räumlichkeiten machte weniger Probleme und der Stromverbrauch nahm ab. Die meisten Experten sind der Ansicht, das Preis-/ Leistungsverhältnis verbessere sich jedes Jahr um 20 bis 30 Prozent.

Hier handelt es sich um ein anderes Phänomen, das uns während unserer ganzen Karriere begleitet hat: Wir zweifeln keine Sekunde daran, daß die Rechner der Bauserie vom nächsten Jahr schneller, billiger und kompakter sein werden.

Ich finde es interessant, daß wir hinsichtlich dieses Trends unseren DV- Dünkel zur Schau tragen und uns dabei noch nicht einmal an die Unterschiede zwischen den Computern der späten fünfziger und der frühen sechziger Jahre und dem heutigen Equipment gewöhnt haben. Dies wird besonders deutlich, wenn wir "nicht- computerorientierte Menschen" unserer Generation oder der vorigen Generation im "Umgang" mit einem der heutigen Personal Computer sehen.

Sie haben Angst davor, die Maschine auch nur anzufassen, etwa so, als konnte sie jeden Moment explodieren. Wir Computerprofis sind aber eigentlich auch nicht besser: Unbewußt träumen wir noch immer von den Tagen, als wir noch Programme für 4- K- Maschinen schrieben. Folglich verwenden wir auch heute noch viel Zeit darauf, über verlorene Nanosekunden in CPU- Zyklen nachzudenken und uns über Bits und Bytes sowie über den durch "ineffektive" Programme vergeudeten Speicherplatz zu grämen.

Unsere Generation dürfte als Ergebnis dieser Denkweise unfähig sein, mit der Computerhardware der neunziger Jahre zurechtzukommen. Man stelle sich einmal folgende Zukunftsaussicht vor: Wenn die Hardware weiterhin immer billiger wird müssen wir uns wohl noch innerhalb der nächsten zehn Jahre mit dem Konzept des "Wegwerf"- Computers auseinandersetzen: Ein Rechner, der einmal verwendet wird, vielleicht als Bonus beim Kauf eines Tiefkühlgerichts, und den man anschließend wegwirft.

Ich zweifle daran, daß einer meiner Kollegen einen großen produktiven Nutzen aus einem solchen Konzept ziehen könnte. Die Vorstellung, einen Computer nach einmaligem Gebrauch einfach wegzuwerfen, ist nach heutigen Gesichtspunkten wohl auch zu alptraumhaft.

In seinem Buch "The Third Wave" machte Alvin Toffler die Idee der "elektronischen Heimarbeit" populär. Seither haben schon viele Zeitgenossen einschließlich meiner selbst diese Vorstellung verwirklicht. Die Programmierer benutzen ein Terminal oder einen Personal Computer der über ein Modem und Telefonleitungen mit dem Zentralrechner verbunden ist, oder Information Utilities wie "The Source and Compuserve" benützt.

So können jetzt auch Analytiker technische Zeichner, Berater und in anderen computerorientierten Berufen Beschäftigte zu Hause arbeiten. Es klingt überzeugend, daß die Datenverarbeitungsindustrie einer der Vorreiter der Heimarbeit sein muß.

Die Schreibkräfte, die derzeit in der Textverarbeitung tätig sind, waren wohl unter den ersten, die den Vorteil einer breitangelegten Heimarbeit zu schätzen wußten.

Toffler argumentiert sehr geschickt: Diese Bewegung werde so stark sein, daß sie keinen Widerstand zu fürchten brauche. Ich stimme ihm weitgehend zu und bin sehr beeindruckt von seinen Angaben: Wenn sich zehn bis zwölf Prozent der amerikanischen Arbeitskraft vom Büro in die eigene Wohnung verlegen ließen, bräuchten wir kein Heizöl mehr zu importieren. Hinzu kommt eine verringerte Verkehrsdichte, weniger Luftverschmutzung und die Zeitersparnis, die sich aus dem Wegfallen des Weges zur Arbeit ergibt.

Programmierjob am Küchentisch

Diese Argumentationsweise wird noch von einigen Faktoren untermauert, die in der heutigen Computerindustrie eine Rolle spielen. Es gibt heute tatsächlich zu wenig Programmierer und Systemanalytiker. Wenn dieser Engpaß auch bis etwa 1990 verschwunden sein mag, so sind viele Programmierer I983 noch in der Lage, sich ihren Job aussuchen zu können.

Ein Arbeitgeber, der die Möglichkeit anbietet, zumindest einen Teil der Arbeitszeit zu Hause am Terminal zu verbringen, wird für den Angestellten wohl attraktiver sein als einer, der auf einer 40- Stunden- Woche im Büro besteht. Solche wirtschaftlichen Überlegungen veranlassen manche Programmierer auch, sich völlig von einer "festen" Tätigkeit abzuwenden und ihr Glück in der freien Beratung zu versuchen. Der Aufschwung in der Mikrocomputerindustrie hat viele von ihnen veranlaßt, als Software- "Autor" auf Honorarbasis zu arbeiten.

Kinder und Computer

Computer werden in einem schwindelerregenden Ausmaß an den amerikanischen Schulen eingeführt. Ende 1981 gab es in den Lehranstalten etwa 100000 Rechner. Allein 1982 wurden zusätzlich 150000 vermarktet. Bis 1985 werden wohl 85 Prozent der Schulen Kurse für den Umgang mit Computern anbieten. Noch verblüffender ist jedoch der folgende statistische Wert: 1986 wird jeder Amerikaner, der älter ist als fünf Jahre, Zugang zu einem Computer haben.