Nicholas Negroponte zur Zukunft des WWW

Prognosen der Analysten in Web-Sachen sind sehr ungenau

24.09.1999
PARIS (CW) - Nicholas Negroponte, Gründer und Chef des Media Lab am Massachusetts Institute of Technology (MIT), sollte auf dem IT-Forum der Marktforscher von IDC eine kontroverse Meinung vertreten. Mit Erfolg, denn neben einer kurzen Analyse der europäischen Internet-Community geizte der Visionär in Paris auch nicht mit Seitenhieben auf die Marktforscher.

Seiner Erfahrung nach dürfe man auf die Zahlen der Marktforscher im allgemeinen nur wenig geben: "Die Analysten liegen häufig um den Faktor zwei daneben." Darüber hinaus sei es nicht glaubwürdig, wenn sie beispielsweise für eine Branche 376 Milliarden Dollar Marktvolumen in zwei Jahren prognostizierten: "Woher haben sie denn genau die 76 Milliarden?" fragte Negroponte unter dem Gelächter der Zuschauer.

Ein Problem sei, daß häufig nur die USA, Europa und Japan in Prognosen berücksichtigt würden. Entwicklungsländer wie Indien und China mit zusammen rund zwei Milliarden Einwohnern fielen einfach unter den Tisch. Beispielsweise gebe es in Mexiko etwa 200 000 Internet-Anschlüsse, so Negroponte. Diese würden allerdings von jeweils sechs Surfern genutzt. "Was wird da gezählt, die 200 000 oder die 1,2 Millionen?" Frank Gens, Senior Vice-President und Chef-Internet-Forscher von IDC, konterte: "Negroponte war einmal auf Besuch in Mexiko, wir haben 20 Analysten dort."

Der MIT-Direktor ging auch auf die speziellen Probleme ein, mit denen das Internet und der elektronische Handel in Europa konfrontiert sind. Diese Schwierigkeiten seien in erster Linie durch die Psychologie der Gesellschaft bestimmt. Auf dem alten Kontinent seien die Vorbehalte gegen die Jugend und ihre Ideen stärker als in den USA. Ein neugegründetes Unternehmen hätte es rund zehnmal schwerer, in Europa zu reüssieren. Die Nachfolgegeneration sei darüber hinaus von Anfang an von ihren Eltern darauf getrimmt worden, kein berufliches Risiko einzugehen, sondern sich lieber um eine sichere Anstellung zu bewerben.

Des weiteren sorgten die Telefon-Carrier mit ihren überhöhten Preisen dafür, daß sich das Internet hierzulande langsamer entwickelt. "Nach der Liberalisierung der TK-Märkte haben die Telcos erstmal die Preise für Ortsgespräche hochgesetzt", so Negroponte. Dringend empfahl er eine Umstrukturierung der Telefonkosten mit dem Ziel, so schnell wie möglich eine Flat-rate im Nahbereich zu erreichen.

Seinen beiden Keynote-Kollegen des IT-Forums, Michael Dell, Gründer und Chef des texanischen Computerherstellers Dell, und Michael Capellas, Präsident und CEO der Compaq Computer Corp., gab Negroponte schließlich noch eine wenig erfreuliche Botschaft mit auf den Weg: Personal Computer spielten bald sowieso nur noch eine untergeordnete Rolle als Internet-Zugangsgeräte. Denn "Spielzeuge sind der kommende Markt". Dort würden in den nächsten Jahren mehr Halbleiter eingebaut als in alle Desktop-Rechner zusammen. Künftig, so Negroponte, "gibt es mehr Barbies mit Internet-Anschluß als surfende Amerikaner". Dies habe den erfreulichen Nebeneffekt, daß sich die Spielzeugpuppen ihre neuen Kleider selbst bestellen könnten.