Professor Bullinger sprach Klartext Deutsche Unternehmen sind keineswegs optimal organisiert

30.06.1995

HAMBURG (hv) - Die Herstellung neuer, innovativer Produkte funktioniert in der Bundesrepublik traditionell recht gut, ebenso die Entwicklung moderner Produktionsverfahren. Dagegen mangelt es an effizienten Aufbau- und Ablauforganisationen. Hohe Arbeitsteiligkeit ist noch immer die Regel, moderne Unternehmensstrukturen gibt es nur in Ausnahmefaellen.

Waehrend dieses Ungleichgewicht frueher mangels Konkurrenz verkraftet werden konnte, geraet die Wirtschaft nach Beobachtungen von Hans-Joerg Bullinger, Professor am Fraunhofer-Institut fuer Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) in Stuttgart, nun immer mehr unter Druck. Anstelle von Massenprodukten wuerden heute viel mehr kundenindividuelle Loesungen entwickelt. Banken und Versicherungen diversifizierten, und die Fertigungsindustrie erzeuge eine immer groessere Produktvielfalt; die Menge an Zeichnungen, Produktplaenen, Stuecklisten etc. wachse ins Uferlose.

Zu wenig Mitarbeiter sind im Kerngeschaeft taetig

"Die Organisationsstrukturen von frueher sollen heute fuer die Herstellung und Vermarktung doppelt so vieler Produkte geeignet sein?" - diese rhetorische Frage stellte Bullinger seinen Zuhoerern auf einem Executive Symposium der Amdahl Deutschland GmbH. Business-Re-Engineering-Erfolge seien nur dann erzielt worden, wenn Unternehmensstrukturen veraendert wurden und der Trend zum "Over-Engineering" abgestellt worden sei. Zu wenige Menschen seien gegenwaertig in wertschoepfende Aktivitaeten eingebunden, zu viele bildeten ausschliesslich Overhead.

"Wir muessen ueber neue Leistungs- und Organisationsstrukturen nachdenken. Die extrem arbeitsteiligen Organisationen sind passe", meinte der Professor. Zwar spraechen sich in der Bundesrepublik inzwischen 74 Prozent der Fuehrungskraefte fuer flexible, teamorientierte Strukturen aus, doch nur vier Prozent haben sie laut Bullinger realisiert.

Der Referent forderte seine Zuhoerer auf, "zentral zu dezentralisieren", Kompetenzen an Mitarbeiter abzugeben und dabei mit entsprechenden Hilfsmitteln - etwa dem Team-Controlling - den Ueberblick nicht zu verlieren. Wer neue Organisationsstrukturen einfuehre, muesse seine Informations- und Kommunikationssysteme entsprechend planen.

Ausserdem habe modernes Management "humanzentriert" zu agieren: "Was Unternehmen wirklich voneinander unterscheidet, sind die Menschen. Dieser Produktionsfaktor muss wirkungsvoll ausgespielt werden." Die Deutschen haetten es verlernt, "um den Kunden zu kaempfen", die gesamte Unternehmenskultur muesse von "Kundenbesessenheit gepraegt sein".

Seinen Zuhoerern gab der eloquente Schwabe einige Leitideen mit auf den Weg. Oberstes Prinzip muesse es sein, die Prozesse der Leistungserstellung einfach zu halten. Ferner solle bei den Mitarbeitern die "eigenverantwortliche Selbstorganisation" Standard werden. Fuer Bullinger lautet die Konsequenz: "Wir muessen die Misstrauenswirtschaft beseitigen." Und schliesslich gelte es, das Handeln der Mitarbeiter "ergebnis- und nicht taetigkeitsorientiert" auszurichten. Die Qualitaet eines Unternehmens messe sich daran, wie schnell Stoerungen innerhalb der Organisation beseitigt werden koennten.

In seinem Vortrag ging der Wissenschaftler auch auf die Globalisierung der Maerkte ein, die etwa zur Folge habe, dass eine Firma Siemens-Nixdorf inzwischen rund 4500 Mitarbeiter in Indien beschaeftige. Auch technisch komplizierte Produkte koennten heute problemlos in sogenannten Schwellenlaendern hergestellt werden - und zwar zu Kosten, die weit unter den hiesigen laegen. "Wir koennen 15 tschechische Facharbeiter fuer einen deutschen beschaeftigen", behauptete der Professor.

Die Produktion laufe zunehmend global - ein Trend, auf den vor allem Mittelstaendler nur ungenuegend vorbereitet seien.

"Globalisierung heisst auch Nachdenken ueber Kooperationsformen", so Bullinger. Auf internationaler Ebene muessten vertikale Kooperationen zwischen Herstellern und Zulieferern eingerichtet und optimiert werden. Auch liessen sich gemeinsam mit Wettbewerbern virtuelle Unternehmen gruenden, deren Ziel ausschliesslich in der Erschliessung eines exakt definierten Teilmarktes bestehe. Hier und in der kooperativen Forschung biete die Informations- und die Kommunikationstechnik - etwa das Internet - ungeahnte Moeglichkeiten.

Die Zeiten, in denen "Made in Germany" ein Wertmassstab war, sind laut Bullinger vorbei. Heute heisse es "Made by Siemens" oder "Made by Daimler-Benz" - Unternehmen, die vor allem im Ausland wachsen. "In Deutschland", so schloss der Stuttgarter, "haben wir nur dann eine Chance, wenn wir innovativ sind und neue Services und Produkte kreieren."