Anwenderschulung/Zu spät gekommene Anwender rangeln um Spezialisten

Problem-2000-Experten empfehlen sich für größere Aufgaben

12.11.1998
Wer sich in Umstellungsprojekten bewährt, ist mit dieser Qualifikation auf der sicheren Seite. Aufstiegschancen, neue Herausforderungen und attraktive Gehälter locken. Auch die Selbständigkeit ist eine interessante Alternative, solange die Nachfrage auf dem gegenwärtigen Niveau verweilt. Winfried Gertz* hat sich unter Anwendern und Marktbeobachtern umgehört.

"Ich weiß nicht, was in anderen Unternehmen passiert", erklärt Martin Rühl, "aber die Deutsche Bahn AG hat nur wenige Umstellungsspezialisten auf dem Arbeitsmarkt rekrutiert." Was der Zertifizierungsbeauftragte des Frankfurter Softwarehauses TLC GmbH, einer hundertprozentigen Tochter der Bahn, die ab 1. Januar 1999 die komplette DV des Verkehrsunternehmens verantwortet, zum Ausdruck bringt, stimmt nachdenklich.

Denn bei insgesamt rund 500 auf das Problem 2000 zu überprüfenden Programmen, die erst zur Hälfte zertifiziert sind und von Cobol, C, Unisys-Mapper, SAP-Abap, MVS-Fortran, Pascal und sonstigen Sprachen nur so wimmeln, müßten die Personalressourcen eigentlich um externe Spezialisten ergänzt werden. Komplexe Umstellungsprojekte unter dem enormen Termindruck der Zertifizierung - alles aus eigener Kraft?

Keine Frage - Anwender strapazieren ihre internen Ressourcen aufs äußerste, um über die Runden zu kommen. Großbetriebe wie die Deutsche Bahn können zudem auf DV-Dienstleister zurückgreifen, mit denen sie langfristige Entwicklungs- und Wartungsverträge abgeschlossen haben.

Auch bei der Münchener Rückversicherungs AG bewältigt man die Jahrhundertaufgabe primär aus eigenen Mitteln. Daß das Unternehmen kaum teures Know-how auf dem freien Markt zukaufen mußte, so Jahr-2000-Projektleiter Udo Bauermann, sei auch der frühzeitigen Verwendung moderner Systeme und Programmierumgebungen zu verdanken. Denn nur ein Viertel der Anwendungsentwicklung bezieht sich nach seinen Angaben auf Legacy-Systeme. Heute bewege man sich dagegen in der modernen Welt aus 4GL und Objektorientierung.

Und das Unternehmen begann frühzeitig mit den Jahreszahlenmodifikationen. Das 1996 gestartete Umstellungsprojekt steht kurz vor dem Abschluß; für Beginn des kommenden Jahres ist die Einrichtung eines separaten Testsystems vorgesehen. Personalressourcen zahlreicher Partner wie Siemens Business Services, Debis Systemhaus, HP oder sd & m standen zur Verfügung. "Mit den wenigen Freelancern, die wir beschäftigen, haben wir moderate Konditionen ausgehandelt", fügt Bauermann hinzu.

Auf dieser Linie bewegt sich auch die in München ansässige Wacker Chemie GmbH. Henning Holz, Projektleiter Jahr 2000, gibt allerdings zu, daß man die Mitarbeiter über Gebühr strapaziert. "Neben ihren eigentlichen Aufgaben müssen sie auch die Umstellung bewältigen."

Ein großer Vorteil sei die Gruppe der älteren DV-Kollegen, deren Erfahrungsschatz nun sehr wertvoll sei. Ehemalige Mitarbeiter aus dem Ruhestand zurückzubeordern komme allerdings nicht in Frage. Holz räumt ein, daß der Versuch, auf dem freien Markt nach Spezialisten insbesondere für Assembler zu suchen, fehlgeschlagen sei.

Erfolgreich sei der vor drei Jahren erfolgte Umstieg auf SAP R/3 inklusive Re-Engineering verlaufen. DV- und Fachabteilungen hätten an "einem Strang gezogen" und zahlreiche Jahr-2000-Probleme gleich miterledigt. Kritisch äußert sich Holz zum Verhalten der Hersteller. "Sucht man nach Alternativen für betroffene Systeme, weigern sich viele Anbieter, eine Garantie abzugeben, oder sie halten sich bedeckt."

Am 30. Juni 1999 wollen die Verantwortlichen der Hüls AG in Marl aus dem Schneider sein. Joachim Beckmann, Jahr-2000-Projektleiter der Dienstleistungstochter Hüls Infracor GmbH, ist glücklich, nur wenige Legacy-Systeme unter die Lupe nehmen zu müssen. "Deshalb können wir zumindest die Software-Umstellung rechtzeitig abschließen. Alle Augen richten sich jetzt aber auf Embedded Systems, für deren Überprüfung und Umstellung die jeweiligen Hersteller verantwortlich sind."

Bis auf wenige externe Spezialisten von Dienstleistern, so Beckmann, habe man bei den Softwaremodifikationen auf die eigenen Mitarbeiter zählen können. Für die Embedded Systems stelle sich die Personalfrage überhaupt nicht.

Zusätzliche Personalkapazität bereitzustellen heißt für Gerd Schmalenberger von der Merck KGaA in Darmstadt, andere Projekte langsamer zu fahren. Externe Kräfte kurzfristig zu rekrutieren habe wenig Sinn. Der Jahr-2000-Projektleiter des Pharma- unternehmens verweist darauf, daß man bereits seit 15 Jahren immer mehr Assembler-Programme außer Betrieb genommen habe.

Jeder Bereich, ob er fünf oder 500 Mitarbeiter umfaßt, bestimmt demnach einen Jahr-2000-Verantwortlichen, der auch für Planung, Umsetzung und Arbeitskräftebedarf zuständig ist. Übergeordnete Aufgaben wie Change-Management und Software-Entwicklung liegen bei der zentralen Informatikabteilung. Um Embedded Systems kümmern sich Verfahrens- und Betriebsingenieure.

Wie es scheint, geht die aktuelle Diskussion um den riesigen Programmiererbedarf an den Unternehmen vorbei. Sie besinnen sich auf ihre eigenen Kräfte. Allerdings ist es ein großer Unterschied, ob man DV-Landschaften bereits dem Millenniumswechsel angepaßt hat oder sich mit Alt- lasten herumquälen muß.

Laut Reinhard Janning, Geschäftsführer der Micro Focus GmbH, sollen bereits 20 bis 30 Prozent der Programmierer in Großunternehmen auf eigene Rechnung arbeiten. Der Trend zur Beschäftigung von Freiberuflern habe "extrem" zugenommen. Spezialisten jenseits der 40 wollen sich kaum noch fest anstellen lassen, so Janning.

Wie auch bei Java-Spezialisten zu beobachten ist, hängen viele Angestellte ihren Job an den Nagel und bieten ihre Leistungen zu erstaunlich hohen Preisen auf dem freien Markt an. Lagen die Tagessätze eines Programmierers nach Angaben der Initiative 2000 im letzten Jahr noch bei etwa 1000 Mark, dürften sich die aktuellen Einkünfte um 50 Prozent gesteigert haben. Auch diejenigen, die sich mit Umstellungswerkzeugen auskennen, haben zumindest mittelfristig gute Perspektiven.

Zudem hat sich inzwischen herumgesprochen, daß technische Kompetenz, detailliertes Wissen um Geschäftsprozesse sowie Projekt-Management-Erfahrungen ein sicherer Wechsel auf die Zukunft ist: Wer sich in Jahr-2000-Projekten bewährt hat, dürfte auch in Zukunft gefragt sein. Wie vom Bundesverband Informations- und Kommunikationssysteme (BVB) in Bad Homburg zu erfahren ist, seien insbesondere Chief Information Officers (CIOs) stark daran interessiert, derart Qualifizierte um sich zu scharen.

Werner Steckel, Weiterbildungsbeauftragter der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg, rechnet in nächster Zeit mit einer Welle von Abwerbungen. Auch die Zeitarbeit dürfte aus seiner Sicht von der Jahr-2000-Problematik profitieren. So haben Firmen wie die niederländische Randstad einen Programmierer-Vermittlungsservice eingerichtet.

Arbeitsämter, so Steckel, hätten die Anweisung, kurzfristige Qualifizierungsmaßnahmen zu unterstützen. "Selbst ein Telelearning-Kurs für nur zwei oder drei Mitarbeiter ist finanzierbar", so Steckel in seinem Vortrag auf der Systems in München. Zumindest Trainer sind dem Vernehmen nach in ausreichender Zahl vorhanden.

Die Angebote des Arbeitsamtes, sei es Vermittlung oder Qualifizierung, nehmen allerdings nur wenige Unternehmen und Arbeitssuchende wahr. "In München vermitteln wir kaum noch in Jahr-2000-Projekte", so Werner Kimmeringer, der sich im Arbeitsamt um Entwickler, Programmierer und Datenbankspezialisten kümmert. Auch bei der kurzfristigen Weiterbildung machen Unternehmen einen großen Bogen um die Bundesanstalt für Arbeit. Um die Absolventen der wenigen geförderten Maßnahmen wie etwa zum "Migrationsexperten 2000" - einer viermonatigen Siemens-Schulung - reißen sich indes die Unternehmen.

Die Gehälter für die Absolventen sind höher denn je. Frank Soballa vom Münchener Systemhaus Liegel, das ebenfalls Weiterbildungsmaßnahmen für Jahr-2000-Projekte anbietet: "Ein Ex-Siemens-Mitarbeiter, Mitte 50, der sich wegen Gesundheitsproblemen einige Zeit aus dem Arbeitsleben zurückgezogen hatte, verdient heute als Angestellter 15000 Mark."

Daß sich nur wenige Arbeitslose für die Weiterbildung motivieren, führt Soballa auf den zu geringen Leidensdruck zurück. Sich in Programmierung einzuarbeiten ist kein Zuckerschlecken - manch einer bleibt da lieber in der sozialen Hängematte liegen.

Eines ist klar: Umstellungsexperten brauchen sich um ihre Zukunft nicht zu sorgen. Laut Frank Sempert von der Jahr-2000-Initiative ist inzwischen eine "zweite Generation" von Projektleitern herangewachsen, die Systemumstellung, Geschäftsprozesse und Supply-Chain-Management unter einen Hut bringen können. "Vorstände wollen nur die Besten", berichtet Sempert. Manche einstigen Cobol-Programmierer sind zu gefragten Business-Consultants avanciert.

Ähnlich argumentiert Carl Mühlner, Geschäftsführer der Gartner Group in München. Er empfiehlt, sich rechtzeitig Projekt-Management-Fähigkeiten anzueignen. Ob man vorher einer technischen oder kaufmännischen Aufgabe nachgegangen ist, sei nicht entscheidend. "Jahr-2000-Projekte sind prädestiniert für den Management-Nachwuchs", skizziert Steckel die Chancen insbesondere für jüngere Spezialisten und Hochschulabsolventen.

Soweit sind aber noch nicht alle. Viele Unternehmen verzichten nämlich darauf, ihre neuen Mitarbeiter auch einzuarbeiten. Diese Erfahrung hat zumindest Peter Eisenberger gemacht. Der Geschäftsführer der Software Factory Schotten, spezialisiert auf die Jahr-2000-Umstellung, kennt Unternehmen, die sich mit neuen Kollegen schwertun. Der Druck sei so groß, daß auf die notwendige Einarbeitung verzichtet würde.

Trotzdem fänden auch ältere Programmierer und ehemalige Arbeitslose den Wiedereinstieg ins Berufsleben. Herausforderungen, attraktive Gehälter und flexible Beschäftigungen lassen viele über den eigenen Schatten springen. Das könnte den Start in eine neue Karriere bedeuten.

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Wer sich bei größeren Unternehmen umhorcht, stellt fest, daß diese für ihre Jahr-2000-Projekte kaum pensionierte Kräfte reaktiviert haben. Allerdings fällt auf, daß sie früh mit der Umstellung begonnen haben. Manche räumen ein, das DV-Personal über Gebühr zu strapazieren. Die Personalnot erlaubt oft Traumgehälter, allerdings müssen die Neuen ohne längere Einweisung in die betriebsspezifische DV ins kalte Wasser springen. Krisenerprobte Projektspezialisten sind sehr gesucht - für höhere Weihen.

*Winfried Gertz ist freier Journalist in München.