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Praxisbericht: Software-Projekte in Indien

09.06.2000
Licht und Schatten

Von CW-Redakteurin Ulrike Ostler

MÜNCHEN (COMPUTERWOCHE) - Kann die Softwareentwicklung in Indien für deutsche Unternehmen eine Alternative zur umstrittenen Green Card sein? Die Würth Gruppe, Hersteller von Montage- und Befestigungstechnik machte negative Erfahrungen. Die Informationsverarbeitung Leverkusen GmbH (IVL) dagegen profitiert seit Jahren von ihrer asiatischen Werkbank.

Würth: Nicht jedes Projekt ist geeignet

"Wir haben das Projekt abgebrochen und das Produkt eingestampft", beschreibt Jürgen Häckel, IT-Leiter bei der Adolf Würth GmbH & Co., das Ergebnis des Pilotprojekts "verlängerte Werkbank". Das Scheitern führt der IT-Chef darauf zurück, dass die indischen Softwerker zwar technisch versiert waren, betriebswirtschaftliches Verständnis jedoch fehlte. "Während unsere Entwickler Applikations-Know-how haben und flexibel Problemlösungen erarbeiten können, hätten die schriftlichen Vorgaben für die indischen Programmierer eigentlich so genau sein müssen, dass sich ein Codieren erübrigt hätte, weil schon fast Programmzeilen dabei herausgekommen wären", so Häckel.

Die Vorbereitungen für das Projekt liefen im Frühjahr 1998 an. Im April reisten Häckel und Projektleiter Ulrich Arnold für gut eine Woche nach Indien, um sich in Neu Delhi, Bombay und Bangalore insgesamt zehn Softwarefirmen unterschiedlicher Größe anzusehen. Zuvor hatten die Würth-Mitarbeiter bereits Kontakte über die deutsch-indische Handelskammer und auf der CeBIT geknüpft. Im Gepäck hatten sie die Projektbeschreibung und ein Pflichtenheft.

Längst war klar, dass die Wahl eines Entwicklungspartners aus Indien ein Test sein sollte. Der Konzern wollte auszuloten, ob sich Softwareerstellung auf dem Subkontinent für ihn lohnt. Daher wählten die Würth-DVler, gedeckt durch Vorstandsentscheidungen, den Projektgegenstand mit Bedacht.

Der indische Projektpartner sollte ein interaktives E-Commerce-Produkt entwickeln, das in den verschiedenen Unternehmenszweigen der Würth-Gruppe verwendet werden kann. Es sollte modular und flexibel sein, somit modifizier- und konfigurierbar. Weiterhin sah die etwa zehnseitige Projektbeschreibung eine dreistufige Architektur aus Informix-Datenbank, Web- und Applikations-Server sowie schlanke Clients vor. Festgeschrieben war zudem die objektorientierte Entwicklung mit Hilfe der Programmiersprache Java und mit Corba als Kommunikationsmechanismus. Auch zur Projektorganisation hatten sich die DV-Verantwortlichen Konditionen überlegt. Weder sollte es einen Projektleiter von Würth in Indien geben noch einen indischen in einem hiesigen Team.

In der engeren Auswahl blieben zunächst drei indische Anbieter, die ihrerseits Repräsentanten zu Würth schickten, um Konzepte sowie Kosten- und Aufwandsschätzungen vorzustellen. Die Würth-Mitarbeiter entschieden sich für die L&T Information Technology Ltd. (LTITL), Puna, eine Tochter des schwedischen Konzerns Larsen & Toubro.

Das rund 1500 Mitarbeiter zählende Unternehmen lockte mit einem Festpreisangebot von zirka 300 000 Dollar, in dem das Projekt-Management und die Qualitätssicherung inbegriffen war. Die Konkretisierung der Produktspezifikation sowie die Auswahl der Entwicklungs-Tools waren als erste Schritte im Projekt definiert. Außerdem wurden der Projektleiter sowie der Zeitrahmen im Vertrag festgelegt. Gestartet wurde im August 1998, die Version 1.0 des ambitionierten Produkts sollte im März 1999 vorliegen.

Zunächst war vorgesehen, dass sich die LTITL-Entwickler mit Arnold per E-Mail verständigten. Später kamen Telefonkonferenzen dazu. Als Verzögerungen im Projekt erkennbar wurden, reiste der Projektleiter in monatlichen Abständen nach Puna. "Meiner Erfahrungen nach sind die Aufenthalte vor Ort unumgänglich", sagt Arnold heute. Sie seien wichtig, um unklare Punkte zu identifizieren, Fragen zu lösen und vor allem um das Anwendungsgebiet der entstehenden Software zu verdeutlichen. Über die Distanz kämen Probleme nicht zum Vorschein.

Terminverzögerungen bei gleichzeitigem Teamaufbau signalisierten Arnold, dass das Projekt in falschen Bahnen lief. Zu Beginn bestand das LTITL-Entwicklungsteam aus sieben, dann aus elf und schließlich aus 15 Personen. Doch stand für den Projektleiter auch fest, dass es dauern würde, bis das Softwarehaus einen Prototypen liefern konnte, da es ein ambitioniertes Produkt fertigen sollte. Als der Prototyp jedoch zum Ende 1998 noch nicht in Sicht war, flog Arnold nach Puna, um "die Datenstrukturen und die Architektur noch einmal durchzusprechen und die Anforderungen neu zu gewichten, kurz: um die Version 1.0 des Produkts abzuspecken". Dennoch verschob sich die Auslieferung des Prototypen immer weiter. Als er dann im März 1999 endlich kam, brach Würth das Projekt ab.

Die Gründe für das Scheitern sind vielfältig, haben jedoch im Wesentlichen mit Kultur- und Mentalitätsunterschieden zu tun. So gewann Arnold den Eindruck, dass die indischen Entwickler die Geschäftsprozesse überhaupt nicht verstanden hatten. Immer wieder musste er Grundlagen erläutern, zum Beispiel, dass Arbeitskraft in Europa anders als in dem Entwicklungsland teuer ist. In Puna beginnt die Dritte Welt in den Slums an der Außenmauer des Technologieparks.

Zugleich jedoch hörte Arnold niemals ein Nein, wenn er nachfragte, ob den indischen Kollegen Aufgaben und Technik klar seien. Darüber hinaus stellte sich im Projektverlauf heraus, dass die Entwickler kaum Erfahrungen mit Internet-Anwendungen hatten. Die objektorientierte Entwicklung war bei näherer Betrachtung keine, Projekt-Management und Qualitätssicherung hielten ebenfalls nicht das, was die in Europa und USA geschulten Vertriebsmitarbeiter versprochen hatten. Das Durchschnittsalter der Projektmitarbeiter lag bei ungefähr 22 Jahren, und ihr Kenntnisstand entsprach laut Arnold dem eines hiesigen Informatikstudenten im sechsten Semester. Außerdem litt das Projektteam an der in Indien üblichen starken Fluktuation des IT-Personals. Mit dem Wechsel der Mitarbeiter schwand wertvolles Know-how.

Unschön waren auch Diskussionen über die im Vertrag festgelegten Produktspezifikationen. "Da es sich um ein sehr innovatives Produkt handelte, konnten wir LTITL keine Programmiervorlage liefern", rechtfertigt Arnold die Anpassungen während des Projekts. Diese im Change-Management der Programmierer festgehaltenen Änderungen trieben die ursprünglich festgelegten Kosten immens in die Höhe. "Zudem galten die bei uns üblichen mündlichen Zusagen nicht", erinnert sich Arnold. Das führte unter anderem zu einem intensiven Gebrauch von Protokollen.

Missverständnisse ließen sich noch viele nennen. Für Arnold, der heute Abteilungsleiter bei der am 1. März 1999 gegründeten Würth-Tochter IT International, Bad Mergentheim, ist, lautet das Fazit aus den Projekterfahrungen, ein solches Projekt nicht mehr aufzusetzen: "Nicht jedes Vorhaben ist geeignet. Unseres war einfach zu ehrgeizig."

Seinen Angaben zufolge lassen sich Projekte mit indischen Partnern umsetzen, in denen die Vorgaben ganz klar, das Vorgehen weitgehend standardisiert und die Programmierung weitgehend mechanistisch sind. Die Qualitätssicherung sollte beim Auftraggeber angesiedelt sein, und es muss eine Person aus dem Unternehmen geben, die ständig als Vermittler beim Auftragnehmer agiert oder einen indischen Projektleiter im hiesigen DV-Team.

IVL: Kooperation zahlt sich aus

Anders als bei Würth läuft die Zusammenarbeit der IVL mit indischen Entwicklern erfolgreich. Außerdem ist die Unternehmensgeschichte der Leverkusener stark mit ihrem Engagement in Indien verknüpft. Mit dem Wunsch, Kosten zu sparen, fing es an.

1993 wurde die IVL als kommunales Rechenzentrum gegründet. Schon damals hatte Geschäftsführer Karl-Josef Errens die Idee, auf der Basis des R/3-Entwicklungssystems integrierte Anwendungen für Städte und Gemeinden zu schreiben, die sich an die SAP-Standardsoftware anschließen lassen, zum Beispiel Führerschein- und Friedhofswesen, Zulassung, Standesamt und Wahl. Auftraggeber waren bald nicht mehr allein die Stadt Leverkusen, sondern Entwicklungsgemeinschaften, hauptsächlich mit Ruhrgebietsstädten. Mit der Produktentwicklung hatte die IVL nun Vorleistungen zu erbringen, da die Kommunen erst nach der Fertigstellung ihre Kaufentscheidung fällen mussten. Nachdem im ersten Jahr nach der IVL-Gründung das Konzept dafür erstellt worden war, ging es 1994 an die Realisierung.

In diesem Jahr knüpfte Errens auf der CeBIT auf der Suche nach Entwicklungspartnern am Indien-Messestand die ersten Kontakte. Nach einer Erkundungsreise auf den Subkontinent fasste der IVL-Chef ein Joint Venture mit der in Kalkutta angesiedelten Firma Ada ins Auge. Bereits im Sommer lief das Testprojekt. Dabei ging es um einen Versionswechsel bei IBM-Compilern. Die Syntax einer Großrechneranwendung sollte von "Cobol VS" auf "Cobol II" umgestellt werden. Zwar verlief die Konvertierung zufriedenstellend, doch kristallisierte sich heraus, dass die Voraussetzungen für ein Gemeinschaftsunternehmen nicht stimmten. Während die IVL einen Auftragnehmer für die kostengünstige Entwicklung von Teilprojekten suchte, beanspruchte das indische Softwarehaus weiterhin unternehmerische Selbständigkeit.

So gründete die IVL noch 1994 die IVL India, ein 100-prozentiges Tochterunternehmen der Leverkusener. Dabei blieb es jedoch nicht. Heute hält die Stadt Leverkusen 40 Prozent Anteile an der IVL, weitere 40 Prozent besaß die Energieversorgung Leverkusen und 20 Prozent die RWE. Vor sechs Jahren gehörten der Stadt jedoch noch 50 Prozent, die IVL unterlag somit der Gemeindeverordnung und musste das Vorhaben durch das Regierungspräsidium absegnen lassen.

Doch die Gründung war politisch nicht gewollt; das Gegenargument lautete, das koste Arbeitsplätze in Deutschland. Der damalige Regierungspräsident von Köln, Franz-Josef Antwerpes, intervenierte persönlich gegen das Vorhaben. Das Aus für das indische Tochterunternehmen kam, weil die Buchprüfer des Regierungsbezirks nicht nur Zugang zu den IVL-Unterlagen verlangten, sondern auch zu den der IVL India. Das aber wäre nur durch einen Staatsvertrag zwischen Indien und Deutschland möglich gewesen, den es nicht gab.

Die IVL zog sich aus der Affäre, indem sie IVL India an "eine dem Unternehmen nah stehende Persönlichkeit" verkaufte, wie Errens sich ausdrückt. Seither ist Alfons Michels, der ehemalige Aufsichtsratsvorsitzende der Energieversorgung Leverkusen, der damals in den Ruhestand ging, alleiniger Inhaber. Der Inder Sunil Gupta wurde Geschäftführer der Firma, und Errens ist Member of the Board.

IVL India ist im Technologiepark von Trivandrum, Kerala, angesiedelt. "Da ist es halt sehr schön", scherzt Errens. "Die tatsächlichen Vorteile des Standorts liegen allerdings im guten Bildungssystem des Bundesstaates Kerala." Anders als in anderen indischen Ländern gibt es dort kaum Analphabeten, Von der Qualität der universitären Ausbildung sowie vom IT-Forschungszentrum in Trivandrum überzeugte sich der IVL-Geschäftsführer selbst. Dazu kommen eine gute Infrastruktur, die nahezu konstante Stromversorgung, die im Vergleich zu Bangalore oder Bombay niedrigen Gehaltskosten und die geringe Fluktuation des DV-Personals.

Nach damaligen Angaben der deutsch-indischen Handelskammer hätte der Aufwand für ein Unternehmen in Bangalore um rund 50 Prozent höher als in Trivandrum gelegen, allein durch die höheren Personalkosten. "Zudem hat uns die geringe durchschnittliche Verweildauer eines IT-Mitarbeiters im Unternehmen abgeschreckt", erinnert sich Errens. "Für das, was wir tun, brauchen wir Kontinuität in der Entwicklung."

Der Personalstand der IVL India beläuft sich auf etwa 100 Mitarbeiter. In den vergangenen zwei Jahren haben zehn Personen das Unternehmen verlassen. Damit ist die Wechselhäufigkeit geringer als bei den Leverkusenern. "Allerdings zahlen wir unsere Mitarbeiter auch gut", so Errens. Ein Hochschulabgänger verdient etwa 500 Mark im Monat. Jemand, der lange im Unternehmen bleibt, kann bis zu 2000 Mark monatlich bekommen. Das Durchschnittseinkommen eines indischen Arbeiters beträgt 700 bis 800 Mark im Jahr.

Zu Beginn funktionierte die Kooperation keineswegs so reibungslos, wie sie sich heute darstellt. "Wir bekamen manchmal etwas aus Indien, das wir nicht bestellt hatten", amüsiert sich Errens heute. "Die Software war schön, tat aber nicht das was wir wollten." Dann richtete die IVL eine Standleitung zur IVL India zum Preis von 10 000 Mark monatlich ein. Nun greifen die indischen Kollegen von ihren Clients aus auf die Applikations- und Datenbank-Server in Leverkusen zu. Sie arbeiten mit derselben Entwicklungsumgebung wie ihre deutschen Kollegen und tauschen über ein Teilnetz ihre Mails aus.

Außerdem stellte die IVL Qualitätsrichtlinien auf und sorgt dafür, dass IVL India ISO-9000-zertifiziert ist und die Geschäftsprozesse weitestgehend standardisiert sind. Die Zusammenarbeit habe sich "eingespielt", sagt Errens. Die Produktkonzepte entstehen in Deutschland, die IVL erstellt sie zusammen mit ihren Projektpartnern. Ist das Fachkonzept fertig, kommen Projektleiter der IVL India und arbeiten mit den Leverkusenern das DV-Konzept aus. Je nach Komplexität der Aufgabe, bleiben sie drei, vier Wochen oder auch die rechtlich maximal mögliche Zeitspanne von drei Monaten. Errens hält den persönlichen Kontakt für unerlässlich, auch wenn es für die Inder ein Problem ist, im Winter anzureisen und das richtige Essen zu finden. "Wenn man sich gegenübersitzt, den Gesichtsausdruck und die Gebärden interpretieren kann, führen sich Gespräche viel einfacher. Erklären Sie einmal jemandem, der unter südlichen Palmen lebt, was eine Fehlbelegungsabgabe ist oder wie unsere Friedhofsverwaltung funktioniert."

Der IVL-Chef vergibt nur Teilprojekte wie die Erstellung von Stammdatendialogen und Grafiken oder die Formulargestaltung. "Etwas, wofür das Aufschreiben länger dauert als die Programmierung, ist kein Auftrag für Indien", so der IVL-Chef. Trotz der Reibungsverluste lässt Errens keinen Zweifel daran aufkommen, dass die IVL India für die Existenz der IVL im Ruhrgebiet wichtig ist. Das indische Unternehmen produziert um die Hälfte billiger, als es in Deutschland möglich wäre. Letztlich profitieren auch die Leverkusener Softwerker davon: Die Mitarbeiterzahl der IVL wuchs seit Beginn der Kooperation von 60 auf 130.