Medien/WWW-Ästhetik schlägt auf traditionelle Medien durch

Portalismus: Designtrend bei Zeitungen und Zeitschriften

25.11.1998
Von David Hudson* Als die erste Nummer der amerikanischen Tageszeitung "USA Today" aus der Druckerpresse kam, waren sich die Kritiker nahezu einig: Das war keine Zeitung, das war gedrucktes Fernsehen.

Seit ihrem mit allgemeiner Ablehnung quittierten Debüt hat "USA Today" es nach und nach zu neiderfüllter Anerkennung gebracht. Trotz der Farben, Tabellen und Grafiken, trotz des regional unspezifischen Inhalts bietet das Blatt, was man von einer Tageszeitung erwartet: Es bringt neue Geschichten und berichtet zumindest gründlich genug über aktuelle Ereignisse. Vor allem aber wird es gelesen.

Seine Beliebtheit ist nicht zu leugnen. Wenn das Bordpersonal im Flugzeug mit den Zeitungen bis zu den hintersten Reihen durchgedrungen ist, dann ist für gewöhnlich keine "USA Today" mehr darunter, seltener zumindest als eine der dickeren, graueren und angeseheneren Blätter. Und zu meinen Lieblingsbeispielen aus der Geschichte des Pro- duct-Placement gehört die "Mars Today"-Zeitungsbox in Schwarzeneggers Science-fiction-Streifen "Total Recall".

Der pure Widerspruch im Design von "USA Today" besteht darin, daß es sowohl einfache Lesbarkeit in Form von Nachrichten auf einen Blick als auch eine große Menge davon verspricht. Auf der oberen Hälfte der Titelseite wetteifern Ankündigungen von Artikeln miteinander, jede mit einer anderen Taktik - hier ein Foto, da eine farbige Schlagzeile, eine fettgedruckte Schrift, ein reiße- risches Zitat. Und links auf der Seite prangt eine ganze Spalte mit noch mehr Anreißern, die sowohl breiter als auch häßlicher ist als das Vorbild im "Wall Street Journal".

Der Gesamteindruck ist sicher nicht ganz so grell und offenkundig sensationslüstern wie etwa bei der deutschen "Bild"-Zeitung oder den berüchtigten Boulevardblättern aus Londons Fleet Street. Aber hübsch ist er auch nicht. Was "USA Today" einer traditionsverhafteten Branche bewiesen hat, ist folgendes: Zwar erwarten viele Leser, daß Zeitungen Nachrichten und Meinungen mit deutlich mehr Tiefgang als im Fernsehen bringen; die Mehrheit greift jedoch allein deshalb zu einer Zeitung, um in puncto Highlights des Tages auf dem neuesten Stand zu sein.

Eilige Leser, immer damit beschäftigt, Familie und Job unter einen Hut zu bringen, haben womöglich nur einmal am Tag Zeit, mit der Außenwelt Verbindung aufzunehmen. Wer sich seine tägliche Nachrichtendosis während zehn oder 15 Minuten in der U-Bahn holen muß, geht mit einer Zeitung um wie mit einer Maschine. Konsequenterweise versucht deshalb "USA Today", bildlich gesprochen, so viele Knöpfe zum Drücken auf die Titelseite zu packen, wie die Anforderungen an die Lesbarkeit es gerade noch zulassen.

Die Leser des Blattes schätzen offenkundig die Möglichkeit, sich ihre eigenen Nachrichten auswählen zu können, ohne sich durch jede einzelne der plakatgroßen Seiten kämpfen zu müssen, um auch ja nichts Wichtiges zu verpassen. Sie haben den Überblick über den gesamten Zeitungsinhalt direkt vor der Nase.

Die "New York Times" sorgte im letzten Jahr selbst für etwas Nachrichtenstoff, als sie das traditionelle Erscheinungsbild der "Gray Lady" verriet und mit farbigem Fotodruck begann. Vor ein paar Monaten waren ihr gar eine Handvoll Zeitungen eine ausführliche Berichterstattung wert, die dieses Prinzip konsequent anwenden: überhaupt keine Nachrichten mehr auf der Titelseite, nur Anreißer - eine ganze Seite voll.

"Eine gedruckte Web-Site"

Offenbar hat diese Entwicklung in allen amerikanischen Redaktionsräumen eine heiße Debatte ausgelöst. Die Vorstellung drängt sich auf, wie die Gegner so eine Anreißer-Titelseite hochhalten und höhnen: "Das ist keine Zeitung, das ist eine gedruckte Web-Site!"

Ob es jetzt tatsächlich einen direkten Bezug gibt zwischen der Entwicklung der digitalen Titelseiten und derjenigen, die auf toten Bäumen gedruckt werden, oder nicht: Die Ästhetik des Web, gleichzeitig sexy und nutzungsfreundlich, schleicht sich seit langem in die klassischen Medien ein. Sowohl das deutsche Nachrichtenmagazin "Focus" als auch der neue US-Monatstitel "Business 2.0" experimentieren auf ihren Seiten mit dem wesentlichen Merkmal des Hypertext, dem Link: Ein Begriff oder ein Satzteil wird farbig hervorgehoben und durch eine dünne Linie mit dem Seitenrand verbunden. Dort stehen dann weiterführende Informationen zum Thema.

Natürlich weiß jeder, der einmal eine Seminararbeit geschrieben hat, daß das lediglich eine moderne Variante der Fußnote ist. Aber für Zeitungsmacher sieht es wie das World Wide Web aus - und damit ist es cool.

Ein anderes Medium, ein anderes Beispiel: Deutschlands erstes Fernsehprogramm beginnt seine Programmankündigungen mit einer senkrechten Leiste von Themengebieten auf der rechten Bildschirmseite: Sport, Filme, Serie, Reportage usw. Ein Lichtfleck wandert die Liste auf und ab und hebt die einzelnen Sparten her-vor. Das erinnert deutlich an Java-gestylte WWW-Seiten, wenn man mit der Maus einzelne Links berührt ("On mouse over"). Und weil es Fernsehen ist, wird die Wahl für den Zuschauer gleich getroffen: Der Lichtfleck bleibt zum Beispiel auf "Sport" stehen, und schon läuft eine Vorschau auf die nächste Fußballübertragung an.

Warum dieser Umweg, warum nicht gleich zur Vorschau? Ganz einfach: weil die ARD ihre Zuschauer vor allem darauf aufmerksam machen will, daß sie für jeden etwas zu bieten hat. Die ARD einzuschalten, so die Botschaft, ist eine gute Wahl: "Hier gibt es mehr für Ihre wertvolle Zeit, die Sie ins Fernsehen investieren" - genauso wie auf der Anreißer-Titelseite, die mehr Knalleffekte fürs Geld bietet. Aus dieser Botschaft ergibt sich zwar auch die Möglichkeit zur Auswahl, aber sie spielt nur die zweite Geige hinter der schieren Menge (ohne die es freilich keine Auswahl gäbe).

Die Verschmelzung unterschiedlicher Medien

Aber die ARD-Programmvorschauen sind letztlich nur eine Übung für das große Zusammenfließen aller Medien, das alle Gurus und Futuristen von Rang ankündigen. Vielleicht nicht morgen, vielleicht nicht dieses Jahr, vielleicht auch noch nicht im kommenden Jahrzehnt, aber eines Tages, beschwören diese Weisen, sind Zeitungen Web-Sites, Fernsehen oder Radio oder ...

Zu den bestverkauften Druck-Erzeugnissen in Deutschland gehören die unzähligen Programmzeitschriften. Von "TV Today" bis "Funkuhr" drucken sie die Sendepläne der Programmanbieter nach, peppen sie mit Fotos und Inhaltsangaben auf, die ebenso von den Programmanbietern kommen, und füllen den Rest des Heftes mit ihren eigenen Features, die sich um das TV-Angebot der nächsten Woche drehen.

Während dieses Marktsegment in Deutschland überfüllt ist, gibt es in den USA nur einen beherrschenden Titel: "TV Guide", die bestverkaufte amerikanische Wochenpublikation. All diese Magazine profitieren von dem einzigen, aber deutlichen Nachteil des Fernsehens: Es hat keine Titelseite.

Schlimmer noch: Das Fernsehen bietet auf dem Bildschirm wenig bis gar keinen Kontext zu seiner großen Programmvielfalt, Videotext einmal ausgenommen. Sicher, für Gutbetuchte gibt es ein paar Geräte, die zusätzlich zum laufenden Hauptprogramm ein oder zwei Fenster mit anderen Kanälen auf dem Bildschirm zeigen. Aber mehr als vier oder fünf Kanäle zur selben Zeit sind nicht drin. Mit der Möglichkeit, per Kabel oder Satellit 30 oder 40 Kanäle, sogar Hunderte davon, zu empfangen, hilft diese Handvoll Simultankanäle dem Zuschauer kaum, wenn es darum geht, das für seinen persönlichen Geschmack beste Programm auszuwählen.

Einige Kabelgesellschaften haben die Notwendigkeit eines Senders erkannt, der nichts weiter bringt als Information darüber, was die übrigen Sender desselben Unternehmens zeigen werden. Dazu gehört in den USA eine der größten TV-Companies am Markt, TCI, die kürzlich von AT&T für 48 Milliarden Dollar übernommen wurde.

Zu den Vermögenswerten, die TCI-Boß John Malone kurz vor dem Zusammenschluß in diesem Sommer erwarb, gehörte ein Markenname: "TV Guide". Malone zahlte zwei Milliarden Dollar an die News Corporation des Medien-Tycoons Rupert Murdoch für den Namen samt Kundendatenbank und ersetzte damit seinen eigenen Vorschaukanal.

Von "USA Today" zu den Zeitungen mit reinen Anreißer-Titelseiten, von den ruhmreichen gedruckten Fernsehzeitungen zu "TV Guide Online": Die klas- sischen Medien orientieren sich an den neuen Medien - also am Web - wenn es um die darstel- lerischen Prinzipien der Plazierung großer Informationsmengen auf begrenztem Raum geht. Die neuen Medien versprechen dem Kunden das Nonplusultra an Individualität: "Was immer du willst, und wann du es willst." Das Ideal der Utopisten schrumpft zu einer kruden Designfrage zusammen.

Web-Sites sind mit Werbeplakaten übersät

Wirklich innovatives Design, betrieben bis zum Exzeß, ist künftig ironischerweise im Wettbewerb zwischen den am stärksten kommerziell ausgerichteten Sites im Web zu finden: an den Portalen, den Eingangstoren zu den großen Internet-basierten Online-Diensten.

Von Netscapes Netcenter zu Yahoo, von Excite zu Lycos geht es darum, kostenlose E-Mail, Communities, Chat, Internet-Suche, Web-Kataloge, Nachrichten, Wetterberichte, Einkaufsmöglichkeiten und (vielleicht am wichtigsten) hocheffiziente Klickflächen zu fast allen anderen Zielen in der Medienwelt auf einer einzigen Startseite unterzubringen. Diese soll trotzdem noch einigermaßen attraktiv aussehen, zumindest aber überschaubar sein - während eine gewisse Markenidentität gewahrt bleibt und man der Fallgrube der absoluten Verwechselbarkeit mit allen anderen Portalseiten aus dem Weg geht.

Der Inhaltelieferant für beinah jedes Medium, das da noch kommt, wünscht den Designern bei dieser Aufgabe viel Glück.

*David Hudson lebt als freier Journalist und Buchautor in Berlin. Seine Beiträge mit dem Schwerpunkt Kultur und Neue Medien werden in amerikanischen und deutschen Online- und Print-Publikationen veröffentlicht. Hudson betreut mehrere Internet-Communities, darunter das technikkritische Forum Rewired (www.rewired.com).