Personaler: Strategen in der Dauerkrise

19.05.2005
Von Winfried Gertz*
Der Erfolg von Unternehmen hängt von ihren Mitarbeitern ab. Um besser als die Konkurrenz zu sein, müssen Firmen talentierte Arbeitskräfte finden und langfristig an sich binden.

Die Anforderungen an Personaler steigen. Von ihnen wird erwartet, dass sie entscheidend zur Existenzsicherung ihrer Unternehmen beitragen. Nur wenn Firmen es schaffen, sich im Wettbewerb um Talente von der Konkurrenz abzusetzen, sind sie auf der sicheren Seite. So zumindest lautete die Botschaft der "Global People Conference", die das Management Centre Europe (MCE) Ende April auf Rhodos ausrichtete. Aus aller Welt waren etwa 400 Teilnehmer angereist, darunter viele aus Asien.

Die Zeiten, in denen Personaler sich auf ruhige Verwaltungsarbeit konzentrieren konnten, sind angesichts der Globalisierung vorbei. Ein Beispiel dafür ist das IT-Offshoring in den USA. Der Politikwissenschaftler Ron Hira, Professor am Rochester Institute of Technology, schilderte, wie qualifizierte Jobs ohne Aussicht auf Rückkehr oder adäquaten Ersatz ins Ausland exportiert werden. "Laut dem Beratungsunternehmen McKinsey können US-Firmen für jeden offshore investierten Dollar zwölf bis 14 Cent Nettogewinn einstreichen", so Hira. "Ausbaden müssen das Elektroingenieure und IT-Spezialisten, die ohne Aussicht auf eine alternative Beschäftigung entlassen werden."

Bereits zweimal referierte der Wissenschaftler über die bedrohliche Lage vor dem Kongress - ohne Resonanz. Er regt zum Beispiel an, die Vergabe von Arbeitsvisa zu erschweren. "70 Prozent vom Umsatz der in den USA tätigen indischen IT-Dienstleister wie Infosys oder Wipro sind unmittelbar auf die Arbeit ihrer Landsleute vor Ort zurückzuführen." Damit nicht genug: Inzwischen kaufen diese Firmen US-amerikanische Unternehmen auf. "Nicht wegen der Arbeitskräfte, sie sind allein an den Kunden interessiert."

Auch Forschung wird verlagert

Auch andere Marktbeobachter wie der wirtschaftswissenschaftliche Nobelpreisträger Paul Samuelson vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) versuchen bislang vergeblich, die politischen Entscheidungsträger aufzurütteln. Seine These, wonach der Lebensstandard in den USA sich gegenläufig zum chinesischen Wachstum entwickeln werde, verhallt trotz deutlich sinkender IT-Löhne weitgehend ungehört. "Eigentlich sollte Innovation unsere stärkste Waffe sein", wundert sich Hira. Tatsächlich würden Forschung und Entwicklung im großen Stil in andere Länder ausgelagert. Das von Beratungshäusern und der Wirtschaft favorisierte Outsourcing nutze nur wenigen: "Davon profitieren allein Aktionäre und Topmanager. Arbeitskräfte schauen dagegen in die Röhre."

IT-Industrie trainiert nur Skills

Was Unternehmen tun sollten, um sich mit einheimischen Mitarbeitern gegen die Billigkonkurrenz zu behaupten, kann jedoch auch Hira nicht erschöpfend sagen. Attraktive Arbeitsplätze und gute Weiterbildung seien nützliche Strategien im Wettbewerb um den Nachwuchs, falls man den überhaupt noch will. Die IT-Industrie müsse sich den Vorwurf gefallen lassen, bei ihren Mitarbeitern hauptsächlich Fertigkeiten (Skills) zu trainieren. Ihnen fehle das Wissen, wie sie immer weiter lernen könnten, sie seien im zunehmend internationalen und wettbewerbsintensiven Arbeitsklima überfordert und "können mit Unsicherheit kaum umgehen". Eine Kritik, der sich auch der Wirtschaftswissenschafts-Professor Stephane Garelli von der Lausanner Business School IMD anschloss. Viele Unternehmen seien auf den bevorstehenden Andrang hoch qualifizierter junger Menschen aus dem Osten unvorbereitet.

Allein in China verlassen Schätzungen zufolge pro Jahr 600000 Ingenieure die Hochschulen. Viele suchen ihr Glück in unseren Breiten. Die "Talente von morgen", so Garelli, seien energisch und voller Entscheidungsfreude und mit dieser Einstellung ihren Konkurrenten im Westen weit überlegen. Sprengstoff liege in der demografischen Entwicklung der westlichen Industriestaaten. Dazu kämen der Jugendwahn in den Unternehmen und eine damit kompatible Gefälligkeitspolitik: "Dass in Italien 62 Prozent der Beschäftigten bereits mit 55 in Rente gehen, wird uns noch teuer zu stehen kommen."

Viele Personalabteilungen haben gegen diese Probleme noch keine Strategie entwickelt. Wie sie zum Unternehmenserfolg beitragen, bleibt oft ein Rätsel. Dass es auch anders gehen kann, zeigten auf Rhodos Yahoo, Nokia und Reuters. Ihre "Turnaround-Stories" ließen ahnen, worauf sich Unternehmen einlassen müssen. Von einem viel versprechenden Projekt berichtete zum Beispiel John Reid-Dodick, seit vier Jahren Chef-Organisationsentwickler am Reuters-Hauptsitz in London. Im Februar 2003 musste die Nachrichtenagentur, die drei Jahre zuvor 20000 Mitarbeiter beschäftigt und ihren Aktienkurs auf 16 britische Pfund hochgetrieben hatte, erstmals rote Zahlen veröffentlichen. "Die Kunden- und Mitarbeiterzufriedenheit", erinnerte sich Reid-Dodick, "be- fanden sich ebenso wie der Aktienkurs im Sinkflug." Reuters verhedderte sich mit den 1300 Produkten und fand heraus, dass sich viel zu wenige Mitarbeiter für Führungsaufgaben eigneten. Nur eine Kehrtwende konnte die Firma vor dem Aus bewahren.

Turnaround bei Reuters

Ziel des Kulturwechsels war es laut Reid-Dodick, dem größten Wettbewerber Bloomberg "die Hölle heiß zu machen". Reuters investierte in die Weiterbildung von Nachwuchs- und Führungskräften, führte Leistungsmess-Systeme ein und reanimierte den Kundenservice etwa mittels neuer Niederlassungen in Bangalore und Bangkok mit rund 1000 Arbeitsplätzen. Inzwischen trauen Investoren der Firma wieder mehr zu; die Mitarbeiterzahl wächst, und auch die Identifikation mit dem Unternehmen stieg. Dennoch hebt Reid-Dodick nicht ab: "Sicher können wir uns nie mehr wähnen."

Auf unsicheres Parkett begab sich auch Libby Sartain, bei Yahoo als "Chief of People" für Human Resource verantwortlich. Im Herbst 2001 verließ sie ihre sichere HR-Position bei Southwest Airlines für ein "Himmelfahrtskommando". "Entlassungen in der IT- und Internet-Wirtschaft setzen sich fort", titelte die "New York Times" in jenen Tagen. "Ich traf bei Yahoo auf ziemlich verunsicherte Mitarbeiter", so Sartain, "auf ihre Firma gaben sie keinen Pfifferling mehr." Statt ihre Mitarbeiter zu motivieren und ihnen Orientierung zu vermitteln, hätten sich die Yahoo-Gründer lieber auf technische oder finanzielle Ziele kapriziert. "Man geht zu Yahoo", lautete ihr belangloses Credo, "weil es chic ist, bei einer Internet-Firma zu arbeiten."

Entschlossen setzte Sartain, unterstützt vom neuen CEO Terry Semel, dieser Gleichgültigkeit eine zielgerichtete Personalpolitik entgegen. Eine zentrale Aufgabe fiel den Managern zu: Sie sollten Mitarbeiter motivieren und sich um deren Weiterentwicklung kümmern. Parallel änderte Yahoo seinen Kurs - weg vom Service- und User-Fokus, hin zu profitablen Geschäftsfeldern.

In diesem Jahr will Yahoo wieder rund 10000 Mitarbeiter auf seiner Gehaltsliste haben. "Als ich kam", blickte Sartain zurück, "wurde die HR-Abteilung für missratene Einstellungspolitik verantwortlich gemacht. Von Personalentwicklung fehlte jegliche Spur." Heute sagen 98 Prozent der Mitarbeiter, sie fühlten sich verantwortlich für die Zukunft ihrer Firma, ebenso viele sind stolz auf ihren Arbeitgeber. Paradoxerweise schreckt der gestiegene Aktienkurs das eine oder andere Talent heute ab: Manche fühlen sich dadurch an den rasanten Aufstieg und tödlichen Fall börsennotierter New-Economy-Unternehmen erinnert.

Die Beispiele von Reuters und Yahoo zeigen, dass Personal- und Geschäftsstrategien ihre Wirkung am besten dort entfalten, wo sie Hand in Hand gehen. Das Herz von Mitarbeitern gewinnen, ihre Arbeit mit Sinn erfüllen und ihnen klare Ziele vermitteln, dabei wurden Reid-Dodick und Sartain durch ihr Topmanagement unterstützt. Auch Nokia hat diesen Kurs eingeschlagen. Laut HR-Managerin Anna Tavis führt das finnische Unternehmen seinen Erfolg auf das verstärkte interne Networking auch zwischen Führungskräften und Mitarbeitern zurück, das eine stabile Vertrauensbasis ermögliche. "Je mehr wir kommunizieren", argumentierte Tavis, "desto schneller entstehen neue Ideen, die sich an der richtigen Stelle in Wettbewerbsvorteile umsetzen lassen."

Am interessantesten freilich ist, was in den Präsentationen ausgeklammert wurde. Zwar war von Umsatz-, Mitarbeiter- und Zufriedenheitszahlen die Rede, damit war aber noch nicht bewiesen, ob die Fortschritte auf die Initiativen der Personaler zurückgehen. Viele wünschen sich ein verlässliches Messverfahren, mit dessen Ergebnissen sie auch gegenüber der Geschäftsführung besser auftreten können.

Ein solches Modell stellte auf Rhodos das HR Institute der Universität Tampa in Florida unter dem Namen "The Organizational Capabilities Diagnostic Intervention" (OCDI) vor. Die Berater von MCE, die das Messsystem in Europa vermarkten, interviewen die Entscheidungsträger des Kundenunternehmens. Dann wertet eine Software die Daten aus. Zwei Stunden später, versicherte Jay Jamrog, Direktor des HR Institute, stehe das Ergebnis auf der Website zum Abruf bereit.

"HR-Leute", sagte Jamrog, "neigen dazu, sich mit schönen, aber unbrauchbaren Ergebnissen zu schmücken." Schon eine jährliche Mitarbeiterumfrage werde als etwas Besonderes verkauft. Mit dieser Einschätzung liegt Jamrog nicht falsch. Auf dem Markt konkurrieren zahlreiche Methoden und Tools, doch nur wenige können hohen Ansprüchen genügen. Als Wissenschaftler interessiert er sich in erster Linie dafür, ein Tool zu entwickeln, das verlässliche Ergebnisse erbringt; ob die Firmen daraus die richtigen Schlüsse ziehen, ist ihre Sache. (iw)