Peer-to-Peer-Firmen werfen ihre Netze aus

28.11.2000
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Alexander Freimark wechselte 2009 von der Redaktion der Computerwoche in die Freiberuflichkeit. Er schreibt für Medien und Unternehmen, sein Auftragsschwerpunkt liegt im Corporate Publishing. Dabei stehen technologische Innovationen im Fokus, aber auch der Wandel von Organisationen, Märkten und Menschen.
Ob Napster, Gnutella oder Groove - in den USA kocht die IT-Branche das Thema "Peer-to-Peer" auf hoher Flamme. Im Kern bezeichnet das Verfahren den direkten Informationsaustausch zwischen Rechnern über das Internet, wobei jeder Client als eigener Content-Server auftritt. Und wie bei jedem anständigen Hype droht auch durch Peer-to-Peer ein neuer Paradigmenwechsel. P2P ist nicht gleich P2P - die Architekturen von Groove, Gnutella und Napster unterscheiden sich grundlegend.

Den Groove hat er wieder gefunden, Ray Ozzie, der Vater von Lotus Notes. "Groove" heißt sein jüngstes Kind, das drei Jahre Entwicklungsarbeit und ein Startkapital von über 50 Millionen Dollar verschlang. Die im Oktober vorgestellte Software fängt angeblich da an, wo Groupware-Lösungen wie Notes und Microsofts Pendant "Exchange" an ihre Grenzen stoßen: bei der direkten, spontanen und Internet-übergreifenden Kommunikation von Gleichgestellten, Freunden, Kumpeln - von "Peers", wie es im englischsprachigen Raum heißt, oder eben schlicht von Peer zu Peer (P2P). Das Verfahren basiert auf der Bereitschaft der Community, sich gegenseitig Daten und Dokumente zur Verfügung zu stellen. Ozzie und seine Firma Groove Networks hätten den Zeitpunkt der Veröffentlichung nicht besser wählen können.

Seit Mitte des Jahres ist die IT-Branche in den USA vom neuen Schlagwort P2P durchdrungen, das wieder einmal die gegenwärtige Struktur der rechnergestützten Kommunikation in Frage stellt. Von einem Paradigmenwechsel ist die Rede, denn P2P sei wie das Internet an sich - direkt, schnell, flexibel. Schöner Nebeneffekt für Nutzer und Medienvertreter: P2P ist irgendwie subversiv, da es scheinbar von ganz unten kommt, direkt von der Anwendergemeinde also. Für den medialen Durchbruch des Modells sorgte nicht zuletzt der Prozess gegen die Musiktauscher von Napster, und knapp 40 Millionen Anwender waren bei dem Dienst binnen kürzester Zeit registriert. Zwar gilt Napster gemeinhin als P2P-Plattform, allerdings nicht in Reinkultur. Die Tauschbörse braucht schließlich zentrale Server, auf denen die Titel und die Nutzer verzeichnet sind - was auch zugleich das größte Problem der Betreiber ist: Schaltet man die Server ab, ist das System am Ende.

Die reine P2P-Lehre hingegen vertritt die Musiktauschbörse "Gnutella". Hier sucht man Server vergebens, weshalb die Plattform nach Aussage der Gründer sowohl Atomkriege als auch Rechtsanwälte überleben wird. Die angeschlossenen PCs reichen Anfragen nach Musiktiteln, vereinfacht gesagt, so lange untereinander weiter, bis das gewünschte File gefunden ist. Danach folgt die Übertragung auf den Zielrechner, wahlweise als Download oder per Push-Technik. Ein ähnliches Konzept ohne zentrale Server verfolgt auch Groove. Kleine Gruppen - maximal 20 Mitglieder - stellen sich gegenseitig Files verschiedener Couleur zur Verfügung, teilen einen Team-Kalender oder malen simultan auf einer virtuellen Tafel in der Groove-Software. Die Daten werden automatisch synchronisiert, Offline-Teilnehmer erhalten bei der erneuten Einwahl den jeweils aktuellen Stand übertragen. Wer mitgrooven darf, wird von der Gruppe per Einladung bestimmt, Voraussetzung ist lediglich der (noch) kostenlos erhältliche Client.

Remineszenzen an die Vergangenheit? Obwohl es sich in beiden Fällen um P2P-Lösungen handelt, liegen zwischen Napster und Groove Welten. Allein die unterschiedlichen Nutzerzahlen - von 40 Millionen bis hinunter zu maximal 20 - erinnern an alte Vergleiche zwischen Peer-to-Peer-Netzen und der Client-Server-Technologie. Vor rund zehn Jahren tauchte das Thema P2P zum ersten Mal ernsthaft auf und sollte die Vernetzung der Büros vorantreiben. Auch damals stellte sich heraus: Server sind für große Systeme nötig, reines Peer-to-Peer eignet sich lediglich für kleine Gruppen. Geteilt wurden damals Dateien und teure Ressourcen, vornehmlich Drucker, CD-ROM-Laufwerke oder Scanner. Typische Vertreter dieser Netzwerkkategorie waren etwa Novell mit "Netware Lite" und seinem Nachfolger "Personal Netware", Microsoft mit "Windows for Workgroups" und "Lantastic" von Artisoft. Die durchschnittliche Größe der Peer-to-Peer-Netze lag zwischen drei und 15 Teilnehmern, größere Runden scheiterten an der mangelnden Performance und Administration. Ähnliche Erfahrungen machten aktuell auch die Betreiber des Server-losen Gnutella, die mit zunehmender Nutzerzahl auf gravierende Engpässe stießen.

Zwar sind die P2P-Konzepte in der Regel noch nicht ausgereift, Beobachter erwarten jedoch viel von ihnen. Zum einen hat sich der P2P-Ansatz inzwischen von einem reinen Netzwerk-Tool hin zu Anwendungen und damit auch zu Lösungen entwickelt, andererseits ist das Modell nicht mehr nur auf die eigene Firma beschränkt. Aktuelle Peer-to-Peer-Netze wie Groove haben durch das Internet einen wesentlich breiteren Fokus, denn mit ihnen lassen sich Arbeitsgruppen zwischen Flensburg und Philadelphia innerhalb von Sekunden einrichten. Deutlich wird die hohe Erwartung an P2P auch angesichts der IT-Schwergewichte, die zur Vorstellung von Groove aufgeboten wurden. Anwesend waren Jim Manzi, der ehemalige CEO von Lotus Development, und Dan Bricklin, Co-Entwickler der Tabellenkalkulation "Visicalc". Danach grüßten Bill Gates und Intels Ex-Chef Andy Grove von der Leinwand, um Ozzie ihre Unterstützung zu versichern. Was auf den ersten Blick wie ein Netzwerk von alten Peers aussieht, offenbart sich bei näherer Betrachtung jedoch als nüchternes Kalkül der Konzerne.

Dass die Branchenschwergewichte Microsoft und Intel zu den P2P-Unterstützern zählen, hat nichts mit Altruismus oder einer neuen Sozialromantik von der teilenden Gesellschaft zu tun. Für die Konzerne gilt seit jeher die These: "Je fetter der Client, desto besser die Geschäfte" - eine Rechnung, die in den letzten Jahren trotz der vielerorts herbeigesehnten "Revolution" durch Netzcomputer und schlanke Clients aufgegangen ist. Problematisch könnte für Intel und Microsoft jedoch die aktuelle Entwicklung werden. Schließlich sollen Breitband-Handys und digitale Assistenten nach Prognosen der Analysten die Zahl der Desktops deutlich überholen. Hinzu kommt, dass es selbst für den anspruchsvollsten Power-User nur schwer zu erklären ist, wieso eine mit 1,5 Gigahertz getaktete Pentium-4-CPU für den Betrieb von "Word" und "Powerpoint" benötigt wird. Derartige Boliden hätten vor Jahren noch ausgereicht, um ganze Unternehmen mit Informationen zu versorgen.

Naturgemäß ist Intel an allen Verfahren interessiert, mit denen möglichst viel Rechenkapazität vom Server auf den Client verlagert wird - ein Ansatz, den P2P in jedem Fall unterstützt. Deshalb kommt Ozzies PC-gestützte Lösung Groove in Redmond und Santa Clara wie gerufen - und dies umso mehr, als man damit außerdem der Server-zentrierten Konkurrenz wie Sun Microsystems noch in die Suppe spucken könnte. Für Dwight Davis, Analyst bei Summit Strategies, ist die Unterstützung von Groove durch Microsoft und Intel daher nachvollziehbar: "Alles, was zusätzliche Prozessorleistung und Software auf der Client-Seite rechtfertigt, wird dort mit offenen Armen empfangen." Intel kämpft an mehreren P2P-Fronten Hinzu kommt, dass Intel seit Jahren noch an einer anderen P2P-Front kämpft. Um die Verwirrung zu steigern: P2P ist nämlich nicht gleich P2P, denn der Terminus ist schon von einer völlig anderen Technologie besetzt. Während damit einerseits wie bei Groove oder Napster der Austausch von Dateien, Informationen oder Daten bezeichnet wird (P2P-File-Sharing), handelt es sich im anderen Fall um eine Recycling-Version des bekannten Distributed Computing Environment (DCE). Dieser als P2P-Computing oder auch Distributed-Resource-Management (DRM) benannte und unter anderem von Intel unterstützte Ansatz sieht vor, dass umfangreiche Berechnungen auf Prozessoren ablaufen, die sich gerade im Leerlauf befinden. Zumeist handelt es sich um Arbeitsplatzsysteme, die entweder nachts, während Pausen oder im Hintergrund von der Zentrale aktiviert und beschäftigt werden.

Mit einer eigenen P2P-Lobbygruppe versucht Intel daher, Unternehmen vom Prinzip der verteilten Kalkulation zu überzeugen. Das beste Argument kommt dabei aus dem eigenen Haus. Intel verwendet seit Jahren eine Software namens "Netbatch", um das Design seiner CPUs computerübergreifend zu berechnen. Nach Aussage der Firma hätte man dadurch im Laufe der Zeit insgesamt rund 500 Millionen Dollar eingespart. P2P-Computing biete sich laut Intel aber auch für andere Branchen an, die intensive Rechenoperationen leisten müssten. Motto des Chipriesen: Supercomputing zum Preis von ein paar Desktops. Analysten machen großes Potenzial aus Doch auch aus der P2P-File-Sharing-Ecke machen sich inzwischen Companies auf, die Anwenderunternehmen zu erobern. Der Analyst Simon Yates von Forrester sieht im P2P-Markt für die firmenübergreifende Zusammenarbeit ein großes Potenzial. Ein Beispiel hierfür ist das kalifornische Startup-Unternehmen Quiq, mit dessen P2P-Software sich virtuelle Communities errichten lassen. Einkäufer und Lieferanten können so auf direktem Weg miteinander kommunizieren und Liefermodalitäten austauschen, ohne dass ein Server dazwischengeschaltet ist.

Bis IT-Entscheider auf den P2P-Zug aufspringen, müssen laut Yates jedoch noch einige gravierende Probleme beseitigt werden. Die Möglichkeit zur zentralen Kontrolle der Systeme ist nach Meinung des Forrester-Analysten ein wichtiges Kriterium. Zweitens müsste ausreichend Bandbreite in den Netzen zur Verfügung stehen, um den intensiven Dateitransfer zu ermöglichen. Schließlich sind Fragen zur Integration und vor allem zur Sicherheit von P2P-Lösungen noch nicht geklärt. Erst wenn es hinreichende Richtlinien zur Autorisierung und Authentisierung gebe, seien die Modelle für den Unternehmenseinsatz geeignet. Aus diesen Gründen gibt Ozzie bereits klein bei und bietet künftig zum reinen P2P-Modell eine zweite Server-basierte Version an. Ob auch die virtuellen Marktplätze von P2P-Netzen abgelöst werden, wie einige Evangelisten prophezeien, sei dahingestellt. Die passenden Lösungen für den Bereich gibt es noch nicht, sie sind noch nicht einmal angekündigt worden. Zu hoch sind im unternehmenskritischen Einsatz die Anforderungen an die Stabilität der Systeme, denn welcher Konzern vertraut schon gerne seine Einkaufsentscheidungen einem Desktop-Arbeitsplatz im P2P-Netz an.

Allerdings verweisen die Analysten von Gartner in diesem Zusammenhang auf die Tendenz, dass die Mehrzahl der Märkte gegenwärtig noch keine ausreichende Menge an Einkäufern und Transaktionen hinter sich versammelt hat, um mittelfristig das Überleben zu gewährleisten. Darüber hinaus wickeln Handelspartner rund 80 Prozent der internationalen Transaktionen von B2B-Marktplätzen (Business-to-Business) letztlich außerhalb des Marktes auf herkömmlichem Weg ab, so Gartner. Dies geschieht in erster Linie, um Kosten zu sparen. Trotz dieser ernüchternden Fakten trauen Internet-Entrepreneure wie die Ebay-Chefin Meg Whitman der P2P-Technik einiges zu. Nach ihrer Aussage ist in dem Internet-Auktionshaus ein spezielles Team damit beauftragt, Veränderungen durch P2P-Technologien zu beobachten. Mit der Vorsorge liegt Whitman bestimmt nicht falsch, denn sollten eines Tages plausible Geschäftsmodelle für P2P-Märkte oder -Auktionen entwickelt werden, würde dies auch das Ende von Ebay in seiner heutigen Form bedeuten.

Eine akute Bedrohung für Server-Anbieter und zentrale Internet-Instanzen durch den P2P-Hype ist nicht zu befürchten. Sollten sich allerdings verfügbare Produkte bewähren und alle Bedenken zur Sicherheit und Stabilität der Systeme auflösen, muss die gesamte IT-Branche umdenken. Auch wenn es viele nicht gerne hören wollen: Durch Peer-to-Peer-Netze könnte sich zumindest im Consumer-Bereich ein erneuter Paradigmenwechsel anbahnen - sicher nicht der letzte.