Online-Dienste/Ein Internet-Surfer geht baden

PC statt Porsche: Yuppies pflegen neue Statussymbole

02.02.1996

"Wer noch nie online war, soll nicht zu viel erwarten." Da hat Peter Glaser recht. Leider findet sich das Zitat nicht ganz vorne in seinem Buch "24 Stunden im 21. Jahrhundert", sondern erst auf Seite 185. Dass der Autor den Zusatz, diese Aussage gelte auch fuer sein Opus, unterlaesst, ist allerdings verstaendlich.

Als der Rezensent das Buch bei einem Freund aus der Tasche zog, war der einigermassen baff: "Was machst denn du mit ´nem Schulbuch von vor 20 Jahren?" Genauso billig sieht Glasers Werk aus, ein unattraktiver Pappdeckel von so zweifelhafter Haltbarkeit, dass man geneigt ist, es aus laengst vergessen geglaubter Gewohnheit wie damals in einen Plastikschutzumschlag einzuwickeln.

Aber dieser Untertitel: "Onlinesein. Zu Besuch in der Neuesten Welt". Gleich zwei merkwuerdige Worte, bei einem Verlag wie Zweitausendeins gehoert das zum Stil. Der letzte Satz auf der Einbandrueckseite ist - in seinem versammelten Wahnsinn - ein Argument fuer den Kauf: "Lassen Sie sich anwehen vom unschuldigen Geist des 21. Jahrhunderts." Sowas findet man nicht auf den Klappentexten dieser zahllosen schwerverdaulichen Anwenderhelfer, die das Publikum nur kauft, weil bei Raubkopien gewoehnlich die Handbuecher fehlen.

Die Gliederung foerdert die Erwartungshaltung, eine leichte Einfuehrung ins Internet zu bekommen. 24 Kapitel, entsprechend einer ganztaegigen Session, beginnend um Punkt 8.00 Uhr. Etwas verpennt, wie sich das fuer diese Uhrzeit gehoert, geht´s los. Aber schon auf der zweiten Textseite ist der Leser wach:

"Was E-Mail so attraktiv macht, ist ihr Komfort. Sie bringt Lebensqualitaet. Man muss nicht mehr durch den Regen zum Briefkasten gehen. Man muss ueberhaupt nicht mehr zum Briefkasten gehen. Man muss keine Briefmarken mehr kaufen, kein Schreibpapier und keine Kuverts. E-Mail ist billiger als Papierpost (...), und man kann sie rund um die Uhr verschicken und abholen. Zeitversetzte Kommunikation ist ein Triumph des individuellen Arbeitsrhythmus ueber den institutionellen. Und waehrend manche noch ueber den Verfall der Schriftkultur durch die elektronischen Medien klagen, lebt im Netz das Schreiben auf."

Das liest jemand, der wie der Rezensent mit ausgesprochen individuellem Arbeitsrhythmus und mit einem gewaltigem Apparat elektronischer Mittel ein dann doch noch gedrucktes Medium erstellt, wirklich gern. Glaser hat dieselben Erfahrungen im Netz gemacht wie viele andere: "Es werden unglaubliche Mengen an Schwachsinn und Redundanz um den Globus bewegt, aber es liegen Nuggets im Schlamm."

Und schon plaetschert der Text wieder seichter dahin, der Leser erfaehrt beispielsweise von der Sitzhaltung des Autors am Schreibtisch. Interessante Methode, den Leserhirnen Phasen der Entspannung zu goennen. "Ich sehe den Himmel von meinem Schreibtisch aus, blau wie Seide ist das, bloss tiefer. So weit, wie ein jeder von uns mit freiem Auge sehen kann, reicht kein Teleskop und wird nie ein Instrument reichen - wenn naemlich der Blick ins Blau geht und beilaeufig klar wird, dass einem das Geheimnis der Welt ganz konkret vor Augen liegt - da, am Ende des Blicks."

Was ist das fuer eine Blaehung? Dass einige oesterreichische Autoren ein besonderes Talent haben, hirnschwurbelige Woerter in Saetze gedrechselt zu Papier zu bringen, ist bekannt. Aber schreiben jetzt auch schon in Graz aufgewachsene Wahl-Hamburger wie Wiener?

Allerhand Wichtiges ist zu erfahren, zum Beispiel Erkenntnisse aus der Taetigkeit eines Hobbyarchivars. Nun ja, was kann man zu frueher Morgenstunde schon erwarten?

So ab zehn Uhr wird´s lebendiger: die fruehe Entstehungsgeschichte der Computernetze von den Anfaengen im US-amerikanischen Militaerprojekt Arpa bis zur Zahl der Internet-Hosts im Oktober 1994 und wie wichtig solche Netze sein koennen, um unterdrueckte Nachrichten zu verteilen. Egal ob sie den Krieg im ehemaligen Jugoslawien betreffen oder die Fallout-Werte nach der Katastrophe von Tschernobyl.

Das liest sich spannend, aber eines weiss der Leser immer noch nicht: Was ist das Internet? Stellvertretend erlebt ein Produktionsleiter, der samt Fotograf und Assistent seit neun Uhr in der Wohnung des Autors dieser Frage nachgeht, kurz nach zwoelf - auf Seite 52 - den Paedagogen-GAU: "´Das ist Internet´, sagte ich. Er starrte den Bildschirm an und ich starrte ihn an, wie er den Bildschirm anstarrte. ´Touch it´, sagte ich, nahm seine Hand und legte sie auf den Bildschirm und dann auf die Tastatur: ´Feel it. Smell it. Kiss it. Das ist das Internet.´"

Solch zaertliche Einfuehrung macht irgendwie echt unheimlich betroffen. Wie ruede dagegen der Griff des Rezensenten, als er das Buch aus der Wohnzimmerecke zurueckholt, wie kalt berechnend sein Gedanke, fuer die Lektuere von sowas immerhin bezahlt zu werden, waehrend andere Leser fuer das Buch nur zahlen muessen. Ab jetzt, schwoert sich der Rezensent, wird er das Buch nur noch aus Spass lesen, kein Gedanke an die Arbeit.

Und siehe da, es gelingt! Von den Orientierungssystemen in den Netzen geht es flott zu den Erlebnissen des Keyboarders Keith Emerson von EL&P und zur Musik von Kraftwerk, vom virtuellen Einkaufszentrum im Supercomputer-Center zu den Schwierigkeiten, bei 20 Fernsehkanaelen die interessanten Sendungen zu finden.

Ein "Otmar kommt kurz vorbei" und will ohne Umwege in der British Library was nachschauen. Da ist er beim Autor aber an den Falschen geraten. Glaser "surft". Basta. Genau das ist der Stil der Schreibe: Ein wenig von diesem, ein wenig von jenem. Wie jemand, der ohne Ziel durch das Internet surft.

14 Uhr. Gefuellter Magen studiert nicht gern. Da passt es gut, dass der Autor zwei Stunden ueber die Probleme des Schreibens philosophiert. Um 16 Uhr gibt es Kaffee, angenehm bei Voellegefuehl. Begriffe wie ULR, World Wide Web und Hypertext fallen - und zerschellen an fettgedruckten Worten wie Verlorenheit, Leichtigkeit, Kraftstroeme, Zartheit, globale Doerflichkeit, Verzueckung.

Bevor den Autor "die Vorstellung, durch das Netz um die Erde und ueber der Erde zu schweben", voellig aus der Kurve traegt, erzaehlt er noch von so nuetzlichen Dingen wie WWW-Karten oder von den Ansaetzen zu Buergernetzen wie "De Digitale Stadt" Amsterdam. Hollaendisch heisst es uebrigens "Stad", aber Net-Surfer nehmen es bekanntlich nicht so genau mit der Orthografie.

Was es nicht alles gibt! Da zeigt eine "Bay-Cam" den Surf von San Diego. Pretty good privacy und Kryptografie sind irgendwie auch ein Problem. Und Telearbeit erst! Man weiss gar nicht, was man davon halten soll: "Aus Arbeit wird Arbyte". (Ein schoenes Wort, keiner der sonst so haeufigen Satz- und Interpunktionsfehler - "Pyama" - in diesem Opus.)

Rasend interessante Perspektiven eroeffnet Glaser: "Mit per Modem ans Netz geschlossenen Computern schliesslich vereinigen sich die Geraeteklassen aller Laender zur Internationale. Wobei in der postsozialistischen Aera die Idee des Kommunismus ersetzt wird durch den Kommunikationismus und das Ideal der Kompatibilitaet, das verheisst: Alles passt zusammen."

Waeren da nicht die "Nervsaecke" oder "Bozos", die mit Unmengen Daten die Netze und fremde Festplatten zumuellen. Der Autor bekennt, einmal gar selbst "paste bombing" begangen zu haben. "Stalingrad war nichts dagegen." Womit sich Glaser die goldene Peinlichkeitsnadel verdient hat.