Osteuropa muss mehr Qualität bieten

20.10.2006
Von Wolfram Funk
Preisvorteile reichen angesichts der steigenden Löhne langfristig nicht aus.
In den neuen EU-Ländern und den EU-Anwärterstaaten, aber auch in der GUS übernehmen zahlreiche Anbieter die Softwareentwicklung für deutsche Firmen.
In den neuen EU-Ländern und den EU-Anwärterstaaten, aber auch in der GUS übernehmen zahlreiche Anbieter die Softwareentwicklung für deutsche Firmen.

Deutsche Unternehmen ziehen zunehmend osteuropäische IT-Dienstleister als Alternative zu etablierten Offshoring-Ländern in Betracht. Die Vorteile liegen auf der Hand: Gegenüber Indien und China stehen die Nearshore-Anbieter hiesigen Firmen kulturell und geografisch näher. Positiv ins Gewicht fallen zudem die teilweise guten Deutschkenntnisse sowie eine geringere Mitarbeiterfluktuation.

Hier lesen Sie

• welche osteuropäischen Unternehmen Nearshore-Leistungen anbieten;

• um welche Services es sich dabei handelt;

• was für Abrechnungsmodelle üblich sind;

• und welche Vor- und Nachteile der Kunde in den einzelnen Ländern hat.

Regionale Unterschiede beim Nearshoring

Vorteile Nachteile

Neue EU-Länder (Polen, • Sichere gemeinsame Rechtsbasis • Relativ hohe Stundensätze Tschechische Republik, • Keine Visumspflicht (außer Slowakei). Durch Slowakei, Slowenien, • kulturell verwandt EU-Mitgliedschaft weiter Ungarn, Lettland, Estland, • Deutschkenntnisse (vor allem in Polen, steigend Litauen). Tschechien, Slowenien und der Slowakei)

EU-Bewerberländer • Niedrigeres Preisniveau • (Noch) Visumspflicht (vor allem Bulgarien • Deutschkenntnisse (vor allem in Rumänien) • (Noch) Rechtsunsicherheit und Rumänien) • kulturelle Nähe • Mittelfristig steigende • Gemeinsame Rechtsbasis (ab EU-Beitritt) Tagessätze

GUS-Staaten • Niedrige Stundensätze • Kulturell nicht so nah • Deutschkenntnisse • Geografisch nicht so nah • zum Teil Spezialwissen in • Visumspflicht der Softwareprogrammierung • Rechtsunsicherheit

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1052121: Risiken des Nearshoring;

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Der Markt ist stark fragmentiert. Zum Großteil handelt es sich um ost- und südosteuropäische Unternehmen, die in ihren Heimatländern vor allem Banken, Versicherungen, Telekommunikationsdienstleister sowie die öffentliche Hand adressieren. Auch die lokalen Niederlassungen internationaler Konzerne - etwa Accenture, HP und IBM - greifen teilweise auf vor Ort ansässige IT-Dienstleister zurück.

Darüber hinaus gibt es Nearshore-Provider, die ihren Sitz nicht in Osteuropa haben, aber dortige Software-Entwicklungszentren (Software Development Centers, kurz SDCs) betreiben. Einige dieser Anbieter sind auch im deutschen Markt präsent - etwa Sciant, Sam Solutions und Epam. Hinzu kommen zahlreiche Player, die sich vorrangig auf den US-amerikanischen Markt fokussieren.

In Deutschland gelten vor allem IT-Hersteller als wichtige Zielgruppe der Nearshore-Anbieter. Auch Großunternehmen und der gehobene Mittelstand quer durch alle Branchen, insbesondere aber Banken, Versicherungen und TK-Konzerne gehören zu ihrem Kundenkreis. IT-Dienstleister und Systemhäuser nehmen Nearshore-Services häufig im Rahmen von Partner- oder Subunternehmervereinbarungen in Anspruch.

Nach außen sind diese Aktivitäten oft nicht sichtbar. Das liegt zum einen daran, dass die Kunden kein Interesse daran haben, ihre Nearshore-Engagements an die große Glocke zu hängen. Zum anderen gibt es in Deutschland Unternehmen, die spezifische Projektteams in osteuropäischen Ländern auf informellem Wege aufbauen und damit auf Fachkräfte zurückgreifen, die nach außen nicht geschlossen als Firma auftreten.

Das Betätigungsfeld der osteuropäischen Nearshore-Dienstleister liegt bislang primär auf den Themen Anwendungsentwicklung und Softwaretesting, inklusive hardwarenahen Bereichen wie Embedded Systems. Auch die Pflege von Legacy-Systemen im Mainframe- und TK-Umfeld gehört zum Portfolio.

Die meisten Anbieter von Programmiertätigkeiten verweisen zwar auf ISO-9001-Zertifizierungen. Gemäß den Standards CMM (Capability Maturity Model) und CMMI (Capability Maturity Model Integration) sind jedoch nur wenige zertifiziert. Auch mit umfassenden Projekt-Management-Fähigkeiten können die Unternehmen in Osteuropa nur teilweise aufwarten. Und über Know-how im Bereich Business Process Outsourcing (BPO) verfügen nur die wenigsten.

Die Projektabrechnung erfolgt sowohl nach Aufwand (Zeit und Material) als auch nach Fixpreisen. Weit verbreitet sind Mischkalkulationen: So wird häufig ein Pauschalstundensatz erhoben, der sich aus den Arbeitsstunden von Softwareenwicklern und -Architekten sowie gegebenenfalls Projektleitern zusammensetzt. Für den Einsatz vor Ort beim deutschen Kunden kommen Aufschläge hinzu.

Die osteuropäischen Nearshore-Länder unterscheiden sich zum Teil erheblich voneinander. So herrscht in den EU-Staaten eine sichere gemeinsame Rechtsbasis. Zudem sprechen die IT-Fachkräfte aus Polen, der Tschechischen Republik und Slowenien häufig Deutsch. Von Nachteil sind dagegen die im Nearshore-Vergleich hohen Tagessätze, die für einen Softwareentwickler bei etwa 200 Euro beginnen, aber auch bis zu 400 Euro reichen können. Allerdings liegen diese Preise damit immer noch deutlich unter den 700 bis 800 Euro, die für einen externen deutschen Softwareentwickler pro Tag zu entrichten sind.

In den EU-Bewerberländern - insbesondere Bulgarien und Rumänien - ist das Preisniveau deutlich niedriger. Vor allem rumänische IT-Fachkräfte verfügen zudem häufig über gute Deutschkenntnisse. Allerdings herrscht (noch) Visumspflicht, was die Mobilität der Mitarbeiter einschränkt. Hinzu kommt, dass die meisten rumänischen und bulgarischen IT-Dienstleister weniger als 100 Mitarbeiter beschäftigen. Und schließlich ist davon auszugehen, dass das Preisniveau nach dem Eintritt in die EU steigen wird.

In der Gemeinschaft unabhängiger Länder (GUS) spielen in puncto Nearshoring derzeit vor allem Russland, die Ukraine und Weißrussland eine Rolle - vor allem wegen der günstigen Preise: Die Tagessätze für Softwareentwickler beginnen bei 80 Euro. Allerdings besteht in diesen Ländern Visumpflicht. Auch die rechtliche Unsicherheit erschwert die Zusammenarbeit mit den dortigen Unternehmen.

Qualität wird wichtiger

In den kommenden drei bis vier Jahren wird sich der Markt erheblich verändern. So könnten demnächst weitere potenzielle Nearshore-Länder - etwa Serbien, Montenegro und Bosnien-Herzegowina - hinzukommen. Deutsche IT-Dienstleister werden zunehmend auf Nearshore-Ressourcen zugreifen und dabei eventuell Anbieter aus Osteuropa übernehmen. Gleichzeitig wird das dortige Preisniveau langsam, aber stetig steigen.

Da hiesige Anwender bislang primär die geringen Stundensätze als Differenzierungsmerkmal gegenüber den deutschen Dienstleistern ins Feld geführt haben, werden die Nearshore-Anbieter künftig gezwungen sein, andere Vorzüge in den Vordergrund zu rücken. Vor allem interne Prozesse und Qualitätsstandards gewinnen an Bedeutung. Im Vergleich mit den großen indischen Offshore-Dienstleistern haben viele der osteuropäischn Anbieter hier noch Nachholbedarf. (sp)