Trotz erneuter Bekenntnisse von IBM, DEC und HP

OSF-Unix verliert zunehmend Rückhalt bei den Herstellern

29.05.1992

MÜNCHEN (IDG/gfh) - Das Schicksal der Open Software Foundation (OSF) ist offener denn je. Der Grund: Die ursprünglichen Aufgaben und Frontstellungen haben an Bedeutung verloren. Heute ist der Open-Systems-Markt gekennzeichnet durch immer intensivere Kooperationen der OSF mit den einstigen Erzfeinden aus dem Lager der Unix V.4-Propagandisten um AT&T.

"Die wirtschaftlichen Gegebenheiten haben selbst unsere tiefsten Überzeugungen erschüttert. Sämtliche Bereiche müssen grundsätzlich überdacht werden", beschreibt David Stone, DEC-Vice-President für Softwareprodukte und Mitglied im Board of Directors der OSF, die momentane Lage der Open-Systems-Organisation.

Hinterfragt wird nach Meldungen der amerikanischen CW-Schwesterpublikation "Computerworld" vor allem die Rolle der OSF als Betriebssystem-Entwickler. Ursprünglich war die Herstellerorganisation angetreten, um ein befürchtetes Unix-Monopol der Geschäftspartner AT&T und Sun Microsystems mit Hilfe eines eigenen "Standard-Betriebssystems" zu verhindern.

Doch die Situation hat sich inzwischen grundlegend verändert. Angesichts der weitreichenden Kooperationen zwischen den bisherigen Unix-Gegnern schwindet nach Ansicht der "Computerworld" der Bedarf nach einem Standard-Unix von der OSF. Trotzdem bekräftigen die Hersteller DEC, IBM und Hewlett-Packard ihr Bekenntnis zum OSF/1-Betriebssystem.

Angesprochen auf die mangelhafte Unterstützung der Hersteller, räumt Mark Laureys Communication Manager Europe der OSF, allerdings ein, daß Hewlett-Packard die versprochene Implementierung von OSF/1 wegen technischer Mängel vorerst auf Eis gelegt habe. Diese Entscheidung deuteten US-Analysten laut "Computerworld" dahingehend, daß HP bei der ersten Gelegenheit zum Desktop-Unix "Destiny" überlaufen werde, das von der USL bereits Mitte dieses Jahres ausgeliefert werden soll.

Digital Equipment und "auf andere Weise" auch die IBM zählt Laureys zu den Unternehmen, die nach wie vor fest zu OSF/1 stehen. Aber auch bei diesen Herstellern scheinen sich Zweifel zu regen. So ist laut "Computerworld" bei Big Blue nichts mehr von den ursprünglichen Plänen zu hören, OSF/1 für die PS/2-Rechner anzubieten.

Etwas anders liegt der Sachverhalt bei DEC. Dort gilt OSF/1 als das "Unix for the 90s", so daß allein für die Anpassung an den Alpha-Chip jährliche Aufwendungen in Höhe von etwa 75 Millionen Dollar vorgesehen sind. Selbst hier wurde jedoch inzwischen die Portierung von OSF/ 1 auf die Unix-basierten Decstations eingestellt.

Angesichts dieser Situation ist auch die OSF selbst in den Verdacht geraten, sich vom eigenen Betriebssystem abzuwenden (siehe auch CW Nr. 20 vom 15. Mai 1992, Seite 1). OSF-Manager Laureys dementiert derartige Gerüchte vehement. So werde bereits im Juni die stabilere Version 1.1 des Betriebssystems freigegeben. Allerdings spielten Unix-Betriebssysteme innerhalb der Herstellervereinigung keine so wichtige Rolle mehr wie noch vor einigen Jahren.

Daraus ergebe sich eine neue Marktpositionierung für die OSF. Die Organisation verstehe sich aufgrund des Erfolges der grafischen Benutzerumgebung Motif sowie der Distributed Computing Environment (DCE) und der Distributed Management Environment (DME) jetzt weniger als Betriebssystem-Spezialist denn als "Marktführer für Middleware". Vor allem bei DCE und DME drängten die Kunden nach einer möglichst raschen Freigabe lauffähiger und stabiler Produkte.

Vor diesem Hintergrund, so Laureys, lohne es sich nicht mehr, "wegen eines Betriebssystems einen Glaubenskrieg anzuzetteln". Statt dessen hofft er auf den Erfolg des noch in der Entwicklung befindliche Microkernel-Betriebssystems OSF/1 MK - eine Aussage, die von einigen US-Analysten als Kapitulation gegenüber Unix V.4 gedeutet wird.

Laureys bestätigt, daß der jetzigen OSF/1-Version kein nennenswerter kommerzieller Erfolg beschieden sei. Resigniert fügt er hinzu, daß er mit einem solchen auch künftig nicht rechne. Dafür wartet er mit Zukunftsvisionen auf. In der vor kurzem abgehaltenen Mitgliederversammlung in München sei eine neue OSF-Architektur beschlossen worden, wonach der Microkernel mit den "Personalities" der Betriebssyteme OS/2 OSF/1, VMS, System V.4, DOS und Windows ausgestattet werden soll.