Oberfinanzdirektion Karlsruhe ersetzt Mikrofilme durch WORM-Platten

Optische Speicher helfen dem Amtsschimmel auf die Sprünge

07.06.1991

Seit es Computer gibt, träumt man den Traum vom papierlosen Büro. Bis heute vergebens. Die Papierflut wächst und die einzige bislang verfügbare Rettung vor ihr, die Mikroverfilmung der Dokumente, ist aufwendig und zeitraubend. Einen Ausweg aus dem Dilemma könnten die neuen optischen Speichermedien bieten. Die Oberfinanzdirektion Karlsruhe hat den Versuch gewagt.

Trotz des hohen technischen Standards der bis heute entwickelten und in der Praxis erprobten Lösungen zögern die meisten Unternehmen noch immer, sich für die Dokumentenverarbeitung am Bildschirm zu entscheiden. Neben den Problemen mit der Aufarbeitung umfangreicher Papier-Altlasten und mit verschiedenen technischen Unzulänglichkeiten werden im wesentlichen drei Vorbehalte geäußert.

Image Processing setzt sich nur langsam durch

Erstens gebe es noch keine Standardlösung, die sich "nahtlos" in die bestehenden DV-Infrastrukturen einbinden lasse und die in kurzer Zeit auf die unternehmensspezifischen Belange zuzuschneiden wäre. Zweitens sei noch nicht abzusehen, welches der heute auf dem Markt angebotenen Produkte sich als Standard durchsetzen werde und somit für die Zukunft Bestand hat. Drittens habe die Einführung solcher Lösungen nicht selten eine vollständige Umstellung in der Arbeitsorganisation zur Folge und verlange deshalb eine hohe Akzeptanz bei den Mitarbeitern.

Wie auch immer, die unbestrittenen Vorteile der optischen Speicherung - Langlebigkeit der Daten, hohe Speicherdichte, vergleichsweise niedrige Kosten und die Möglichkeit zum direkten Datenzugriff - bleiben weiterhin bestehen. Diese Vorteile gilt es in praktische EDV-Lösungen umzusetzen, die auch den genannten Vorbehalten Rechnung tragen. Verlangt wird eine Standardlösung, die mit minimalem Aufwand auf die unternehmensspezifischen Belange zugeschnitten und nahtlos in die EDV, aber insbesondere in die Organisations- und Arbeitsstruktur des Unternehmens eingebunden werden kann.

Im Schatten des großen Bruders "Image Processing" hat sich ein Einsatzfeld eröffnet, das diesen Anforderungen genügt: die Archivierung von EDV-Daten (= kodierte Daten, also Daten, die in der EDV erstellt wurden) auf optischen Speichermedien mit WORM-Technik (WORM ?=

Write Once Read Many).

Das wirtschaftliche Potential dieses Marktbereichs wurde bislang bei weitem unterschätzt. Die typischen Zielmärkte finden sich in Branchen, die sich durch ein großes Kundenvolumen auszeichnen, also in erster Linie Banken, Versicherungen und Behörden. Kundendaten und Konten werden dort im Online-Betrieb bearbeitet und müssen anschließend - je nach gesetzlicher Vorschrift - über einen Zeitraum von 10, 15 oder auch bis zu 30 Jahren aufbewahrt werden.

Der Vorteile der Archivierung kodierter Daten mit Hilfe optischer Speicher lassen sich am besten anhand eines praktischen Beispiels darstellen. Die Oberfinanzdirektion (OFD) Karlsruhe hat sich für diese neue Technologie entschieden; Voraussetzungen, Ziele und Ergebnisse der Umstellung werden im folgenden beschrieben.

Die Karlsruher Behörde ist eine von drei Oberfinanzdirektionen in der Finanzverwaltung des Landes Baden-Württemberg. Die Servicequalität der Steuerabteilung und des Rechenzentrums der OFD beeinflußt nachhaltig die Arbeitsqualität in den 20 von ihr betreuten Finanzämtern Nordbadens.

Für jeden Steuerbürger ist beim Finanzamt ein Konto eingerichtet, auf dem sämtliche Vorgänge im Steuerfestsetzungs- und -erhebungsbereich verbucht werden. Die Daten werden zentral im Rechenzentrum der OFD Karlsruhe auf Magnetplatte gehalten und über 900 Terminals und PCs in den Finanzämtern im Abfrage- und Dialogmodus ausgetauscht. Dazu wird die folgende Hardware-Plattform verwendet: eine Comparex 8/93 mit 384 MB Hauptspeicher unter MVS/ESA im Rechenzentrum der OFD und Nixdorf-8860-Rechner in den Finanzämtern.

Für jedes der insgesamt 4,7 Millionen Steuerkonten ist aus Kosten- und Platzgründen nur eine beschränkte Speicherkapazität auf Magnetplatte vorhanden, daher werden einmal im Jahr alle Konten reorganisiert. Das heißt, sie werden verdichtet, wobei zum Beispiel Einzelbuchungen zu Summen zusammengefaßt werden, und erloschene Steuerkonten werden ganz von der Magnetplatte gelöscht.

Um Einzelbuchungen auch nach einer Verdichtung noch nachverfolgen zu können, wurden die Speicherkonten seit 1981 vor den Verdichtungsläufen auf Mikroplanfilm festgehalten.

Archivierung auf

Mikrofilmen aufwendig

Diese Filme wurden zentral im Rechenzentrum der OFD Karlsruhe in doppelter Ausfertigung erstellt. Ein kompletter Satz ging per Kurier an das zuständige Finanzamt, wo die jeweiligen Sachbearbeiter die Filme ihres Zuständigkeitsbereichs erhielten. Die zweite Kopie bekam die zentrale Reprostelle, in der ein kompletter Bestand geführt wird. Alle Filme werden zehn Jahre lang archiviert.

Zur Vorgangsbearbeitung benötigte Papierkopien verfilmter Dokumente wurden zentral in der Reprostelle angefertigt und an die Finanzämter verschickt. Jedes Finanzamt stellte pro Monat etwa 60 solcher Druckanforderungen an die Reprostelle. Von der Anforderung bis zum Erhalt des Ausdrucks vergingen durchschnittlich drei Tage, in denen der Sachbearbeiter auf dringend erforderliche Daten warten mußte und somit auch den Vorgang nicht bearbeiten konnte.

Abgesehen von den langen Antwortzeiten erwies sich das

Verfahren der Archivierung auf Mikrofilm insgesamt als sehr aufwendig. Die COM(Computer Output on Microfiche)-Anlage im Rechenzentrum mußte überwacht und die Verfilmungsqualität überprüft werden, die zur Verfilmung erforderlichen Chemikalien waren zu handhaben und zu entsorgen, die Daten der Einzelbuchungen waren zwischen Kontenverdichtung und Filmverteilung etwa drei Wochen lang nicht verfügbar, die Prozeduren zur Erstellung und Verteilung der Filme sowie zur Anforderung von Reproduktionen waren sehr schwierig und erforderten zusätzlich große Mengen von Formularen.

Aus diesen Gründen entschloß sich die OFD Karlsruhe zu einem neuen Archivierungsverfahren mit Hilfe optischer Platten. In einer ersten Stufe sollte die neue Lösung in die DV-Umgebung und das bestehende Abfragesystem integriert werden.

Vereinfachung des

Archivierungswesens

Das Ziel war dabei, jeden Mitarbeiter in die Lage zu versetzen, ohne Medienwechsel und ohne Arbeitsunterbrechung Einzelbuchungen bereits archivierter Speicherkonten von seinem Arbeitsplatz aus über den Bildschirm abzufragen. Ferner sollte die Möglichkeit bestehen, Ausdrucke sofort zu erzeugen und damit eine durchgängige Vorgangsbearbeitung zu ermöglichen.

Durch die optische Speicherung der alten Daten wollte die OFD nicht nur die Auskunftsfähigkeit der Finanzämter gegenüber Bürgern und Steuerberatern beschleunigen, sondern auch den Informationsfluß innerhalb der Ämter verbessern. Außerdem sollte eine Grundlage zur Vereinfachung des Archivierungswesens geschaffen werden.

Für die Zukunft plant die Steuerverwaltung des Landes Baden-Württemberg, das optische Speichersystem in größerem Umfang einzusetzen, zum Beispiel für die Ablage bei der Kfz-Steuer und beim Lohnsteuer-Jahresausgleich, bei der Einkommenssteuer-Veranlagung und auch bei der vorgeschriebenen Archivierung von Systemnachrichten, die bislang ebenfalls per Mikrofilm realisiert werden. Darüber hinaus sind langfristig noch weitere Verfahren ins Auge gefaßt.

Im April 1991 wurde erstmals die Archivierung der Kontendaten mit Hilfe des optischen Speichersystems durchgeführt. Vorausgegangen war eine intensive Projektphase, in deren Verlauf das optische Speichersystem in die bestehenden Abfrageanwendungen integriert und Testeinsätze bei zwei Finanzämtern durchgeführt wurden. Dazu wurden bereits mikroverfilmte Daten zusätzlich auf optischen Platten abgespeichert, um den Testfinanzämtern ein breiteres Abfragespektrum bieten zu können.

Die Karlsruher Konfiguration

Die Konfiguration bei der OFD Karlsruhe besteht aus einem WORM-System von Comparex und umfaßt eine automatische Plattenwechseleinrichtung ("Jukebox") für 89 12-Zoll-Platten. Jede Platte bietet 2 Gigabyte Speicherkapazität. Die Jukebox mit drei Laufwerken

und 81 Platten kann damit auf 1,5 Quadratmetern 162 Gigabyte Daten speichern. Das sind etwa 36 Millionen Speicherkonten, von denen jedes etwa vier bis fünf KB beansprucht, beziehungsweise mehr als 81 Millionen durchschnittliche Textdokumente von zwei Kilobyte Größe. Die unterstützende Software besteht aus einem Standardpaket mit MVS-Benutzerschnittstelle. Die Anbindung an das bestehende Abfragesystem wurde von der OFD durchgeführt.

Systemintern verläuft der Archivierungsprozeß so, daß die auf der WORM-Platte abzulegenden Daten mit einem Index versehen werden. Dieser Index wird aus den Feldern des Datensatzes und dem Ablagedatum erstellt. Er ist in einer VSAM-Datei abgelegt, die sich auf einer Magnetplatte befindet. Über den Index ist es möglich, direkt auf die archivierten Daten auf der optischen Platte zuzugreifen.

Anfragen innerhalb von

Sekunden beantwortet

Dadurch, daß dem Sachbearbeiter die erforderlichen Archivdaten unmittelbar zugänglich sind, vereinfacht sich natürlich auch seine tägliche Vorgangsbearbeitung. Seine Anfragen werden innerhalb von Sekunden - und nicht Tagen - beantwortet. Der Arbeitsablauf gestaltet sich jetzt wie folgt: Ein Sachbearbeiter greift auf ein Konto zu und erkennt, daß die benötigten Daten nicht mehr verfügbar sind, da Teile des Kontos offenbar bereits verdichtet wurden. Er startet nun eine erneute Abfrage (aus derselben Anwendung), um zu erfahren, wann das Konto archiviert wurde. Mit Hilfe des Datums (Teil des Index) ist der Bearbeiter nun in der Lage, über eine weitere Abfrage die gewünschte Information von der optischen Platte zu lesen.

Der Wegfall der aufwendigen Sucharbeit für mikroverfilmte Archivdaten führt zu einer beeindruckenden Beschleunigung der Arbeitsabläufe: Die reine Antwortzeit am Bildschirm beträgt nur noch 15 bis 20 Sekunden; die häufig benötigten Ausdrucke werden jetzt vom Sachbearbeiter selbst angestoßen und über den Arbeitsplatzdrucker ausgegeben. Wie sehr sich dadurch der Aufwand der Gesamtorganisation reduziert hat, zeigt sich insbesondere in der beschleunigten Abwicklung eines Vorgangs, der nun ohne Unterbrechung in durchschnittlich 30 bis 60 Sekunden - inklusive Ausdruck - bearbeitet werden kann. Das Kernstück der Kostenbegrenzung, die Kontenverdichtung, wird von der neuen Technologie nicht berührt. Sie erfolgt, genau wie bisher, einmal im Jahr; das dafür benötigte Speichervolumen beträgt etwa 13 Gigabyte. Die zu archivierenden Konten werden jetzt allerdings nicht mehr mikroverfilmt, sondern auf optischen Platten abgelegt.

Im Produktionsbetrieb rechnet man zur Zeit mit etwa 50 Zugriffen auf das optische Speichersystem pro Tag. Diese Zahl ist aufgrund des steigenden Arbeitsaufkommens kurz nach der Verdichtung etwa zwei- bis dreimal so hoch, liegt also bei 100 bis 150 Zugriffen täglich. Mit den zusätzlich geplanten Archivierungsverfahren wird die Zahl der täglichen Zugriffe noch weiter steigen.

Einsparungen

im Personalbereich

Letztlich sind die Vorteile der Archivierung mit Hilfe optischer Speichermedien auf einen wesentlichen Punkt zurückzuführen: Sie ist eine ideale Kombination aus direktem, selektivem Zugriff auf vergleichsweise kleine Datenmengen - der Stecknadel im Heuhaufen vergleichbar - und niedrigen Kosten, wie sie sonst nur langsamere und umständliche Offline-Lösungen bieten.

Damit entfallen die mit anderen Lösungen verbundenen - und aus Kostengründen bisher hingenommenen - umständlichen Erstellungs-, Such-, Distributions- und Ablagearbeiten mit all ihren Nachteilen und Fehlerquellen. Es ergeben sich genau die Eigenschaften, die auch für den Bereich des Image Processing wünschenswert wären: direkter Zugriff auf Online- und Archivdaten, schnelle Datenübertragung per Netzwerk und über öffentliche Leitungen in alle Außenstellen sowie die schnelle und nahtlose Integration in die bestehende DV und insbesondere in die Arbeits- und Organisationsumgebung.

Daraus wiederum resultieren dann bezifferbare Vorteile, wie eine vereinfachte und schnellere Vorgangsbearbeitung oder Einsparungen im Personalbereich beziehungsweise bei den Servicekosten. Besonders hervorzuheben ist schließlich der erhebliche, nicht quantifizierbare Nutzen einer höheren Verfügbarkeit der gespeicherten Informationen, die sich insbesondere in einer verbesserten Auskunftsfähigkeit gegenüber den Bürgern beziehungsweise Kunden auszahlt.