Open Source erobert die Rechenzentren

16.07.2008
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Wolfgang Herrmann war Editorial Manager CIO Magazin bei IDG Business Media. Zuvor war er unter anderem Deputy Editorial Director der IDG-Publikationen COMPUTERWOCHE und CIO und Chefredakteur der Schwesterpublikation TecChannel.
Das quelloffene Betriebssystem Linux verdrängt immer häufiger klassische Unix-Derivate als Plattform für geschäftskritische SAP-Anwendungen.

Konkrete Zahlen zu SAP-Migrationen auf Linux sind Mangelware. Der Walldorfer IT-Dienstleister Realtech analysiert bereits seit einigen Jahren Projekte seiner Kunden. Schon die erste Erhebung, die sich auf den Zeitraum von Juni 2001 bis September 2005 bezog, brachte überraschende Ergebnisse. Der Tenor: Linux hat sich als Backend-Betriebssystem im SAP-Umfeld etabliert.

Den Beratern zufolge gingen 60 Prozent aller Migrationen von Unix aus, knapp 20 Prozent von Windows. Aber auch die alten IBM-Plattformen OS/400 (Midrange) und OS/390 (Mainframe) gehörten mit 13 Prozent und knapp sieben Prozent zu den Verlierern. Dieser Trend setzt sich fort. "Die Zahl der Linux-Migrationen hat sich gegenüber der ersten Auswertungsperiode verdoppelt", berichtet Consulting Manager Helmut Spöcker. In den vergangenen zwei Jahren, genauer gesagt zwischen Ende 2005 und März 2008, sei der Anteil von Unix als Ausgangs-Betriebssystem für Migrationen auf gut 68 Prozent gestiegen. Anders ausgedrückt: Mehr als zwei von drei SAP-Migrationen auf Linux gingen von klassischen Unix-Derivaten aus. Die wichtigsten Gründe für Umstellungsprojekte sind geringere Kosten und mehr Herstellerunabhängigkeit, hat Realtech herausgefunden.

Die Erhebungen des Serviceanbieters passen zu internationalen Studien zur Verbreitung von Linux. Laut dem amerikanischen Marktforschungs- und Beratungshaus Saugatuck Technology etwa setzen immer mehr Anwenderunternehmen Open-Source-Software auch für Enterprise-Anwendungen in Rechenzentren ein. Als wichtigstes Motiv nennen die Analysten Lizenzbedingungen und Kosten. Nach einer Prognose von IDC soll der Markt für quelloffene Software bis zum Jahr 2012 auf ein Umsatzvolumen von 4,83 Milliarden Dollar wachsen.

HP-UX und AIX verlieren

Im SAP-Bereich verläuft die aktuelle Entwicklung vor allem zu Lasten von Hewlett-Packards Unix-Variante HP-UX und IBMs AIX. Mehr als 40 Prozent der von Realtech begleiteten Umstellungsprojekte auf Linux gingen vom HP-Unix aus, von AIX wendeten sich 18 Prozent der Unternehmen ab. Bereits nicht mehr neu erhältliche Unix-Derivate wie das einstige Siemens-System Reliant oder das von Digital Equipment stammende Tru 64 Unix, die in der ersten Erhebung noch mit 20 Prozent auftauchten, spielten im aktuellen Untersuchungszeitraum mit fünf Prozent kaum noch eine Rolle. Kritisch äußert sich Realtech-Manager Spöcker auch zur Betriebssystem-Plattform von Sun Microsystems: "Es sind nur bedingt gute Nachrichten für Unix-Anbieter, dass Solaris nur selten der Ausgangspunkt für SAP-Migrationen nach Linux ist." Die Verteilung der Unix-Derivate hängt nach seiner Einschätzung eher mit deren Marktanteil in bestimmten Industriezweigen zusammen als mit der potenziellen Attraktivität bezüglich einer Linux-Umstellung.

Vom Mainframe auf Linux-Server

Der Anteil von Microsoft Windows als Ausgangssystem sank hingegen, und zwar etwa in gleichem Ausmaß, in dem der Unix-Anteil zunahm. Erhöht hat sich die Zahl der Linux-Migrationen, die vom Mainframe-System OS/390 (heute z/OS) ausgingen, während der Anteil der Umstellungsprojekte, die von der klassischen Mittelstandsplattform OS/400 wegführten, schrumpfte.

Spöcker kommentiert die Verschiebungen so: "Der durchschnittliche Kunde für Linux-Migrationen ist heute größer und verzeichnet höhere Umsätze. Er hat mehr Angestellte und kommt aus Industrien, die wesentlich mehr geschäftskritische Anwendungen betreiben." Ein erheblicher Anteil der Migrationskunden habe sogar mehrere Jahre lang SAP-Applikationen auf Mainframe-Systemen laufen lassen.

Auch Datenbanken betroffen

Vom Migrationstrend sind auch die eingesetzten Datenbanksysteme betroffen. Im Vergleich zur ersten Realtech-Untersuchung profitierten Oracle und SAPs MaxDB als Zielsysteme für die Datenhaltung unter Linux mit einem Zuwachs von mehr als 13 Prozent. Die Verlierer in diesem Bereich heißen IBM DB2 (minus 18 Prozent) und Microsoft SQL Server (minus neun Prozent). Im gesamten von Realtech analysierten SAP-Linux-Markt liegt Oracle mit einem Anteil von gut 63 Prozent klar vor MaxDB mit knapp 32 Prozent und DB2 mit 4,5 Prozent. Dabei ist der Umfang der jeweiligen Installationen offenbar deutlich gestiegen. Die durchschnittliche Größe der Datenbanken, die auf Linux migriert werden, nehme jedes Jahr zu und habe bereits die Grenze von einem TB überschritten, berichten die Migrationsexperten. Die größte Realtech bekannte produktive SAP-Datenbank unter Linux bietet ein Speichervolumen von mehr als 10 TB und läuft in einer hochverfügbaren Konfiguration. Spöcker: "Linux hat die höchste Stufe der Kritikalität in SAP-Rechenzentren erreicht." Zu den Migrationskunden der Walldorfer zählen mittlerweile Rüstungsunternehmen, Fluggesellschaften, Energieanbieter, Automobilzulieferer und Chemieunternehmen ebenso wie Firmen mit geringeren Gewinnspannen, beispielsweise Hosting-Anbieter.

Gründe für die Linux-Migration

Der entscheidende Grund für eine Umstellung auf Linux liegt in den erhofften Kostenvorteilen. Daran hat sich seit der ersten Erhebung des IT-Dienstleisters kaum etwas geändert. Häufig hänge das Kostenargument eng mit dem Wunsch nach mehr Herstellerunabhängigkeit zusammen, kommentieren die Berater. Den Durchbruch in Sachen Kosten und Rechnerleistung brachte nach ihrer Einschätzung die x86-64-Architektur, die inzwischen sowohl AMD als auch Intel mit etlichen Prozessormodellen anbieten. Vor diesem Hintergrund lasse sich auch erklären, warum Power- oder Itanium-basierende Rechner im SAP-Migrationsmarkt keine besondere Rolle spielten.

Multi-Core- und Multi-Threading-Technologien haben die CPU-Leistung um ein Vielfaches gesteigert, erläutert Spöcker. Einfache Zwei- oder Vier-Prozessor-Server übertreffen häufig ohne Probleme viel größere Systeme mit dem gleichen Betriebssystem, auch wenn diese nur ein oder zwei Jahre älter sind. Installationen, die zuvor Acht- oder 16-Wege-Server benötigten, ließen sich heute auf Zwei- oder Vier-Wege-Servern implementieren. Der Aufstieg von x64-basierenden Servern in den Midrange-Bereich stelle für Unix ein Problem dar: Vier- und Acht-Wege-Server mit x64-Chips erreichten heutzutage leicht Benchmark-Bereiche, die zuvor Acht-Wege-Systemen unter Unix vorbehalten waren.

Rentabel nach neun Monaten

In einem Whitepaper stellt Realtech ein Modell vor, das es erlaubt, SAP-bezogene Server-Kosten zu berechnen und zu vergleichen. Damit soll sich der finanzielle Aufwand einer SAP-Installation auf Linux im Vergleich zu Unix analysieren lassen. Die Migrationskosten fallen je nach Kunde unterschiedlich aus, so Spöcker. Sie hängen zusammen mit der Unternehmensgröße, aber auch mit dem Umfang der zu migrierenden SAP-Systeme und den Anforderungen bezüglich Verfügbarkeit und Ausfallzeit. Nach einer Umstellung von Unix auf Linux hätten Kunden die Rentabilitätsgrenze in einem Zeitraum zwischen neun Monaten und zweieinhalb Jahren erreicht.

Virtualisierung als Treiber

Das Hype-Thema Virtualisierung spielt in einschlägigen Umstellungsprojekten derzeit noch kaum eine Rolle. Das aber werde sich schnell ändern, glaubt der Berater. Unternehmen könnten damit im SAP-Umfeld die Gesamtkosten für Hardware und Administration noch einmal senken: "Linux-basierende Virtualisierung wird in SAP-Produktivumgebungen an Bedeutung gewinnen. Der Trend zum Umstieg von Unix auf Linux wird sich noch weiter verstärken."

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  • dass sich Linux auch als Backend-Betriebssystem für SAP-Anwendungen etabliert hat;

  • dass HP-UX- und AIX-Plattformen am häufigsten abgelöst werden;

  • welche Datenbanken Unternehmen als Zielplattform für Linux einsetzen;

  • dass Linux vor allem auf x64-Servern Kosteneinsparungen bringt.